Leseprobe

IM TURMZIMMER

#36 KORNSTRASSE – Die Zionsgemeinde gewährt Flüchtlingen Kirchenasyl und bewahrt sie vor der Abschiebung. Pastor Thomas Lieberum (Foto) erklärt, wie und warum das geht

 

Nehmen wir an, vor der Tür stehen eine Frau, ein Mann, zwei Kinder, die sagen: „Sie sind unsere letzte Hoffnung.“ Was tun Sie?

Eine Familie aus dem Kosovo stand genau so vor der Tür. Für eine Nacht können wir immer eine Matratze hinlegen und ein paar Lebensmittel kaufen. Dann versuchen wir, die Situation der Menschen zu klären. Die meisten sind tatsächlich von Abschiebung bedroht, vor allem in Erstaufnahmeländer wie Italien, Ungarn, Griechenland. Was nicht sinnvoll ist, weil sie dort niemanden kennen und schon länger in Deutschland leben. Daher helfen wir.

Wo bringen Sie die Menschen unter?

Wir haben Büros und ein Musikzimmer umfunktioniert. Unser Gemeindehaus hat zwei Küchen und – ein großes Glück! – sogar eine Dusche. Essen, das in unseren Kindergärten übrig bleibt, können sich die Leute aufwärmen und aus unserem Umsonstladen Kleidung und andere Dinge nehmen.

Können Sie den weiteren Ablauf am Beispiel der Familie aus dem Kosovo schildern?

Das Ehepaar hatte zwei Söhne, 14 und 24 Jahre alt. Die Familie hat eineinhalb Jahre bei uns gewohnt, zunächst im Turmzimmer, danach in zwei getrennten Räumen. Wir waren mit der Ausländerbehörde in Kontakt und haben mit einem Anwalt die rechtlichen Möglichkeiten geprüft. Der Vater – ein Bäcker – gehörte einer ethnischen Minderheit an. Seine Backstube war demoliert worden, die Söhne wurden in der Schule bedroht. Die Famillie war traumatisiert und deshalb in Behandlung. Dank der ärztlichen Atteste konnte man belegen, dass die Leute nicht reisefähig waren.

Sie sagen den Behörden also Bescheid, wenn sie jemanden aufnehmen?

Ja, aber nur, wenn es für die rechtliche Zukunft der Betroffenen hilfreich ist. Manchmal ist es besser, gewisse Fristen verstreichen zu lassen: Dann ist das Erstaufnahmeland nicht mehr verpflichtet, die Asylbewerber zurückzunehmen, und die deutschen Behörden werden zuständig. Die Menschen leben hier viele Monate, manchmal Jahre.

Gehen die Kinder zur Schule?

Das ist ganz wichtig. Der Junge aus dem Kosovo, der offiziell illegal in Bremen war, wurde von der Oberschule am Leibnizplatz abgewiesen. Aber als wir einen Gesetzestext vorlegten, wonach Bremer Schulen verpflichtet sind, jeden Jugendlichen zu beschulen, egal welchen Status er hat, wurde er doch aufgenommen. Die Familie ist mittlerweile legal hier und hat eine Wohnung. Der Vater backt regelmäßig Kuchen für unseren Seniorenkreis.

Ohne Hilfe wären die Menschen aufgeschmissen. Machen Sie das als Pastor allein?

Das würde ich gar nicht schaffen. Zu Beginn bin ich stark eingebunden, dann übernimmt ein freiwilliger Unterstützerkreis die Betreuung. Menschen, die sich rechtlich gut auskennen, aber auch lebenspraktische Dinge besorgen: einen Schrank, einen Computer, Internetanschluss. Zudem gibt es ein Spendenkonto, wo regelmäßig Geld eingeht: Dadurch haben die Menschen im Kirchenasyl wöchentlich etwa 50 Euro zur Verfügung.

Bewegen sich die Leute frei in der Stadt?

Ja, allerdings mit dem Risiko, abgeschoben zu werden, sollte die Polizei sie aufgreifen. Kirchenasyl hat zwar eine Tradition seit dem Mittelalter, aber es taucht in deutschen Gesetzbüchern nicht auf. Dennoch wird es meist akzeptiert. Selbst wenn bekannt ist, dass Menschen bei uns im Asyl sind, wird die Polizei hier nicht reingehen.

Was sie aber dürften.

Ja. Aber der öffentliche Aufschrei wäre groß.

Es ist also noch nie vorgekommen?

Doch, in den 1990er-Jahren. Mit sehr negativer Presseberichterstattung über die Polizei, als mein Vorgänger Günter Sanders das publik gemacht hat. Seither wird das Kirchenasyl respektiert.

Dennoch: Es wurden schon Pastoren mit Strafgeldern belegt.

Ja, aber meistens schützen einen die Landeskirchen und der Kirchenvorstand, der formal verantwortlich ist. Unser Vorstand trägt das mit. Das gibt uns Pastoren die Freiheit, schnell zu handeln, wenn wir glauben: Das ist für die Menschen gut. Denn als Pastor fühle ich mich Menschen in Not verpflichtet. Die Religion spielt dabei keine Rolle – die meisten, die wir aufnehmen, sind Moslems.

In einigen Bundesländern tolerieren die Behörden Kirchenasyl nur in Altarräumen.

Niedersachsen praktiziert das knallhart: Kirchenasyl gilt nur im Sakralgebäude. Als ich in Peine arbeitete, wurde in einer Nachbargemeinde eine Familie nachts um 11 aus dem Gemeindehaus geholt und abgeschoben. Da war nichts zu machen. Das wird hier zum Glück nicht so stark unterschieden.

Wo liegt Ihre Erfolgsquote?

Bei 100 Prozent. Alle, die im Kirchenasyl waren, bekamen eine Aufenthaltsgenehmigung. Das zeigt, wie sinnvoll die Sache ist. Aber man muss Geduld haben, und das ist zugleich das Schwierigste für die Menschen.

Wie viele haben Ihr Kirchenasyl durchlaufen?

Wir führen da nicht Buch, aber es wohnen ständig bis zu fünf Menschen hier. Wir freuen uns, wenn jemand das Haus verlassen und legal in Deutschland bleiben darf. Was aber immer ein schmerzlicher Abschied ist: Familien wohnen zwei Jahre lang hier – und auf einmal sind sie weg! Man gewöhnt sich so aneinander.

Text: Philipp Jarke
Bild: Sabrina Jenne