Leseprobe

MACH ES SELBST

#35 AM SCHWARZEN MEER – Wie jemand durch ein Tauschgeschäft zum Tätowierer wurde

 

Die Nadel sticht einige Millimeter in die Haut. Ein Sirren erfüllt den Raum, das beim Einstechen dumpfer wird. In der Luft ein medizinischer Geruch von Desinfektionsmitteln. Ein Mann liegt auf dem Bauch, von der Mitte seines Rückens bis zwischen die Schulterblätter entsteht ein Rosenkohl, gestochen von Philip Spence. Eigentlich wollte der Mann eine Palme, doch auf einem Spaziergang im Schrebergarten hat er entdeckt, dass eine Rosenkohlpflanze ganz ähnlich aussieht. Die Entscheidung war klar: Der Kohl ist weniger banal. So einzigartig die Menschen sind, so individuell ist oft die Auswahl der Motive, mit denen sie sich profilieren (siehe Foto).

Spence, 28, ist professioneller Tätowierer, er trägt Vollbart und gern bunte Socken. Er arbeitet mit Andrea Hood im Tätowierstudio Tiny Town Am Schwarzen Meer, in das er vor Kurzem als Partner eingestiegen ist. Man sieht es nicht sofort, aber die Tattoos auf Spence‘ Haut sind fast alle selbst gemacht. Von Freunden. Und einige, da, wo es ging, auch von ihm selbst. Auf der Innenseite seines linken Arms hat sein Motto einen persönlichen Platz gefunden: „DIY OR DIY“ steht dort in Großbuchstaben. „DIY“ ist eine englische Abkürzung und bedeutet: Do it yourself – mach es selbst!

Als Spence zum ersten Mal eine Tätowiermaschine in der Hand hielt, überlegte er nicht lange und stach sich auf dem linken Oberschenkel. Beim Setzen des ersten Stichs fiel ihm auf, dass er gar nicht wusste, was er sich machen sollte. Heute ziert ihn an dieser Stelle ein Kreis, im Inneren drei Linien, die ungefähr ein Dreieck ergeben.

An die Tätowiermaschine kam er damals durch Zufall. Zusammen mit einem seiner besten Freunde nutzte er einen Proberaum zum Musizieren, die Miete zahlte Spence allein. Im Gegenzug erhielt er von seinem Freund gelegentlich kleine Geschenke. Vor zwei Jahren war die Tätowiermaschine dabei.

Zu Beginn hat er viel und oft spontan herumprobiert, doch sein Anspruch stieg mit jedem vollendeten Tattoo. Nicht nur für seine Kunden möchte er immer bessere Tattoos machen, auch die Tattoos, die er sich von Freunden stechen lässt, wurden es. Spence steht zu allen seiner DIY-Tattoos. Mit einer Ausnahme. Mit 19 Jahren wollte Spence sein erstes Tattoo, doch es fehlte das nötige Geld. Ein Freund eines Freundes hatte gerade angefangen, mit der Maschine zu üben. Also stach der ihm sein erstes Tattoo: das vordere Kettenblatt eins Fahrrads. Spence verdreht leicht die Augen, grinst aber, als er erzählt, dass er es auf einer Amerikareise als einziges Motiv professionell ausbessern und erweitern ließ. Zuvor sei es „einfach zu bescheiden“ gewesen.

Wenn Spence einen Freund oder eine Freundin tätowiert hat, bittet er sie manchmal darum, auch ihm ein Tattoo zu stechen. Die Motive auf seinem linken Arm sind so entstanden: eine Fahrradkette, die sich um seinen Oberarm legt, oder eine Baumscheibe auf der Arminnenseite. Deren Bedeutung, sagt er, muss nicht offensichtlich für andere sein. Für ihn sind Tattoos wie Narben. Narben erzählen Geschichten, und irgendwann, sagt Spence, sieht man weniger die Narbe als eher eine bestimmte Zeit oder ein Gesicht, das man damit verbindet.

Bevor er professioneller Tätowierer wurde, hatte Spence als Fahrradkurier gearbeitet. Damals stach er sich den Abdruck seiner Radlerhose nach. Beim rechten Bein bemerkte er zu spät, dass er verrutscht war und die Enden sich nicht treffen würden. Ein Versehen, sicher, aber eben auch eine weitere „Narbe“. Bereut hat Spence dieses Tattoo, wie alle anderen, noch nie.

Text & Foto: Anna Tabeling