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„ICH BIN DER LETZTE“

#83 LADESTRASSE – Karl Hermann Fahrenholz wohnt seit 75 Jahren in der Ladestraße. Ein Gespräch über Ruinen, das Schaukeln auf Gasleitungen und die Leidenschaft für Straßenbahnen

Leben Sie schon immer hier, Herr Fahrenholz?

Nein, geboren wurde ich in Nienburg, weil wir im Krieg ausquartiert wurden. Das Grundstück gehörte aber schon lange vorher unserer Familie. Im Krieg ist alles hier kaputt gegangen. Das war eine richtige Ruine.

Und wann sind Sie hierher zurückgekommen?

Direkt nach dem Krieg, zusammen mit meiner Mutter und meinen Großeltern. Da war ich etwa ein Jahr alt. Mein Vater ist verschwunden, den habe ich nie gesehen. Erst wollten meine Großeltern nach Brasilien auswandern. Mein Opa war Seefahrer und nie zu Hause, Oma hat das hier alles wieder aufgebaut.

Wie sah es in Ihrer Kindheit hier aus?

Das waren ganz andere Leute. Die leben heut alle gar nicht mehr. Die Hallen hier standen schon immer, damals wurde darin Holz gelagert. Das kam mit Schiffen und dem Zug an, zweimal am Tag kam die Eisenbahn. Die Schienen haben sie irgendwann entfernt. Heute fahren nur noch Laster.

Wie erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit?

Ich bin auch hier zur Schule gegangen. Meine Lehrerin war zur Nazizeit die Führerin meiner Mutter beim Bund Deutscher Mädel. Die hätte gar keine Lehrerin sein dürfen. In der Klasse waren 36 Kinder, die Schule ging von Montag bis Samstag. Das war scheiße! Wenn Sport war oder Schwimmen, haben wir uns immer verpisst. Dann sind wir ins Kino gegangen oder haben uns vor Borgward in die Kurve gesetzt, um uns die Autos anzuschauen. Ich war damals schon Autofan. Ich hab dann später extra den Führerschein gemacht – aber da gab’s Borgward schon nicht mehr.

Wie haben Sie die Nachmittage verbracht?

Nach der Schule haben wir hier zwischen den Gleisen gespielt mit den Nachbarskindern. Da haben wir immer die Waggons von den Zügen abgehängt und uns versteckt. Dann sind die weggefahren und haben den Waggon stehen lassen. Meine Güte, waren die wütend, als sie wiederkamen! (lacht) Früher gab’s hier noch viele Parzellen, da haben wir auch oft gespielt. Außer wenn der Polizist kam: Schutzmann Taube haben wir den genannt. Vor dem gingen wir in Deckung, wenn wir Mist gebaut hatten. Einmal haben wir auf den Gasleitungen geschaukelt, die hingen hier nach dem Krieg vor den Häusern rum. Meine Güte, hat der uns fertiggemacht, der Polizist. Wir wussten ja nicht, wie gefährlich das war.

Wie ging es nach der Schule für Sie weiter?

Nach der Schule stand ich erst mal doof da. Damals hat man ja gar keine Hilfe bekommen nach der Schulzeit. Eigentlich wollte ich Kfz-Schlosser werden, aber das wollten alle. Wissen Sie, was ich dann geworden bin? Bauschlosser, in der Hohentorsheerstraße. Da hatte ich gar keinen Bock drauf. War ein Scheißjob. Balkongeländer hab ich gemacht, ohne Gerüst, bei allen Temperaturen. Dann kamen 18 Monate bei der Bundeswehr.

Kam es Ihnen mal in den Sinn, wegzuziehen?

Ja, klar. Aber nach der Bundeswehr dachte ich: Schon wieder weg? Zu der Zeit hatte ich drei mögliche Stellen in Aussicht – eine bei der Polizei, eine bei der Bundesbahn in Stuttgart und eine bei der BSAG. Ich hab mich dann für die Straßenbahn hier in Bremen entschieden. Da war ich dann 41 Jahre: Fahrer, Schlosser und Ausbilder. Mir war irgendwann klar: Hier geh ich nicht mehr weg. Und auch im Urlaub war mir immer das Wichtigste, Straßenbahn fahren zu können. Ich bin schon in Bonn gefahren, in Hannover, Karlsruhe, Stuttgart und Freiburg. Sogar bei der Teststrecke der Transrapid-Magnetschwebebahn war ich dabei.

Wie würden Sie Ihr heutiges Leben hier mit dem Ihrer Kindheit vergleichen?

Die Leute hier sind ja ganz andere. Bis zuletzt hat auch meine Mutter noch hier mit im Haus gewohnt. Die ist letztes Jahr mit 93 Jahren gestorben, ich war viel mit Pflege beschäftigt in den letzten Jahren. Nun lebe ich das erste Mal alleine in diesem Haus. Die Leute aus der Nachbarschaft kenne ich gar nicht mehr. Man grüßt sich zwar noch nett auf der Straße, aber mehr ist da nicht. Alle, die ich kannte, sind weggezogen oder gestorben. Es wird jetzt auch kein Holz mehr hier gelagert, sondern Edelmetall. Seitdem kommen die nicht mehr mit dem Schiff oder Zug, sondern mit dem Laster, und das aus der ganzen Welt. Ich sehe hier welche aus Polen, Tschechien, Rumänien und sogar aus dem Irak. Mich stört vor allem, dass sie so schnell fahren, und das bei der alten Straße. Die ist nämlich noch dieselbe von früher. Den meisten Anwohnern ist das aber egal, die ziehen sowieso bald wieder aus. Auch Unterschriften sammeln kann man vergessen. Ich hab das mal bei der BSAG gemacht – aber als es drauf ankam, haben alle einen Rückzieher gemacht und dann steht man alleine da.

Was passiert nach Ihrem Tod mit dem Haus?

Das weiß ich noch nicht. Ich hab keine Verwandten mehr. Ich bin der Letzte. Das Haus wird dann wahrscheinlich gespendet. Am Besten an einen Rettungsdienst: Bei denen bin ich auch ein paar Mal mitgefahren, damals mit dem Rettungskreuzer auf Amrum.

Text: Max Henke
Fotos: Dennis Green