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DAMIT SIE ROT SEHEN

Die Verkäufer:innen der Zeitschrift der Straße erhalten ein neues rotes Outfit. Sie können mit Ihrer Spende helfen

Sehen ist der Ausgangspunkt vieler Beiträge in der Zeitschrift der Straße, denn es sind Beobachtungen auf der Straße, die die Autor:innen zu ihren Texten inspirieren. Für unsere Verkäufer:innen dagegen ist Gesehenwerden wichtig. Es ist die Voraussetzung für Kund:innenkontakte, Erfolgserlebnisse und ihren Verdienst.

Damit die Verkäufer:innen künftig noch besser zu erkennen sind, erhalten sie demnächst ein neues Outfit. Mit einer roten Schirmmütze wird jeder ausgestattet, der die Zeitschrift der Straße verkauft. Eine rote Weste und eine schwarze Umhängetasche gibt es für diejenigen, die schon länger dabei sind, regelmäßig verkaufen und gezeigt haben, dass sie es ernst meinen.

Liebe:r Leser:in, trotz der vielen beteiligten Studierenden und freiwillig Engagierten kosten Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift der Straße viel Geld. Wir erhalten keine öffentlichen Mittel und haben keine großen Sponsoren im Rücken. Um Menschen in Not zu helfen, sich selbst zu helfen, brauchen wir Ihre Unterstützung.

Sie können dazu beitragen, dass unsere Verkäufer:innen noch besser gesehen werden. Bitte spenden Sie (z.B. über diesen Link):

  • 5 Euro für eine Mütze,
  • 20 Euro für eine Tasche,
  • 25 Euro für eine Weste oder
  • 50 Euro für eine komplette Verkaufsausstattung.

Herzlichen Dank!

DER WEG WAR DAS ZIEL

#27 SILBERPRÄGE: Wo einst John­ny Cash und Nir­va­na auf­tra­ten, tref­fen sich heute Hun­der­te Kohl­fah­rer. Ein Ab­ste­cher zum Ala­din

WegZiel

Das Ala­din also, einst Gast­stät­te und Kino, heute ein Ort zwi­schen Kon­zert­hal­le und Fest­zelt, das sich einen Namen mit Par­tys wie „Titty Twis­ter“, „End­lich Frei­tag“ oder „Hüt­ten­gau­di“ ge­macht hat. Ich satt­le die Hüh­ner und mache mich auf den Weg, in der Hand ein Ge­bräu, des­sen Auf­schrift heute meine De­sti­na­ti­on sein soll.

Es ist 3:13 Uhr in der Nacht, als ich von wei­tem den leuch­ten­den Schrift­zug über dem Ein­gang pran­gern sehe. Heute stand die Ro­ckin’ Kohl­fahrt auf dem Plan. Dem Ge­tüm­mel drau­ßen nach zu ur­tei­len ist es ein ge­lun­ge­ner Abend ge­we­sen. Drin­nen wer­den ge­ra­de die Stüh­le hoch­ge­stellt, grobe Un­rein­hei­ten be­sei­tigt und die The­ken ge­wischt. Vor dem Ge­bäu­de er­schöpf­te Kohl­freun­de, die sich nach und nach auf die Taxen ver­teilt.

Doch nicht alle wol­len schon gehen; Thors­ten und Ulli leh­nen läs­sig am Ge­bäu­de und un­ter­hal­ten sich. Ich nä­he­re mich ihnen mit einer Zi­ga­ret­te im An­schlag. „Duu willst Feuer haben!“, sagt Thors­ten. Ich zünde mir meine Zi­ga­ret­te an, wäh­rend Thors­ten mich fragt, ob ich In­ter­es­se an einer Fla­sche Koks hätte. „Das machd ihr aber under euch aus“, meint Ulli, der sich in die­sen Han­del lie­ber nicht ein­mi­schen möch­te. „Jaaa, ich weiß, du willsd, warte nur kurz, ich ruf ma ebm je­mand an.“ Noch bevor ich Ulli von sei­nem Vor­ha­ben ab­hal­ten kann, kommt Jo­chen von hin­ten an­ge­stürmt und um­armt seine bei­den Par­ty­kol­le­gen: „Will denn jetzt keina hiä Kon­do­me kaufn?!“ Of­fen­bar ein Ort des regen Han­dels, an den ich hier ge­ra­ten bin.

Jo­chen hat heute Ge­burts­tag, er­zählt er mir. Auf die Frage, ob er denn heute auch flei­ßig Kohl ge­ges­sen habe, ent­geg­net er mir: „Ich ess kein Schwei­ne­fleisch“, stratzt von dan­nen und ver­sucht per An­hal­ter einen Bus zum Ste­hen zu brin­gen. Ver­ge­bens. Ver­är­gert macht er sich auf den Weg zur nächs­ten La­ter­ne, um ihr or­dent­lich die Mei­nung zu gei­gen. Er tritt meh­re­re Male gegen den Pfahl und gibt dabei jo­del­ähn­li­che Töne von sich. Nach ei­ni­gen Se­kun­den be­sinnt er sich, um­armt den Pfahl und steigt in ein Taxi.

Thors­ten und Ulli un­ter­hal­ten sich der­weil über Nel­son Val­dez, einen Stür­mer von Ein­tracht Frank­furt, der mal bei Wer­der Bremen spiel­te, wie Ulli sich er­in­nert. Von innen singt mich eine über­gro­ße John­ny-Cash-Wand­ma­le­rei an, mein Bier ist auch bald leer, genau wie Heme­lin­gen.

Text:
Felix Müller
Foto:
Annika Drichel

#26 Walfischhof

Hintergrundfoto: Clayton Rego/flickr.com

EDITORIAL: Aussen grau, innen bunt

Kein Baum, kein Busch am Straßenrand, Gewerbebauten, so weit man blickt – der südöstliche Winkel der Überseestadt gleicht einer Einöde.

Unsere Autor:innen und Fotograf:innen ließen sich davon nicht entmutigen. Im Walfischhof und in der Baumstraße klopften sie an Türen und Tore und haben dahinter eine ganz wunderbar bunte Mischung von Menschen entdeckt.

Wilma Schneider etwa, 84, hat beinahe ihr gesamtes Leben in der Baumstraße verbracht. Als Kind fuhr sie per Anhalter noch auf Pferdekutschen in den Hafen. Nach dem Krieg erlebte sie, wie Lastwagen die Pferde verdrängten und aus dem Villenviertel um den Walfischhof – das als Schwachhausen des Westens galt – ein Gewerbegebiet wurde (S. 8).

Genau gegenüber von Frau Schneiders Haus betreibt August Smisl, zwei Meter groß, 125 Kilo schwer, ein hochmodernes Fitnessstudio. Statt über den Weg zum perfekten Körper sprach er mit der Zeitschrift der Straße über seine ganz persönlichen wunden Punkte (S. 22).

Diese und drei weitere Geschichten haben unsere Autor:innen für dieses Heft und für unsere Website aufgeschrieben. Viel Spaß beim Lesen wünschen ist das Bremer Straßenmagazin – ein gemeinsames Projekt von Studierenden, Journalist:innen, sozial Engagierten, Streetworker:innen, Hochschullehrer:innen und von Menschen, die von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen sind.

100 Dezibel drücken auf die Ohren, wenn angehende Schlagzeuglehrer ihr Spiel verfeinern. Ein Besuch im Trommelwerk

LOGO ALS ZEICHEN FÜR TOLERANZ

Das Logo der Zeitschrift der Straße, was stellt es dar? Abstrakte Grafik? Oder 7. auf dem Kopf stehend mit einer römischen II auf der Seite liegend („7. Februar“)? Oder ein stilisiertes Z und ein Gleichheitszeichen („Die Zeitschrift setzt sich für Gleichheit ein“)? Oder ein stilisiertes Z über Fahrbahnbegrenzungen („Zeitschrift + Straße“)? Oder ein Gesicht mit Auge, Nase und Mund („Die Zeitschrift zeigt das Gesicht der Straße“)? Oder die Bremer Stadtmusikanten mit Punkt = Hahn, Winkel = Katzenbuckel und zwei Strichen = Hund und Esel? Dies und mehr haben Menschen im Logo der Zeitschrift der Straße schon gesehen.

Auch der Designer unseres Logos, Glen Swart, mochte sich nicht auf eine einzige Deutung festlegen, wie seine Skizzen zeigen. Vielmehr spielte er mit Bedeutungsverschiebungen, indem er das Logo unterschiedlichen Kontexten aussetzte (siehe unten).

Mehrdeutigkeit ist wohl eine der Stärken des Symbols, das seit Anfang 2015 die Titelseite jeder Ausgabe ziert. Unsere studentischen Redakteurinnen und Redakteure müssen mit Mehrdeutigkeit umgehen, wenn sie über Straßen und Orte recherchieren und Beobachtungen, Erlebnisse und Begegnungen in Artikeln und Bildern verarbeiten. Und Mehrdeutigkeit zeigt sich auch in den Konflikten rund um den Umgang mit Menschen am Rande der Gesellschaft, wie z. B. Obdachlosen, Drogenabhängigen und Flüchtlingen.

Mehrdeutigkeit zuzulassen und zu akzeptieren ist gleichbedeutend mit Toleranz, dem Erfolgsgeheimnis des friedlichen und respektvollen Miteinanders. Allein schon deshalb verzichten wir darauf, dem Logo der Zeitschrift der Straße eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben. Wären wir aber gezwungen, uns festzulegen, könnten wir mit der Deutung des Logos als Zeichen für Toleranz sicher gut leben.

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Text: Michael Vogel
Skizzen, Illustrationen und Fotos: Glen Swa
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DRIVE-BY AM DELMEMARKT

Vor einigen Wochen hatte ich ein super Erlebnis: Ich stand am Delmemarkt in der Neustadt vorm Rewe, da rief mich eine Frau aus ihrem Auto zu sich und bat mich, ihr die Zeitung zu verkaufen. Ein richtiger Drive-by, das war witzig. Selbst der Marktinhaber, der das zufällig mitbekommen hat, hat sich kaputt gelacht. Solche Momente sind es, die das Verkaufen so nett machen. Es passiert einfach immer etwas, das man nicht erwartet hätte. Außerdem zeigen mit meine Kunden, dass es ihnen Spass macht, bei mir zu kaufen. Manche bestellen sogar ältere Ausgaben und holen sie dann einige Tage später bei mir ab. Das ist doch mal ein Servcie, oder? Es ist auch schön zu sehen, dass sich die neuen Ausgaben recht gut verkaufen. Das hatte ich gehofft. Mir gefällt es auch, dass es jetzt ein Bild gibt auf dem Cover – auch wenn man natürlich diskutieren kann, ob man das jeweilige Foto nun gut findet oder nicht.

Die vergangenen Tage konnte ich leider nicht verkaufen. Ich war ich im Krankenhaus, wieder wegen meines entzündeten Fußes. Eine Woche lang habe ich mich dort erholt und ordentlich Kraft getankt. Nun fühle ich mich wieder topfit und starte in neue Projekte. Zum Beispiel will ich mich bald mal wieder als Heini im Schnoor präsentieren. Kommt doch mal vorbei!

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

WER BRAUCHT SCHON RUHE ZUM LERNEN?

#26 WALFISCHHOF – 100 Dezibel drücken auf die Ohren, wenn angehende Schlagzeuglehrer ihr Spiel verfeinern. Wer braucht schon Ruhe zum Lernen? Ein Besuch im Trommelwerk Bremen.

 

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Ein langer schmaler Gang, Tür reiht sich an Tür, am Ende ein Konzertsaal. Pearls, Premiers und jede Menge Sonors stehen im Raum, vier Drummer setzen sich breitbeinig hinter die Schlagzeuge. „So, ohne dass wir nervös werden: den A-Teil mit Besen und dann Stickwechsel auf B“, sagt Stefan Ulrich, genannt Steff. Er unterrichtet Jazz für angehende Schlagzeuglehrer, seine Studenten sollen den Wechsel zwischen Drumsticks und Jazzbesen üben. Eine knifflige Koordinationsübung: Wohin mit dem überzähligen Stick? Der Trommelwerk-Schüler Daniel Schneiker sucht noch eine geeignete Ablage. „Man kann den anderen Stick super untern Arsch oder untern Arm klemmen“, rät Steff. Daniel nimmt den Hintern, los geht‘s. Den Besen in der linken Hand, streichelt er über das Fell der Snaredrum, rechts bringt der Stick Becken zum Scheppern, die Bassdrum wummert. Wechsel! Daniel legt den Besen in behutsamer Eile auf die große Trommel, zieht den zweiten Stick hervor und findet den verlorenen Takt wieder. Alles gut gegangen.

Die Wurzeln in der Musik

„Mein Vater war Schlagzeuger bei Revolver“, schwärmt der 32-Jährige. Die Band war eine in den 80er Jahren erfolgreiche Hardrock-Band. Mit 15 Jahren fing er selbst an zu spielen. „Immer schon Heavy Music“, sagt Daniel. Oder besser: fast immer. Ein paar Mal trommelte er als Playback-Schlagzeuger für die „Flippers“. Vom Hardcore-Punk zum Schmuse-Schlager – kein Tabubruch? „Mal herumkommen“, wollte er nur. Seit 2011 ist er Drummer der Amsterdamer Band „Vitamin X“. Seitdem tourt er durch die Welt: Japan, USA, England, Brasilien, und bald auch Indonesien. Sie spielen in besetzten Häusern, Jugendzentren, Clubs und auf großen Festivals wie „Wacken“.

Zum Leben reicht das noch nicht. „Ich will mehr lernen, mir ein zweites Standbein schaffen“, sagt Daniel, der ursprünglich Einzelhandelskaufmann gelernt hat. Derzeit verdiene er seinen Lebensunterhalt als Backliner in einer Musikverleihfirma in Scheeßel – ein Bürojob. Sich ganz auf die Musik konzentrieren und eine eigene Schlagzeugschule aufmachen – das sei sein Traum. Deshalb pendelt er fünf Tage die Woche von Hamburg nach Bremen, um sich im Trommelwerk zum Schlagzeugpädagogen ausbilden zu lassen.

Künstlerischer Freiraum statt starrem Curriculum

Innerhalb von zwölf Monaten lernen die Trommelwerk-Schüler alles rund ums Drumset: Musikgeschichte, Jazzgroove oder Bühnenpräsenz werden vermittelt. Staatlich anerkannt ist das Trommelwerk aber nicht. „Wir bieten künstlerischen Freiraum, ohne starres Curriculum“, sagt Andi Pfeifer, der das Trommelwerk mit Max Gebhardt vor drei Jahren gegründet hat. Wie man selbst unterrichtet, üben die angehenden Schlagzeug-Pädagogen an der Musikschule „nebenan“. Deren Leiter Dietmar Hussong ist gleichzeitig auch Dozent beim Trommelwerk, wenn er sich nicht gerade um seine eigenen 150 Schüler kümmert. Oder um die Überseestadt-Unternehmer in der Mittagspause, die statt Kaffee zu trinken lieber eine Stunde am Schlagzeug schmettern. In der Baumstraße 45 dreht sich alles ums Schlagzeug.

Alle Lehrer waren einmal Schüler

„So, einmal Stage-Stunde“, unterbricht Steff die Übung mit dem Jazzbesen. Obwohl keiner mehr spielen soll, trommeln alle Finger automatisch weiter. Schlagzeuger-Tick. „Niemals alte Becken wegwerfen! Rissige Becken klingen total geil und trashig“, sagt Steff. Er kramt sein Schlüsselbund aus der Hosentasche, legt es auf die Snaredrum und demonstriert den veränderten Sound. „Seid kreativ. Das macht gute Schlagzeuger aus.“

Also sucht sich Daniel Schneiker einige Perkussions-Instrumente zusammen, um ein atmosphärisches Intro zu erzeugen. Er schrammt mit der Cabasa-Rassel leicht über die Becken und streicht mit dem Jazzbesen über den Schellenring, bevor es mit der Übung weitergeht: den A-Teil mit Besen und dann Stickwechsel auf B. Alle Lehrer waren einmal Schüler.

Text: Lisa Mahnke
Foto: Annika Drichel

DAS ENDE VOM LIED

Mein Highlight der vergangenen Tage war der Auftritt bei der Release-Party der Februar-Ausgabe unserer Zeitschrift der Straße. Da war ich wieder mal Heini Holtbeen, hab vor den Gästen eine kleine Rede gehalten. Das kann ich, so was ist einfach mein Ding.

Ansonsten ging es mir in der vergangenen Woche nicht so gut, ich hab meinen Fuß entzündet, musste Antibiotika nehmen und bin trotz der Kälte nur mit Sandalen gelaufen. Tagelang konnte ich deswegen nicht verkaufen. Das ist richtig blöd, denn wenn ich verkaufe, läuft es oft sehr gut. Manchmal schaffe ich es, in zwei Stunden ein knappes Dutzend Hefte an den Mann und die Frau zu bringen.

Am Montag dann aber hatte ich einen ganz schwarzen Tag: Da bin ich mit einer anderen Verkäuferin aneinander geraten. Wir haben uns darum gestritten, wer an einem bestimmten Platz stehen darf. Sogar die Polizei kam. Das Ende vom Lied: Keiner von uns durfte an dem Tag noch dort verkaufen. Das war schon eine gute Entscheidung, ich hab mir das ja auch zum Teil selbst zuzuschreiben. Ich hab es an dem Tag einfach drauf ankommen lassen. Im Nachhinein denke ich: Es ist einfach schade, dass wir Verkäufer nicht zueinander stehen, sondern uns bisweilen auch noch gegenseitig das Leben schwer machen. Dabei haben wir es doch eigentlich schon schwer genug.

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

FREMDKÖRPER MIT PARKVERBOT

#25 ZIEGENMARKT – Zu sauber, zu teuer, zu groß – der Neubau überm „Rewe“ ärgert viele. Hält nur Dreck Gentrifizierung auf? Die Geschichte von „Ziegenmarkt 21“

Rewe-Neubau am Ziegenmarkt mit rotem Herz-Grafiti ganz oben an der Fassade
Herzlich willkommen im Steintor-Viertel

Das rie­si­ge rote X prangt wie ein Park­ver­bot vor dem Ein­gang des gro­ßen Wohn- und Ge­wer­be­blocks am Zie­gen­markt. Ein Park­ver­bot für Men­schen. Die­ser Fleck soll frei blei­ben, heißt das: Frei von ver­meint­lich bet­teln­den, ner­vi­gen Punks, frei von Jun­kies, Ob­dach­lo­sen und allen an­de­ren, die sich auf dem Platz gerne auf­hal­ten. Die Glas­tür hin­ter dem X und die Plat­te mit den Klin­geln ist sau­ber. Di­rekt da­ne­ben aber hängt alles vol­ler Pla­ka­te, wild an die Back­stein­fas­sa­de ge­kleis­tert. Vom strah­lend wei­ßen Putz der dar­über­lie­gen­den Eta­gen leuch­ten bunte Farb­bom­ben­kleck­se – Zei­chen des Wi­der­stands.

Verglichen mit dem benachbarten Ostertor ist das Steintor noch weit weniger geleckt. Der Ziegenmarkt, dieser Platz im spitzen Winkel von Friesenstraße und Vor dem Steintor, ist das soziale Zentrum des Steintorviertels, direkt an dessen Pulsader gelegen. Dreimal die Woche ist das buckelige Kopfsteinpflaster vollgestellt mit Marktbuden. Abends treffen sich hier Alkoholiker und solche, die es werden wollen; in den umliegenden Kneipen und Spelunken ist Betrieb bis in die frühen Morgenstunden. Linke-Szene-Demonstrationen starten oft von hier. Ein Gedenkstein am Rand erinnert an die vielen Drogentoten. Die Rotlichtgasse liegt gleich gegenüber. Über all dem thront seit 2012 der fünfstöckige weiße Kasten mit dem Supermarkt im Erdgeschoss. Der Neubau dominiert den Ziegenmarkt, er überschattet ihn und integriert sich auch optisch nicht in sein Umfeld.

Wie „Stuttgart 21“, nur viel kleiner

Gut zwanzig Meter entfernt, buchstäblich im Schatten des weißen Gebäudes, steht das Jugendzentrum „Die Friese“. Unzählige bunte Plakate an den Wänden erzählen von Veranstaltungen, von lauten Punk-, Metal-, Trash- und Hardcorekonzerten, von linken Demos, von politischem und menschlichem Engagement. Drinnen sitzt Michael Quast, seit Urzeiten Geschäftsführer der sozialen Einrichtung. Kurz geschorene Haare, abgewetzte Jeansjacke, Ohrring. Ihm gefällt überhaupt nicht, wie es vor knapp vier Jahren zu dem Neubau gegenüber kam. Angekündigt ist nämlich zunächst nur eine Modernisierung des maroden, damals noch einstöckigen Supermarktgebäudes. Nur durch Zufall bekommen die unmittelbar betroffenen Ziegenmarkt-Nachbarn dann mit, dass der Flachbau samt der angrenzenden Häuser in diesem Zug durch einen fünfstöckigen Wohn- und Gewerbekomplex ersetzt werden soll: schicke, vergleichsweise teure Wohnungen mitten im Steintor.

„Historisch haben da ja schon immer Häuser gestanden“, sagt Quast. „Es war nur kein so großer Klotz.“ Fünf bis sieben Meter breit waren die Gebäude hier traditionell, mit kleinen Läden unten drin. „Das hätte man ja wieder aufnehmen können.“ Seine Kritik zielt aber nicht nur auf die Architektur. „Es sind ja letztlich hier am Ziegenmarkt zehn oder fünfzehn kleine Grundstücke, die zusammengeführt wurden, um da höherwertige Wohn- und Aufenthaltsqualitäten zu schaffen für eine bestimmte Klientel.“

Quast ist nicht der Einzige, der sich daran stört. Zusammen mit anderen Empörten gründet er eine Bürgerinitiative. Ihren Namen wählen sie in Anlehnung an die zeitgleichen massiven Proteste gegen die milliardenschwere Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs: „Ziegenmarkt 21“. Sie drucken Protestpostkarten und Plakate, sammeln Unterschriften und organisieren Veranstaltungen. Indes: Die Baugenehmigung für den umstrittenen Gebäudekomplex ist bereits erteilt. Immerhin lässt sich die Baufirma nach langer Diskussion und mit Moderation des Ortsamtes auf einen Fassadenwettbewerb ein – und zwar einen, der nur für Bauplaner aus der Nachbarschaft ausgeschrieben wird. „Der Hintergrund war, dass die Architekten, die das dann verbraten, das auch täglich sehen sollen“, erinnert sich Quast. Der Kubus allerdings, der Baukörper selbst, steht nicht mehr zur Debatte. „Die Höhen, der Würfel, …“, ärgert sich Quast: „Dieser Klotz war schon ein Klotz. Die konnten da nicht mehr viel retten.“ Der Wettbewerb bleibt einer um die Fassade.

Angekündigt ist zunächst nur eine Modernisierung des Supermarktgebäudes

Die Mitglieder der Bürgerinitiative hätten sich weitaus mehr gewünscht: eine Debatte nicht nur über den Bau an sich, sondern über den gesamten Ort, über den Ziegenmarkt als einen zentralen Platz des Steintors, mit dem Ziel, diesen zu einem möglichst angenehmen Aufenthaltsort für alle Bewohner:innen zu machen. Immerhin ist dessen Gestaltung als Treffpunkt schon in den Jahren zuvor immer wieder mal öffentliches Thema. Es gibt zahlreiche Bürgerversammlungen und Diskussionen, unter anderem über eine partielle Begrünung der Fläche, darüber, Sitzbänke aufzustellen, sogar ein kleiner Park mit Hügel ist im Gespräch. Mit der erteilten Baugenehmigung ohne jede Vorabinformation der Öffentlichkeit stößt die Stadt all jene vor den Kopf, die sich darüber Gedanken gemacht haben.

Auch wenn es in diesem Fall keine juristische Handhabe mehr gibt, will die Initiative zumindest ein politisches Zeichen gegen willkürliche Stadtplanung setzen – schon allein, damit das Beispiel nicht Schule macht. „Wir wollten zeigen, dass es sich für Investoren nicht lohnt, zehn alte Häuser aufzukaufen, abzureißen und was Neues hinzusetzen“, sagt Quast. Der Beirat diskutiert, derlei für die Zukunft mithilfe einer Gestaltungssatzung zu verhindern – bis heute gibt es keine. Auch die Idee, eine öffentliche Diskussion über die Gestaltung des Rest-Ziegenmarktes zu führen, versandet.

Heute, nach vier Jahren, ist das neue Erscheinungsbild des Ziegenmarktes zur Normalität geworden und der Protest gegen den weißen Klotz an dessen Ostseite verhallt. Nur die vereinzelten Farbkleckse an der Wand, die hin und wieder übertüncht und dann wieder erneuert werden, erinnern noch an den Unmut, den er ausgelöst hat.

Die Mietpreisspirale dreht sich

Dass sich ganze Stadtteile von sozial schwächeren, durchmischten Gebieten zu monokulturellen, kommerzialisierten Wohn- und Aufenthaltsgegenden entwickeln, die aufgrund der steigenden Mietpreise nur noch der höheren Mittel- und der Oberschicht vorbehalten sind, ist schon seit dem vorletzten Jahrhundert zu beobachten – dieses Phänomen bestimmt die Stadtentwicklung auf der ganzen Welt und nun eben auch in Bremen. „Bei der Gentrifizierung gibt es so viele kleine Rädchen, die ineinandergreifen“, sagt Quast. „Es ist nur ein Mosaiksteinchen: Es ist ja nicht so, dass durch diesen einen Bau sich plötzlich ganz viele Leute das nicht mehr leisten können, hier zu wohnen. Das ist ja so schleichend. Es gibt viele Faktoren, die da eine Rolle spielen.“

Der Prozess der Gentrifizierung läuft häufig nach demselben Schema ab: Sobald sich ein Gebiet durch bestimmte Faktoren wie besondere Kulturangebote, Architekturstile oder anderes als besonders hip oder attraktiv herausstellt, beginnen finanzkräftige Interessengruppen, in die bis dahin vernachlässigte Baustruktur zu investieren. Gastronomie und Dienstleistungsgewerbe siedeln sich auf zu dem Zeitpunkt noch günstigen Gewerbeflächen an. Durch die Steigerung der Lebensqualität und des Warenangebotes im Umfeld wird es auch für Vermieter und Immobilienmakler rentabler, in ihr Eigentum zu investieren und dann höhere Mieten zu verlangen – die Mietpreisspirale beginnt, sich zu drehen. Stück für Stück wird auf diese Weise die alte, gewachsene Struktur verdrängt und mit ihr alle, die sich die gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten können. Weil diese Entwicklung mehrere Jahre dauert, merken die meisten nicht, wie die Menschen, die nicht so zahlungskräftig sind, nach und nach aus dem Stadtbild verschwinden. Quast beobachtet dies auch im Steintor. „Früher war das Viertel ja mal multikulti. Jetzt ist es nur noch bunt, weil der Anteil der Migranten mit geringem Einkommen spürbar nachgelassen hat.“

Bei der Gentrifizierung gibt es so viele kleine Rädchen, die ineinandergreifen

Auch die zunehmende Tendenz, den öffentlichen Raum zu kommerzialisieren, sieht Quast als Teil des Problems. „Das ist auch Gentrifizierung, wenn es nur noch möglich ist, sich für Geld dort aufzuhalten.“ Der neue gastronomische Betrieb in den Räumen der früheren Hirsch-Apotheke etwa: „Ich sehe, dass da Tische und Stühle rausgestellt werden. Das sind die Anfänge einer gastronomischen Eroberung des Platzes. So fangen sie klein an.“ Nicht zuletzt deshalb hofft er, dass die Gestaltung des Ziegenmarktes noch mal zur Diskussion gestellt wird. „Nicht, dass hier schleichend noch mehr Gastro stattfindet und der Ziegenmarkt dann irgendwann weg ist für die Allgemeinheit.“

Im Steintor hängen inzwischen immer mal wieder Plakate, die gegen die Aufwertung des Viertels Position beziehen. Das beste Rezept gegen steigende Mieten lautet demnach: „Steintor bleibt dreckig.“

Text: Simon Denecke
Bild: Janis Fisch

DIE LEICHTIGKEIT DES BUDDHA

#25 ZIEGENMARKT – Als Hip­pie such­te er das Neue. Ost­asi­en ließ ihn nicht mehr los. Eine Tee­ze­re­mo­nie mit Ha­rald Lührs in sei­ner „Bud­dha­welt“

Möbel in der „Buddhawelt“
Man kann hier auch Buddhas kaufen. Vor allem geht es Harald Lührs aber um die Möbel

Die Bud­dha­sta­tue ist schon von Wei­tem zu ent­de­cken. Un­über­seh­bar sitzt sie auf dem Bür­ger­steig, wei­ßer Stein, be­stimmt einen Meter groß. Ha­rald Lührs hat viele Bud­dha­sta­tu­en in sei­nem Laden, große und klei­ne, aus Stein, Holz und Bron­ze, die meis­ten aus China, aber auch aus Sri Lanka, In­do­ne­si­en und an­de­ren Län­dern. Es sind Hei­lig­tü­mer der un­ter­schied­lichs­ten bud­dhis­ti­schen Rich­tun­gen, im Tem­pel dürf­te man sie nicht ein­mal fo­to­gra­fie­ren. Hier aber kann man sie kau­fen, die kleins­ten für 20 Euro, die gro­ßen für ein paar Tau­sen­der.

Die Bud­dhas haben es ihm an­ge­tan. Seine erste Sta­tue kauf­te er mit 17, in den 1960ern. „Hip­pie­zeit“, sagt Ha­rald Lührs, und dass er, wie alle in sei­nem Um­feld da­mals, auf der Suche nach einer neuen Sicht­wei­se auf die Welt und gegen be­ste­hen­de Sys­te­me und Hier­ar­chi­en war. „Wir woll­ten neue Dinge aus­pro­bie­ren.“ Asia­ti­sche Kul­tur fas­zi­nier­te ihn, be­son­ders der Bud­dhis­mus. „Aber dass ich ein­mal Tee­haus­be­sit­zer sein würde, das dach­te ich da­mals noch nicht.“

Tra­di­tio­nell wird der erste Auf­guss weg­ge­kippt. Lührs ser­viert ihn trotz­dem

Tat­säch­lich sind die Bud­dhas, die sei­nen Laden vor dem Stein­tor zie­ren, vor allem Bei­werk. Auch wenn er ihn „Bud­dha­welt“ ge­nannt hat: Ei­gent­lich und in ers­ter Linie ver­kauft Ha­rald Lührs Tee. Chi­ne­si­sche und ja­pa­ni­sche Tees, in gan­zen Blät­tern, alle be­kann­ten Sor­ten, die meis­ten aus der chi­ne­si­schen Pro­vinz Zhe­jiang, die in China für den bes­ten Tee be­kannt ist. Man kann die Tees ein­fach kau­fen oder sie bei und mit ihm trin­ken. Ha­rald Lührs nimmt dann das höl­zer­ne Tee­ta­blett und rich­tet dar­auf die Tee­scha­len an. In der klei­nen Küche kocht er Was­ser. Am Tre­sen wählt er ein paar Blät­ter Long Jing aus, zeigt sie und trägt sie in die Küche. Kurz dar­auf bringt er die Kanne. Fünf Mi­nu­ten Zieh­zeit. Lührs gießt den ers­ten Auf­guss, den „Auf­guss des guten Ge­ruchs“, in die Scha­len. Tra­di­tio­nell wird die­ser weg­ge­kippt; er ser­viert ihn trotz­dem. Zwei­mal füllt er die klei­nen Schäl­chen nach, dann ist die Kanne leer. Lührs holt neues Was­ser und bringt Ku­chen – auch das ein den hie­si­gen Kun­den­be­dürf­nis­sen ge­schul­de­ter Tra­di­ti­ons­bruch: In China würde man zum Tee nie­mals etwas essen. Der zwei­te Auf­guss schließ­lich, der „Auf­guss des guten Ge­schmacks“ schmeckt deut­lich bes­ser, weil we­ni­ger bit­ter.

Auch wenn Tee Lührs’ Haupt­ge­schäft ist: In den gro­ßen Schau­fens­tern sei­nes La­dens kommt er eben­falls nur in­di­rekt vor: Glä­ser, Tas­sen und an­de­res Ge­schirr sta­peln sich dort, aus Japan, China, Korea, In­do­ne­si­en, alles bunt ge­mischt – Asien eben. Nur wer ge­nau­er schaut, ent­deckt im Hin­ter­grund den gro­ßen Tre­sen mit dem Tee­re­gal, auf dem Pa­ckun­gen und Dosen Hun­der­ter ver­schie­de­ner Tee­sor­ten ne­ben­ein­an­der auf­ge­reiht sind.

Ru­hi­ge Kun­den, ru­hi­ger Laden

Drau­ßen lärmt die Straße. Drin­nen ist es auf­fal­lend still. Keine Musik. Nur das leise „Pling­pling“, das er­tönt, wenn die Tür geht. So still ist es, dass man zu­nächst denkt, kein Mensch sei im Laden. Ob­wohl man Ha­rald Lührs gleich sieht, wie er hin­ter einem Tisch sitzt und in einer Zei­tung liest. Gut 60 Jahre alt ist er, die Haare schon weiß-grau, auf der Nase trägt er eine Bril­le. Er schweigt. So viel Ruhe strahlt er aus, dass er selbst wie eine Bud­dha­sta­tue wirkt. Man möch­te nicht stö­ren. Erst auf Nach­fra­ge sagt er freund­lich: „Schaut euch gerne über­all um.“

Eine Wen­del­trep­pe führt ins Ober­ge­schoss des Ge­schäfts, das sehr an ein Mu­se­um er­in­nert. Groß­for­ma­ti­ge Ge­mäl­de und Kal­li­gra­fi­en schmü­cken die Wand. Bud­dha­fi­gu­ren auch hier, sorg­sam mit Blu­men, Vasen und por­zel­la­nen Räu­cher­stäb­chen­hal­tern auf nied­ri­gen Ti­schen ar­ran­giert wie in einer Aus­stel­lung. Da­ne­ben ein tra­di­tio­nel­les chi­ne­si­sches Schlaf­ge­mach mit klei­nem Bett­tisch, an der Wand da­hin­ter eine ti­be­ti­sche Sti­cke­rei. Im Nach­bar­raum ein kunst­voll ge­schnitz­ter, über­manns­ho­her Altar mit Bud­dha­sta­tue, Ker­zen und Räu­cher­stäb­chen, wei­ter ver­schie­dens­te Mu­sik­in­stru­men­te und Tep­pi­che. Alles wirkt sehr au­then­tisch, bis auf den Kühl­schrank: Auf dem klebt ein Foto von Tu­tan­cha­mun.

Alles wirkt sehr au­then­tisch, bis auf den Kühl­schrank:
Auf dem klebt ein Foto von Tu­tan­cha­mun

Ha­rald Lührs ist fas­zi­niert von Ost­asi­en. Schon in sei­ner Kind­heit, er­zählt er, habe die zau­ber­haf­te und mys­ti­sche Welt jenes Erd­teils, auch wenn er sie nur aus Ge­schich­ten kann­te, eine wich­ti­ge Rolle für ihn ge­spielt. Spä­ter habe er sich sehr viel Li­te­ra­tur über das alte China ge­kauft und be­gon­nen ein­zu­tau­chen in die alte le­gen­dä­re Welt Chi­nas und der Ming-Dy­nas­tie. Nach sei­nem Kunst­ge­schichts­stu­di­um geht er für ei­ni­ge Jahre auf Ent­de­ckungs­rei­se nach In­do­ne­si­en und Sri Lanka. Seine bei­den Söhne kom­men dort zur Welt.

Men­schen, Kul­tur und Ge­schich­te Ost­asi­ens be­ein­dru­cken den Bre­mer so sehr, dass er sie zum fes­ten Teil sei­nes in­zwi­schen wie­der nord­deut­schen Le­bens macht. In den 1980ern er­öff­net er sei­nen Laden. Zu­nächst ver­kauft er dort asia­ti­sche Klei­dung. Vor gut zehn Jah­ren steigt er schließ­lich auf Tee um: Der ver­kauft sich hier­zu­lan­de bes­ser.

Lieb­ha­be­rin­nen und Lieb­ha­ber tra­di­tio­nel­ler chi­ne­si­scher Tees sind ru­hi­ge Kun­den. Die At­mo­sphä­re, in die sie in Lührs’ Laden ein­tau­chen, tut ihr Üb­ri­ges: Keine Spur von Hek­tik, alles ist ziem­lich ruhig und re­laxt hier. Das Am­bi­en­te hilft ihm aber nicht nur beim Tee, son­dern trägt auch zum Ver­kauf der Möbel und Bud­dha­sta­tu­en bei. Wobei Lührs den größ­ten Teil sei­nes Um­sat­zes mit den Tees macht; die Möbel, sagt er, ver­kau­fe er nur zum Ver­gnü­gen.

Der Tee, sagt Ha­rald Lührs, ver­bin­de die Men­schen in der gan­zen Welt. Neben den Stamm­kun­din­nen und Stamm­kun­den kämen auch viele Tou­ris­ten in sei­nen Laden. Das sei immer sehr in­ter­es­sant, weil jedes Land seine ei­ge­ne Tee­kul­tur habe. Nur Chi­ne­sen kämen eher sel­ten, be­dau­ert Lührs – ob die sich alle pri­vat mit Tee ver­sor­gen oder ihnen der in Lührs’ Laden schlicht zu teuer ist, bleibt offen.

Re­gel­mä­ßig fährt er nach China, In­do­ne­si­en und Sri Lanka, um seine Pro­dukt­pa­let­te zu er­wei­tern. Freun­de, die er auf sei­nen vie­len Rei­sen dort ken­nen­ge­lernt hat, be­ra­ten ihn beim Ein­kauf so­wohl der Tees als auch der Möbel und Bud­dhas. Selbst spricht er nur wenig Chi­ne­sisch, ein biss­chen In­do­ne­sisch und etwas Sin­gha­le­sisch.

Fas­zi­na­ti­on Ming-Dy­nas­tie

Mehr noch als Tee und Tee­kul­tur fes­seln ihn je­doch asia­ti­sche Möbel. Be­son­ders von der Ming-Dy­nas­tie ist er fas­zi­niert, von ihren Mö­beln und ihrer Kul­tur, die in China immer noch zu spü­ren ist. „Die kunst­vol­le Ver­ar­bei­tung der tra­di­tio­nel­len Möbel, Bil­der und Skulp­tu­ren sind un­ver­gleich­lich“, schwärmt er. „Auch die For­men und Far­ben sind fas­zi­nie­rend.“ Lange Zeit waren diese Pro­duk­te kaum zu­gäng­lich für Eu­ro­pä­er. Als es vor ei­ni­gen Jah­ren dann ein­fa­cher wurde, damit zu han­deln, ver­wirk­lich­te sich Lührs einen per­sön­li­chen Traum und nahm neben den Tees auch Möbel und Kunst­ge­gen­stän­de in sein Pro­gramm. Er zi­tiert gern ei­ni­ge der alten Texte und man merkt, dass chi­ne­si­sche Le­bens­weis­hei­ten und Phi­lo­so­phie auch zu sei­nen ei­ge­nen ge­wor­den sind.

Die an­ti­ken Möbel und die zahl­lo­sen Sta­tu­en schaf­fen eine fast spi­ri­tu­el­le At­mo­sphä­re in Lührs’ Laden. Alles wirkt wie bei einem gläu­bi­gen Bud­dhis­ten zu Gast – der Lührs nach ei­ge­nen An­ga­ben nicht ist. Er sei ur­sprüng­lich streng christ­lich er­zo­gen wor­den und habe die strik­ten Re­geln des Chris­ten­tums oft als er­drü­ckend emp­fun­den, er­zählt er. Im Ge­gen­satz dazu ge­fal­le ihm die Leich­tig­keit des Bud­dhis­mus. Lührs ver­steht die­sen nicht als Re­li­gi­on, son­dern als Le­bens­phi­lo­so­phie. Diese Leich­tig­keit, die dar­aus atme, spie­ge­le sich auch in der Tee­kul­tur und in den Mö­beln im Stil der Ming-Dy­nas­tie wie­der. Aus die­ser Per­spek­ti­ve be­trach­tet wäre Lührs’ Laden sehr har­mo­nisch.

Text und Foto: Siqi Duan & Wei Zheng

TRITT INS LEERE

#25 ZIEGENMARKT – Ein Zei­chen für den ers­ten Sex, für Mord und Tot­schlag oder ein­fach für nichts? Eine Suche nach der Wahr­heit über die Schu­he an der Leine

Schuhe baumeln am Kabel einer Straßenlaterne über einer Kreuzung
Nach Hause geht’s barfuß

„Viel­leicht ist es ja auch ein­fach eine Fies­heit unter ver­fein­de­ten Schü­lern und so“, ver­mu­tet das Mäd­chen. „Also, man klaut einem die Schu­he und wirft sie hoch, dass sie hän­gen blei­ben, und sagt: ‚Hol sie dir!‘“ Neun sind es an der Zahl. Sport­li­che Ver­sio­nen, an den Schnür­sen­keln zu­sam­men­ge­bun­den, immer paar­wei­se. Man muss den Kopf schon ziem­lich in den Na­cken legen, um sie zu sehen. Sie hän­gen un­term Bre­mer Him­mel, ge­nau­er: über dem Draht­seil, an dem auch die Stra­ßen­la­ter­ne hoch über der Kreu­zung be­fes­tigt ist. Und nicht nur hier. „Shoefi­ti“, zu­sam­men­ge­setzt aus den eng­li­schen Wör­tern „shoe“ und „graf­fi­ti“. Wie auch Graf­fi­ti und „Urban Knit­ting“, das Um­hä­keln von Park­pol­lern, Mas­ten und an­de­rem, ist die Schuh­in­stal­la­ti­on eine Form, in den öf­fent­li­chen Raum ge­stal­tend ein­zu­grei­fen – Gue­ril­lakunst also. Unter In­si­dern gilt schon das Wer­fen an sich, im Fach­jar­gon „Shoetos­sing“ ge­nannt, als Per­for­mance. Dass Schu­he an Ka­beln, Bäu­men, Am­peln und La­ter­nen bau­meln, ist längst ein welt­wei­tes Phä­no­men.

Die Kreu­zung auf der Frie­sen­stra­ße ist wenig be­fah­ren. Ab und an kom­men Pas­san­ten vor­bei, we­ni­ger schlen­dernd als mit einem si­che­ren Ziel. Sie wir­ken ge­schäf­tig und die Frage nach den Schu­hen da oben über ihnen und was es damit auf sich hat, ir­ri­tiert sie. „Viel­leicht waren sie alt und je­mand woll­te nur sei­nen Müll los­wer­den“, ver­mu­tet ein Mann um die 40, die le­der­ne Ak­ten­ta­sche un­term Arm; dann eilt er wei­ter Rich­tung In­nen­stadt. Le­der­schu­he, wie er sie trägt, ge­hö­ren bis­her nicht zum Re­per­toire der hän­gen­den neun. Mög­li­cher­wei­se habe es etwas mit Ban­den zu tun, die ihr Re­vier mar­kie­ren, ver­mu­ten an­de­re. Oder: „Hei­mat­lo­se, die hier woh­nen.“ Wobei ei­ni­ge der Schu­he noch fast un­ge­tra­gen aus­se­hen. „Even­tu­ell sind die Be­sit­zer auch tot, blei­ben so aber in Er­in­ne­rung.“

So­li-Ak­ti­on für Kurz­kriegs­hel­den

Auf den Stu­fen der Eck­knei­pe sitzt einer mit sei­nem Nach­mit­tags­bier, ge­dan­ken­ver­lo­ren. Seine ka­mel­brau­ne Jacke, die lange Hose, die Mütze und die Woll­so­cken in sei­nen Turn­schu­hen sind viel zu warm für die spä­ten Son­nen­strah­len des Tages. Er folgt dem Blick nach oben und ver­zieht keine Miene. Mehr als die Schu­he selbst ver­wun­dert ihn das In­ter­es­se an dem Phä­no­men. Die Frage hat er er­war­tet. Mit einer Ant­wort je­doch lässt er sich Zeit, zün­det sich erst ein­mal eine Zi­ga­ret­te an. Sehr leise, mit be­leg­ter Stim­me, sagt er dann, dass er nichts dar­über wisse, außer dass es ein Trend aus Ame­ri­ka sei. Das je­den­falls er­zähl­ten die Me­di­en. Er ist schon sehr lange re­gel­mä­ßi­ger Gast im „Hor­ner Eck“, sitzt immer hier, mit Blick auf die Kreu­zung. Seit wann die Schu­he dort oben hän­gen, kann er al­ler­dings auch nicht sagen. „Ir­gend­wann waren sie ein­fach da.“

„Even­tu­ell sind die Be­sit­zer tot, blei­ben so aber in Er­in­ne­rung“, ver­mu­tet einer

Er rät, den Wirt zu be­fra­gen. Der schießt ge­ra­de mit vol­lem Ta­blett nach drau­ßen. Am Tre­sen ist noch ein Platz frei. Es ist recht dun­kel hier drin­nen und von allen Sei­ten blickt, neben ei­ni­gen an­de­ren be­kann­ten Ge­sich­tern, Frank Zappa von den Wän­den, in den ver­rück­tes­ten Posen. Man­che der Bil­der sind hand­si­gniert. Auf sei­nem Rück­weg hin­ter den Tre­sen schnackt der Wirt kurz mit ei­ni­gen Stamm­gäs­ten. Mich be­ach­tet er nicht.

Ich be­stel­le ein Bier und schie­be mein An­lie­gen di­rekt hin­ter­her: Was hat es mit den Schu­hen da drau­ßen an der Leine auf sich? Die stren­ge Miene des Alt-68ers mit weiß-grau me­lier­tem Pfer­de­schwanz, Hut und run­der Bril­le er­hellt sich. Er be­ginnt di­rekt vol­ler Be­geis­te­rung von dem US-Film „Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund we­delt“ zu er­zäh­len. „Ein Klas­si­ker mit den ganz Gro­ßen – den muss man doch ken­nen!“ Die Schu­he da drau­ßen hät­ten „auf jeden Fall“ damit zu tun, ist er über­zeugt. In dem Film von Barry Le­vin­son aus dem Jahr 1997 geht es um Ge­rüch­te, die Ma­ni­pu­la­ti­on von Me­di­en und Scharf­ma­che­rei im US- Prä­si­den­ten­wahl­kampf. Um einen Skan­dal um den Prä­si­den­ten zu ver­tu­schen, in­sze­niert einer sei­ner Be­ra­ter einen fik­ti­ven Kurz­krieg gegen Al­ba­ni­en und er­fin­det einen Hel­den. Die­ser Wil­li­am Schu­mann alias „Old Shoe“ bleibt am Ende des Krie­ges an­geb­lich als Ge­fan­ge­ner hin­ter den feind­li­chen Li­ni­en zu­rück. Die US-Be­völ­ke­rung setzt sich dar­auf­hin für eine Be­frei­ungs­ak­ti­on ein und hängt als Zei­chen der An­teil­nah­me alte Schu­he an Bäu­men und Strom­mas­ten auf. „Eine echt coole Story“, wie­der­holt der Wirt und zapft dabei blind ein Bier nach dem an­de­ren. „Des­we­gen, denke ich, hin­gen die ers­ten Schu­he hier. Das war wohl die In­spi­ra­ti­on durch den Film. Also im Prin­zip nur aus Jux – ohne eine ei­ge­ne Ideo­lo­gie. Und an­de­re Schu­he kamen dann ganz ohne Grund hinzu.“

Die neugierigen Blicke auf die Schuhgirlande

Auch die drei Män­ner, die drau­ßen an dem Tisch di­rekt neben der Schuh­gir­lan­de ge­müt­lich bei Wei­zen­bier und gutem Essen zu­sam­men­sit­zen, ver­mu­ten nicht viel hin­ter dem Schuh-Trend. Sie be­mer­ken die Fuß­be­klei­dung über ihren Köp­fen auch erst jetzt. „Ja, stimmt, die hän­gen ja in­zwi­schen über­all.“ – „In der Zei­tung hat letz­tens davon mal was ge­stan­den in Ver­bin­dung mit dem Viet­nam­krieg“, er­in­nert sich der mit der Glat­ze, den seine Tisch­nach­barn als „Herr Pro­fes­sor“ vor­stel­len, kau­end. Sie seien als eine Art Grab­denk­mal be­schrie­ben wor­den. Die Tre­ter hier seien aber wohl eher ein Scherz, fügt er noch hinzu, bevor der nächs­te Bis­sen in sei­nem Mund lan­det: „Von ‚Splas­hern‘, die zu viel Geld haben.“ Sein jün­ge­rer Kol­le­ge tippt auf Kin­der, eine be­son­de­re Idee ste­cke nicht da­hin­ter: „Ich habe mal einen be­ob­ach­tet, der war kaum 1,60 groß.“ Dem­entspre­chend lange habe es ge­dau­ert, bis das Schuh­paar oben ge­blie­ben sei. Das Wer­fen habe be­stimmt sei­nen Reiz. „Man hat ja keine Lei­ter oder so.“ Für man­che sei das si­cher eine Art Sport. Die ei­gent­lich in­ter­es­san­te Frage aber sei doch, wirft er la­chend ein: „Bringt man die Schu­he extra mit oder geht man dann bar­fuß heim?“ Ein­stim­mi­ges Ge­läch­ter. Der Herr Pro­fes­sor er­gänzt, es sei eine Mode. „Wie die hän­gen­den Hosen: Die kamen ja auch von ir­gend­wo­her und dann hat­ten sie plötz­lich nichts mehr mit Knast und so zu tun.“

Fuß­ab­drü­cke hin­ter­las­sen

Es liege in der Natur des Men­schen, der Be­deu­tungs­lo­sig­keit des Le­bens etwas ent­ge­gen­stel­len und Fuß­ab­drü­cke hin­ter­las­sen zu wol­len, er­klä­ren Psy­cho­lo­gen, Zei­chen zu set­zen, selbst wenn nie­mand wisse, wofür. Es gibt ganze In­ter­net­fo­ren, die sich mit dem Schuh-Phä­no­men be­schäf­ti­gen, und Filme, die ihm nach­ge­hen. Die Ur­sprün­ge lie­gen dem­nach in den USA und in Schott­land. In den USA ste­hen die Luft-Tre­ter vor allem mit Ban­den­kri­mi­na­li­tät in Ver­bin­dung, die­nen als Re­vier­mar­kie­rung und er­in­nern an To­des­op­fer. In Schott­land ist der Brauch an­geb­lich noch älter und ein stol­zes Zei­chen für den ers­ten Sex. Im Stein­tor-Vier­tel tippt die Freun­din des Mäd­chens, das einen bösen Streich unter Mit­schü­lern ver­mu­tet, eher auf eine Mut­pro­be. Die Auf­ga­be be­ste­he darin, die Schu­he wie­der run­ter zu holen. Aber, wen­det sie dann selbst ein: „Dabei kann man si­cher leicht kre­pie­ren.“

„Ge­fähr­lich? Quatsch!“, kom­men­tiert der Wirt spöt­tisch und si­gna­li­siert mit einer Hand­be­we­gung, wie be­schränkt er diese An­nah­me fin­det. „Wer will denn da oben dran­kom­men?“ Au­ßer­dem hin­gen diese neun Schuh­paa­re nun schon eine ganze Weile dort. Wie lange genau, weiß er aber auch nicht. Die hän­gen­den Schu­he küm­mer­ten of­fen­sicht­lich nie­mand. „Mögen oder nicht mögen? Ich habe keine Mei­nung dazu“, sagt er schließ­lich. „Ohne die Schu­he wäre es ja auch nicht schö­ner.“

Die Frage ist doch: Bringt man die Schu­he extra mit oder geht man dann bar­fuß heim?

Er­fah­re man von Schu­hen, die an Ka­beln oder Lei­tun­gen hin­gen, heißt es bei der SWB, so prüfe man, ob da­durch Schä­den ent­stan­den seien oder eine Ge­fähr­dung von Leib und Leben vor­lie­ge. Ge­ge­be­nen­falls wür­den Mit­ar­bei­ter die Tre­ter dann ent­fer­nen. Die Bre­mer Po­li­zei teilt mit, dass das Wer­fen von Schu­hen auf Kabel, Am­peln oder Bäume nach dem Kreis­lauf­wirt­schafts- und Ab­fall­ge­setz als Ord­nungs­wid­rig­keit gelte; es drohe ein Ver­war­nungs­geld von 35 Euro. Ob die hän­gen­den Schu­he dar­über hin­aus eine Ge­fähr­dung dar­stell­ten, müsse je­weils im Ein­zel­fall ge­prüft wer­den; zu­stän­dig sei in ers­ter Linie das Stadt­amt.

Die Turn­schu­he der jun­gen, groß ge­wach­se­nen Frau, die mit ihrem Hund ge­ra­de die Kreu­zung am Hor­ner Eck über­que­ren möch­te, sehen einem der Schuh­paa­re, die hoch über ihr bau­meln, sehr ähn­lich: „Chucks“ der Marke „Con­ver­se“. Weiß sie viel­leicht, was es mit dem omi­nö­sen Luft­schmuck auf sich hat? „Das ist so, wie ir­gend­was an die Häu­ser sprü­hen oder wie die­ses Hä­keln, glau­be ich“, sagt sie, und dass es wohl aus den USA komme. „Aber genau ver­ste­he ich das auch nicht.“ Sie lä­chelt ent­schul­di­gend.

Text und Foto: Tinka Lehn.