#32 GETEVIERTEL – Christoph Kendel ist Lehrer an der Blindenschule im Geteviertel. Täglich unterstützt er Kinder mit Sehbehinderung dabei, ihren Schulalltag zu meistern.
Brille mit schwarzem Rahmen, braunes Hemd, darüber eine knallgelbe Warnweste – Christoph Kendel steht mitten auf dem Schulhof. Er hat Pausenaufsicht. Die gelbe Weste gibt den sehbehinderten Schülern Orientierung, hilft ihnen, ihren Lehrer besser wahrzunehmen und sofort zu wissen, wo er ist. Langsam tritt Kendel vom einen Bein auf das andere. Um ihn herum toben Kinder, spielen mit einem alten, etwas zerknautschten Ball Fußball. Von der Rutsche her hört man Geschrei – wie auf jedem anderen Schulhof. Und doch ist die Georg-Droste-Schule, zu der der Schulhof gehört, etwas Besonderes.
Das Klettergerüst, die Torwand, das hellgelbe Gebäude. All das gehört zu dem Förderzentrum für Sehen und visuelle Wahrnehmung im Geteviertel. Christoph Kendel unterrichtet hier seit neun Jahren. Während er zum Eingang des Schulgebäudes geht, hat er trotzdem ein breites Lächeln im Gesicht. Er scheint motiviert. „Hallo Herr Kendel!“, grüßen die Schüler ihn. Kendel streckt die Hand aus, ein Junge schüttelt sie, grinst dabei. Christoph Kendel ist 41 Jahre alt und kam als Referendar zu der Blindenschule. „Als einer von drei Männern im Kollegium war ich sehr begehrt“, erinnert er sich und lacht. Seine Arbeit machte ihm schon damals Spaß. „Durch den Zivildienst bin ich darauf gekommen, Sonderpädagogik zu studieren. Ich fand das spannend“, sagt er. Und so ist Kendel nach dem Referendariat an der Schule geblieben, die in der Umgebung das einzige Förderzentrum im Bereich Sehen ist. Christoph Kendel unterrichtet Musik, Deutsch und Naturwissenschaften. Momentan ist er Klassenlehrer einer kombinierten Klasse aus Neunt- und Zehntklässlern. „Besonders aufregend!“, findet Kendel, denn er ist gespannt, wie es nach ihrem Abschluss mit den Schülern weitergeht.
Doch nicht nur mit den älteren Schülern kommt Kendel gut klar: „Möchtest du einen Vorschlag von mir, was du machen kannst, oder möchtest du dir selbst etwas überlegen?“, fragt er ruhig. Der kleine Junge, der zu ihm gekommen ist, schmollt. Er ist richtig sauer. „Die haben mich von der Rutsche geschubst!“ – „Es ist hier genau wie woanders auch“, sagt Kendel mit einem Seitenblick zu dem kleinen Jungen, während er den alten Fußball zurück zu einer Gruppe älterer Kinder kickt.
„In der Regel machen die Schüler maximal einen mittleren Bildungsabschluss“, sagt Christoph Kendel. „Doch dann gibt es alle Möglichkeiten: Vom normalen Weg über den ersten Arbeitsmarkt bis hin zu Unterstützungssystemen und speziellen Berufsbildungswerken“, macht Kendel die Optionen der Schüler deutlich. Wollen sie das Abitur machen, müssten die Jugendlichen entweder ans Gymnasium nach Marburg wechseln oder an einer Regelschule inklusiv betreut werden.
Sie haben zahlreiche Möglichkeiten und doch haben die Schüler der Georg-Droste-Schule eine Schwierigkeit mehr zu meistern als andere Kinder. Eine Sehbehinderung zu haben, das bedeutet nicht, komplett blind zu sein, aber die Schüler leiden unter einer dauerhaften Einschränkung der Sehkraft. Ihre Sehschärfe ist reduziert. Sie nehmen ihre Umgebung anders wahr – anders als Christoph Kendel. Trotzdem sind er – und die anderen Lehrer – es, die ihnen beibringen sollen, mit dieser Einschränkung umzugehen. „LPF – Lebenspraktische Fähigkeiten, das ist Teil unseres Schulprogramms“, erklärt Kendel. So lernen besonders die Grundschulkinder beispielsweise einen Reißverschluss zuzumachen, sich in der Küche zurechtzufinden und Brote zu schmieren. Kendel soll seinen Schützlingen beibringen, wie sie sich im Alltag zurechtfinden, wie sie ihren Schulabschluss meistern und sich aufs Berufsleben vorbereiten. Aber kann er sich überhaupt vorstellen, wie die Kinder ihre Umwelt erleben?
In Selbsterfahrungskursen hat Kendel gelernt, die Situation seiner Schüler besser nachempfinden zu können. „Bei der Fortbildung mussten wir eine Augenbinde tragen und eine Simulationsbrille aufsetzen – wie Milchglas kann man sich das vorstellen“, sagt er. Ohne zu sehen habe er dann versucht, bestimmte Tätigkeiten auszuüben. „Es geht vor allem darum Raumgrößen einzuschätzen, sich im Raum zu orientieren oder zum Beispiel mit der Augenbinde zu essen. Man stellt sich die Frage, was mit der eigenen Wahrnehmung passiert. Beim Sportunterricht fragt man sich beim zum Beispiel ,Trau ich mich, von dem Balken zu springen?’“ Kendel hat all das in Fortbildungen ausprobiert. „Meine Arbeit ist Diagnostik und Beobachtung“, sagt er und fügt hinzu: „Sich wirklich in die Kinder hineinzuversetzen, ist schwierig.“
„Wir üben heute Stimmbildung und mehrstimmig singen.“ Kendel bittet seine Schüler aufzustehen. Musikunterricht ist angesagt. „Streckt euch!“ Gemeinsam wärmt die Gruppe sich auf, schüttelt Beine und Arme aus. Kendel tut so, als beiße er in einen großen Apfel, um die Gesichtsmuskeln zu lockern. Als er mit seinen Lippen das Geräusch eines Motorrads nachmacht, müssen die Schüler lachen. Christoph Kendel nimmt seine Gitarre und stimmt eine Melodie an. Gemeinsam beginnt die Gruppe das Lied „Ain’t nobody loves me better“ zu singen. Einer der Jungs begleitet den Gesang auf dem Xylophon, das hinten im Raum steht. Kendel erklärt ihm genau, welche Töne er spielen muss, nimmt einige Klangstäbe heraus, um die Aufgabe zu erleichtern. Er stellt sich neben den Jungen, zeigt ihm genau, wie er seine Hände führen muss. „Ganz toll!“, ermutigt er die Gruppe.
Inzwischen haben alle Kinder im Stuhlkreis Platz genommen. Elf Mädchen und Jungen warten nun darauf, dass der Unterricht beginnt. „Was ist mit den anderen?“ fragt Herr Kendel. „Ach Daniel hat Punktschrift. Dann können wir ja beginnen.“
Später erklärt Kendel, dass die Schüler zwar immer noch die Blindenschrift lernen, deren Verwendung sich aber massiv verändert habe, seit Sprachprogramme den Schülern den Umgang mit dem Computer ermöglichen. Als Lehrer müsse er heute nicht mehr alle Texte erst transkribieren, bevor er sie korrigiert. Das erledige der Computer für ihn.
An Spaß scheint es den Achtklässlern, die fröhlich mitsingen, nicht zu fehlen. Die meisten von ihnen tragen eine Brille. Komplett blind ist keines der Kinder, aber das Lesen beispielsweise fällt ihnen schwer. „Es geht um Nachteilsausgleich“, sagt Kendel. „Wir wollen die Arbeitsumgebung für die Schüler so gestalten, dass die Nachteile, die sie durch ihre Behinderung haben, bestmöglich minimiert werden.“ Dazu gebe es verschiedene Möglichkeiten wie zum Beispiel Zeitzugaben bei Klausuren, entsprechende Beleuchtung in den Klassenräumen und die Verwendung von Hilfsmitteln wie Lupen oder dem Bildschirmlesegerät.
Kendel weiß, worauf es außerdem ankommt. „Wenn ich Sie mit verbundenen Augen in die Schulküche führe, haben Sie keine Ahnung, wie groß sie ist. Dann müssen Sie andere Strategien erlernen, um von der Tür zum Kühlschrank zu kommen.“ Ordnung sei daher für die Kinder mit Sehbehinderung sehr wichtig.
Christoph Kendel sorgt dafür, dass diese Ordnung eingehalten wird. Er hält die Gruppe zusammen, ist im Musikunterricht der Dirigent. Wenn nötig, hat Kendel auch mal ein strenges Wort über. Er sorgt dafür, dass die Kinder gefördert werden und dass das anders Sein die Normalität des Schulalltags nicht beeinträchtigt. „Mir gefällt an meinem Job, dass ich individuell gucken kann, was meine Schüler brauchen“, sagt er. „Und dass ich dafür entsprechend Zeit und Ressourcen habe. Man hat das Gefühl, dass das, was man tut, eine Auswirkung hat.“
Text und Foto: Milena Pieper