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„SIE NANNTEN MICH MILCH-KOTHE“

Michael Kothe sitzt in seinem Wohnzimmer

#85 UPPER BORG – Diedrich Kothe kannte Upper Borg schon, als die Straße nur ein Schlackenweg war und für den Bundespräsidenten schnell ausgebessert wurde

„Ich bin jetzt 87 und wohne seit 70 Jahren hier in diesem Haus, aber aufgewachsen bin ich in Oberneuland. ‚Auf der alten Weide‘ lebte ich mit meinen Eltern, meinen drei Geschwistern und meinen Großeltern in einem strohgedeckten Bauernhof unter einem Dach mit Kühen und Pferden. Mein Großvater holte immer die Milch von den Bauern, um sie zur Molkerei zu bringen. Mein Vater übernahm dieses Geschäft , anfangs noch mit dem Pferdefuhrwerk. Als er nach dem Krieg dringend einen neuen Lastwagen benötigte, ging er zu Wilhelm Kaisen, der ja in unserer Straße wohnte. Man kannte sich unter Landwirten – obwohl Kaisen mittlerweile Bürgermeister war. Er besorgte uns dann einen Bezugsschein für einen Dreitonner.

Nach der Volksschule machte ich eine Kfz-Lehre in Hastedt und arbeitete dort ein Jahr als Geselle – für 1,04 Mark Stundenlohn. Eines Tages fragte mich mein Vater, ob ich nicht bei ihm einsteigen wolle. ‚Allein schaffe ich das nicht mehr‘, sagte er. Auch wenn mein Chef mich nicht gehen lassen wollte: Mein Vater ging vor. Er schaffte sich einen zweiten Lastwagen an und stellte mich ein. Meinen Führerschein habe ich mit 17 gemacht, ich durfte aber nur Firmenfahrzeuge fahren. Auch bei Kaisen hab ich die Milch abgefahren. Sein Sohn Franz – der war unverheiratet – kümmerte sich um die Landwirtschaft , wenn der Vater im Senat saß.

1951 zogen wir um nach Upper Borg. Ein Trödler hatte uns erzählt, dass in Borgfeld eine Siedlerstelle mit Nebenerwerbslandwirtschaft zur Pacht ausgeschrieben war. Diese Häuser waren alle im gleichen Stil gebaut: unten massiv aus Stein und oben aus Holz. Vorn ein Kuhstall, zwei Schweinekoben und hinten der Wohntrakt mit Küche, Waschküche, Schlafzimmer und Wohnzimmer. Dieses hier ist auch noch so ein Haus, aber natürlich komplett saniert. Vom Urzustand ist nicht mehr viel zu erkennen.

In den Fünfzigern war Upper Borg ja noch keine befestigte Straße, sondern ein Schlackenweg mit vielen Schlaglöchern. Es gab hier damals eine Wege-Genossenschaft , gegründet von Bürgermeister Kaisen: Alle Anlieger mussten einen Obolus zur Instandhaltung entrichten. Mein Beitrag war es, den zerkleinerten Bombenschutt von einer Halde zu holen. Sonntagmorgens standen dann alle mit Schaufel und Spaten bereit, um den Schutt zu verteilen und damit die Schlaglöcher zu füllen. Einmal kündigte sich Theodor Heuss, der damalige Bundespräsident, zu Besuch bei Kaisen an. Ende der Fünfzigerjahre war das wohl. Da mussten vorher die Löcher ausgebessert werden, damit der Bundespräsident den Bürgermeister besuchen konnte. Und dann haben sie sich im Kuhstall seine Kühe und Ochsen beguckt. Auch die Neue Vahr wurde ja in den Fünfzigern gebaut, mit Geschäften, die alle morgens mit Milch versorgt werden wollten. Da mussten wir nachts ausliefern. In einem der Hochhäuser stellten wir die Kannen nur eben auf den Fliesenfußboden ab – hey, der Schall ging bis obenhin. Die Leute beschwerten sich, aber die Polizisten sagten bloß: Wo kommt ihr so spät her? Wir brauchen unsere Frühstücksmilch!

Im Dorf nannten sie mich nur Milch-Kothe. Nach dem Tod meines Vaters 1971 habe ich das Geschäft übernommen. Mit fünf Angestellten. Es war damals gar nicht so einfach, gute Arbeitskräfte zu bekommen. Alle wollten im Öffentlichen Dienst oder in großen Konzernen arbeiten. Ende der Siebziger gab es diesen Schneewinter und wir kamen mit unseren Fahrzeugen nirgends auf den Hof. Da kamen dann Bundeswehrpanzer, um für uns den Weg freizumachen und uns durch den Schnee zu ziehen. Weil wir mehrere Tage die Milch nicht abholen konnten, hatte einer der Bauern auf seinem Hof eine große Mulde in den Schnee gemacht und die Milch dort reingekippt. Alles, was nicht gefroren war, konnte ich absaugen. Zu Spitzenzeiten haben wir 125.000 Liter pro Tag transportiert. Pro gefahrenem Liter Milch gab es 0,75 Pfennig, je nach Entfernung etwas mehr. Als ich in Rente ging, habe ich den gesamten Betrieb verkauft , so wurde niemand auf die Straße gesetzt. Daher habe ich noch heute zu allen ein gutes Verhältnis.

An was ich mich noch gerne erinnere, ist die wundervolle Nachbarschaft hier. Es gab einen Kohlenhändler, da wurde jeden Sommer eine Fete gemacht. Alle kamen zusammen, es gab Musik, es wurde gegrillt, das war immer herrlich. Wenn eine Hochzeit war, kamen immer alle zu uns. Dann wurde bei uns in der Garage der Kranz gebunden. Meine Frau – sie ist vergangenen April gestorben – hab ich damals beim Tanzen kennengelernt, sie wohnte am Hollerdeich. Die Eltern hatten auch Landwirtschaft , aber da sie in Bremen arbeitete, habe ich sie öfter mitgenommen im Lastwagen. Geheiratet haben wir 1959. Vor dem Haus hatten wir damals aus Lkw-Planen Zelte aufgebaut. Als wir in der Kirche waren, gab es einen heftigen Gewitterschauer – als wir wieder zu Hause ankamen, sahen wir: Die ganzen Suppenteller waren voll Regenwasser. Die mussten wir erst mal ausleeren, bevor wir unsere Hochzeitssuppe essen konnten.

Heute ist Upper Borg ja eine Durchgangsstraße geworden, seitdem am Langen Jammer immer Stau ist. Alle aus Oberneuland und alle die zu Mercedes wollen, fahren hier durch. Wir haben damals, als die Linie 4 gebaut wurde, ungefähr 20 Jahre ist das her, eine Initiative gegründet, ich war der Sprecher. Wir wollten durchsetzen, dass der Straßenanschluss in Lilienthal durch das Hollerland an den Autobahnzubringer herangeführt wird. Aber wir sind gescheitert. Die haben die Straße hier sogar noch verengt, in der Hoffnung, die Leute steigen um in die Bahn. Jetzt haben wir hier den ganzen Schleichverkehr. Da hat sich Bremen eine schöne Fehlplanung geleistet!“

Text: Lisa Schwarzlen
Fotos: Beate C. Köhler