Jahr: 2015

Zynischer Kontrast: I love Bremen

DAS MÜSSEN WIR HINKRIEGEN – FÜR ALLE!

Gastbeitrag von Hinz&Kunzt, Hamburg: Freunde fragen mich manchmal, ob es mich frustriert, wenn sie oder andere sich jetzt intensiv für Flüchtlinge engagieren – und die Obdachlosen so ins Hintertreffen geraten. Nein, dass sich so viele um die Neuankömmlinge kümmern und offen für sie sind, finde ich richtig toll. Das macht mir Mut für die Zukunft. Das geht übrigens nicht nur mir so, sondern auch anderen in unserem Team von Hinz&Kunzt. Ein Kollege ist ganz aktiv als Flüchtlingshelfer, auch viele Obdachlose und Ex-Obdachlose engagieren sich. Und die Obdachlosen sind dadurch nicht ins Hintertreffen geraten. Sie waren es schon, bevor die Flüchtlinge kamen. Nur wird jetzt erst so richtig deutlich, was alles möglich ist, wenn eine ganze Stadt sich anstrengt. Hamburg hat, wie Bremen viele Tausende Menschen untergebracht. Mehr schlecht als recht, aber immerhin. Politiker, Behördenmitarbeiter, Mitarbeiter der Unterkünfte, Freiwillige – sie arbeiten bis an den Rand der Erschöpfung. Diese Meisterleistung unserer Städte begeistert mich. Und machen mich gleichzeitig ein bisschen neidisch. Warum wird das Thema Obdachlosigkeit nicht mit derselben Power angepackt? Ich komme mir schon vor …

ABSCHIED NEHMEN AM 22. NOVEMBER

Wenn obdachlose Menschen sterben, werden sie meist anonym bestattet, den genauen Ort kennen nur die Behörden. So war es lange Zeit auch in Bremen, bis der Verein für Innere Mission vor drei Jahren eine Urnengrabstätte auf dem Waller Friedhof eingerichtet hat (Foto). Hier werden Menschen, die weder ein Obdach noch Angehörige hatten, würdevoll bestattet. Ihre Namen sind auf steinernen Büchern verewigt, die zu beiden Seiten des Grabsteins stehen. „Solch ein Begräbnis verleiht dem Tod der Wohnungslosen eine Würde, die sie im Leben oft genug nicht erfahren durften“, sagt Bertold Reetz, Leiter der Wohnungslosenhilfe des Vereins. Finanziert werden konnte die Grabstätte durch private Spenden und mithilfe der Stadt. Am Sonntag, 22. November 2015, wird in einem Gottesdienst an die Verstorbenen erinnert. Zu der jährlich stattfindenden Veranstaltung werden rund 130 Gäste erwartet, darunter Freunde und Bekannte der Verstorbenen. Aber auch interessierte Bürger, die die Verstorbenen würdigen möchten, sind zu der Feier herzlich eingeladen. Die Predigt wird Pastor Jürgen Mann halten, der als Seelsorger der Inneren Mission viele wohnungslose Menschen in Bremen persönlich kennt. Gottesdienst zum Gedenken an …

VerkäuferInnen der Zeitschrift der Straße

KAUFEN STATT ALMOSEN GEBEN

Viele Bremerinnen und Bremer kennen inzwischen die Zeitschrift der Straße. Und wer eine Ausgabe durchgeblättert und gelesen hat, der weiß: Es lohnt sich. Unser Magazin bietet ungewöhnliche Einblicke in diese Stadt und Geschichten von Menschen, über die sonst niemand schreibt. Dennoch passiert es immer wieder, dass Passanten unseren Verkäufern keine Zeitung abkaufen, sondern ihnen einfach eine Münze zustecken. Das mag nett gemeint sein, doch es degradiert unsere Kollegen auf der Straße (sicherlich ungewollt) zu Almosenempfängern. Wir vom Projekt Zeitschrift der Straße wollen eine Alternative zum „Schnorren“ schaffen. Wir wollen, dass bedürftige Menschen selbstbewusst ein publizistisches Qualitätsprodukt anbieten und so positive Begegnungen, Gespräche und Erfahrungen entstehen. Und zwar auf Augenhöhe. Zehntausende Exemplare der Zeitschrift der Straße wurden bereits verkauft, Zehntausende Kontakte geschaffen zwischen besser situierten und häufig ausgegrenzten Menschen. Deshalb appellieren wir an Sie, liebe Leserinnen und Leser: Statt Almosen zu geben, kaufen sie weiterhin die neuesten Ausgaben bei unseren Verkäufern. Wenn Sie ihnen ansonsten etwas Gutes tun wollen, dann helfen Sie mit der wirksamsten Werbung der Welt: Erzählen Sie in Ihrem Freundes- und Bekanntenkreis von …

DIGITALE KARTOGRAFEN

#33 FALKENSTRASSE – Eine bunte Gruppe von Hackern arbeitet an einer besseren Weltkarte   Hackerspace. Das klingt nach einem vertrackt zwielichtigen Hinterzimmer. Und ist doch das Gegenteil: ein Ort, an dem getüftelt, verändert und erarbeitet wird – offen in jeglicher Hinsicht. Der Hackerspace Bremen wurde Ende 2011 als Verein gegründet. Er hat 53 Mitglieder und doppelt so viele Aktive. Nerds im besten Sinne: Technikbegeisterte jeden Alters, Informatiker, Elektroniker und Bastler. Sie treffen sich in sogenannten Usergroups und gehen gemeinsamen Hobbys in Kreativwerkstätten und Workshopräumen nach. Wichtigstes Mitglied – so hört man – sei der Grill. Der laufe eigentlich immer. Beim Betreten des Hinterhofs in der Bornstraße liegt allerdings ein anderer Geruch in der Luft. Von einem Lasercutter ziehen beißende Dämpfe herüber. Anfang des Jahres hat eine Teespedition auf der anderen Hofseite zusätzliche Räume zur Verfügung gestellt. Hier wird gelötet, geätzt und in 3D gedruckt. Aber auch geruchsneutral mit der Stickmaschine und einem Plotter an großflächigen Plakaten gearbeitet. Eine der Usergroups, die monatlich Platz, Infrastruktur und Technik des Hackerspace nutzt, ist die OpenStreetMap-Gruppe (OSM). Früher trafen …

#33 FALKENSTRASSE

EDITORIAL: DOCH KEIN UNORT Jeder kennt diese Orte, die merkwürdig kühl wirken, durch die wir nur hindurchfahren, wo wir nicht zu verweilen wünschen; Orte, denen es (scheinbar) an Geschichte und Identität mangelt, an denen die Menschen gruß- und sprachlos aneinander vorübergehen. Der Anthropologe Marc Augé bezeichnet sie als Nicht- oder Unorte. Viele kennen die Falkenstraße, die kühl wirkt mit ihren breiten Fahrspuren, Parkbuchten und doppelten Straßenbahnschienen; durch die hindurch muss, wer von Findorff in die Altstadt will oder vom Hauptbahnhof nach Walle; wo nach dem Krieg kein Haus mehr stand und heute die Effizienz von Klinker und Beton dominiert. Ein klassischer Unort? In dem ehemaligen Bundeswehrhochhaus hatte das Kreiswehrersatzamt (was für ein Wort!) seinen Sitz, wo Tausende junger Männer zur Musterung antreten mussten (Seite 12). Heute sind hier Flüchtlinge untergebracht. Auch sie nur auf der Durchreise, aber die Falkenstraße dürfte für sie der Ausgangspunkt eines neuen Lebens in Sicherheit sein. In unserer Fotostrecke stellen wir einige der zugereisten Menschen vor (S. 14). Den vermeintlichen Unort Falkenstraße kurzerhand zur geliebten Heimat gemacht hat das Ehepaar Annelotte …

UNTER BLINDEN

#32 GETEVIERTEL – Christoph Kendel ist Lehrer an der Blindenschule im Geteviertel. Täglich unterstützt er Kinder mit Sehbehinderung dabei, ihren Schulalltag zu meistern.   Brille mit schwarzem Rahmen, braunes Hemd, darüber eine knallgelbe Warnweste – Christoph Kendel steht mitten auf dem Schulhof. Er hat Pausenaufsicht. Die gelbe Weste gibt den sehbehinderten Schülern Orientierung, hilft ihnen, ihren Lehrer besser wahrzunehmen und sofort zu wissen, wo er ist. Langsam tritt Kendel vom einen Bein auf das andere. Um ihn herum toben Kinder, spielen mit einem alten, etwas zerknautschten Ball Fußball. Von der Rutsche her hört man Geschrei – wie auf jedem anderen Schulhof. Und doch ist die Georg-Droste-Schule, zu der der Schulhof gehört, etwas Besonderes. Das Klettergerüst, die Torwand, das hellgelbe Gebäude. All das gehört zu dem Förderzentrum für Sehen und visuelle Wahrnehmung im Geteviertel. Christoph Kendel unterrichtet hier seit neun Jahren. Während er zum Eingang des Schulgebäudes geht, hat er trotzdem ein breites Lächeln im Gesicht. Er scheint motiviert. „Hallo Herr Kendel!“, grüßen die Schüler ihn. Kendel streckt die Hand aus, ein Junge schüttelt sie, grinst …

KOPF KAPUTT

BISS/München: Unsere Autorin hat fünf Monate lang unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutsch unterrichtet. Ein Erfahrungsbericht   Im September 2014 war mir per E-Mail ein Notruf zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zugegangen: „Wir suchen dringend Betreuer, die irgendwie pädagogisch geschult bzw. geeignet sind.“ Da die Bayernkaserne als Erstaufnahmestelle aus allen Nähten platzte und die Plätze in den Münchner Clearingstellen für Jugendliche alle schon besetzt waren, richteten die freien Träger der bayerischen Jugendhilfe im Herbst letzten Jahres mehrere Notunterkünfte als Dependancen der Bayernkaserne ein. In einer solchen Unterkunft – einem umfunktionierten Versammlungssaal – sollten 25 männliche Jugendliche wohnen und auch in Deutsch unterrichtet werden. „Das entspricht nicht gerade dem, was wir uns unter Jugendhilfe vorstellen, aber im Moment bricht einfach alles zusammen“, hatte die Verantwortliche des freien Trägers in der E-Mail geschrieben. Bei der Sprachschule Inlingua hatte ich einen Sommer lang Deutsch als Fremdsprache unterrichtet für junge spanische Ingenieure, ehrgeizige osteuropäische Akademikerinnen, verwöhnte Austauschschüler aus den USA und den Emiraten. Gerade war ich knapp bei Kasse, und so hoffte ich, ein paar Arbeitsstunden als Deutschlehrerin für Flüchtlinge …

VERKÄUFER IM RAMPENLICHT: COLIN, BIG ISSUE

BIG ISSUE NORTH/Nordengland: Seit sechs Jahren verkauft Colin die Straßenzeitung „The Big Issue North“ in Manchester. Er ist ziemlich bekannt, was nicht zuletzt an den regelmäßigen Posts über seinen Alltag liegt, die auf der Facebook-Seite der Straßenzeitung geteilt werden. Mit Christian Lisseman spricht er über einen lokalen Film, bei dem er den Anführer einer Gang gespielt hat, wie er wieder Kontakt mit seinem Vater aufgenommen hat und wie Big Issue North ihm dabei auf geholfen hat, wieder auf die Beine zu kommen.   Warum verkaufst du das Magazin? Ich wurde obdachlos aufgrund von Familienproblemen. Seit dem Teenageralter war ich immer wieder obdachlos. Ich habe in Hostels geschlafen, aber auch auf der Straße. Ich habe 2009 angefangen, Big Issue North zu verkaufen. Zu der Zeit habe ich auf der Straße geschlafen und kam auf die Idee, mir mit dem Verkauf der Zeitung ein bisschen Geld dazu zu verdienen. Hast du Familie? Ja, habe ich. Vor einigen Jahren habe ich in einem Hostel der Heilsarmee gelebt. Dort habe ich eine Weihnachtskarte bekommen mit einem Brief darin – …

„UNGARN IST SO EIN MERKWÜRDIGES LAND“

HINZ&KUNZT/Hamburg: Mitte September reiste unser Autor Frank Keil nach Ungarn. Was ist in dem Land los, das Europa durch seinen Umgang mit Flüchtlingen schockierte? Und wie ergeht es dort den Obdachlosen? Ein Besuch auf dem Bahnhof Keleti in der Hauptstadt Budapest, wo die Flüchtlinge ankamen, und in den Obdachloseneinrichtungen der Stadt.   Budapest, Mitte September, Bahnhof Keleti. Der mondäne Ostbahnhof. Ich wusste nicht, ob ich ankommen würde. Mal hieß es, der Zugverkehr von und nach Budapest sei wegen der Flüchtlinge eingestellt; mal auch wieder nicht. Nun ist es mitten in der Nacht. Ich frage einen jungen Ungarn nach dem Weg; danach, wo laut meinem Plan mein Apartment im jüdischen Viertel liegen müsste, in dem ich eine Woche lang wohnen werde. Er zeigt geradeaus, immer geradeaus solle ich gehen. Wir schauen auf die Flüchtlinge, die unter uns auf der teils überdachten Fläche zwischen Bahnhof und Metro in Zelten oder auf Matten campieren. Vielleicht 200, 300 sind es, schätze ich. Anfang September saßen hier tagelang Tausende fest, sich selbst überlassen. Die Bilder von im Müll liegenden Frauen, …

#32 GETEVIERTEL

EDITORIAL: HINTER DEN TÜREN Wer mal Gäste hat, die nicht wissen, was ein Altbremer Haus ist, sollte mit ihnen einen Spaziergang durchs Geteviertel machen. In ganzen Straßenzügen steht dort nichts anderes als diese prächtigen Altbauten. Sehr schön, aber ein Problem für die Recherche dieser Ausgabe: Geschichten liegen hier nicht einfach auf der Straße. Das Leben im Geteviertel spielt sich eher in seinen schönen Wohnhäusern ab. Unsere Autorinnen – in diesem Heft zufälligerweise ausschließlich Frauen – mussten also etwas Geduld aufbringen und genau hinsehen, um interessante Themen zu entdecken. Wir finden, es ist ihnen gelungen: In einer Schrebergartenkolonie knüpft ein Gastronom, der eigentlich eine Szenebar im Steintorviertel aufmachen wollte, Freundschaften mit der größtenteils älteren Stammkundschaft. Es geht weniger um Sehen und Gesehenwerden, dafür oft um Männerthemen (S. 20). Im Geburtshaus Schwachhausen kämpfen Hebammen um ihre Existenz. Durch rasant steigende Versicherungsbeiträge können sie es sich kaum noch leisten, Kindern ans Licht der Welt zu verhelfen (S. 12). Finanzielle Probleme kennt man bei den Freimaurern an der Kurfürstenallee, wo sich zwei Logenhäuser direkt gegenüberstehen, nur vom Hörensagen. So …