#111 SCHARNHORSTSTRASSE. Kurz nach seinem 50. Geburtstag betrachtet unser Verkäufer Marco sein Leben. Er hat noch viel vor in den nächsten Jahren
Es ist ein regnerischer Samstagvormittag in der Findorffer Hemmstraße, eine von Marcos vielen Heimaten. Wir flüchten erst mal ins Trockene. Mit Blick auf die Martin-Luther-Kirche beginnt er über eine heiße Schokolade hinweg zu erzählen. Auf seine Geburt in Wittenberg folgt eine Kindheit im Berliner Osten: Endstation S1, Oranienburg.
Diese Zeit prägt ihn, das Leben in der DDR fühlt sich nach Gefangenschaft an. Es hat zwar alles seine Ordnung, aber Marco will wissen, was hinter der Mauer passiert. Im Geografieunterricht der fünften Klasse wird ihm eine Weltkarte gezeigt. Er bereist Hauptstädte mit dem Finger, die für ihn nur Punkte hinter der Grenze sind, welche nicht zu überwinden scheinen.
Dann endlich Neuland. Kurz vor dem Mauerfall flieht die Familie per Trabant über Österreich und Ungarn schließlich nach Bremen. Damals ist Marco siebzehn. Sein Berlinern wird schnell zum „sauberen Bremer Hochdeutsch“, Marco kommt an, aber irgendwie doch nie so ganz.
Nach dem Abitur überwältigt ihn das Lebensgefühl Post-Mauerfall: Freiheit, Grenzenlosigkeit, jung sein. Träume von Journalismus und Meeresbiologie münden in einer abgebrochenen Ausbildung. Wurzeln schlagen fällt ihm schwer, die Welt ist groß und Marco will sie sehen, nicht hier und jetzt Entscheidungen fällen, die seine Zukunft betreffen. Er lebt von Konzert zu Konzert, denkt von Winter zu Winter.
Er macht zahllose Jobs, von Gartenbau bis Sporthalle, aber nie länger als elf Monate, dann ist genug gespart, um den erstbesten Last-Minute-Urlaub zu buchen. Hauptsache, Welt reinlassen.
Marco will auf seinen Reisen die echten Menschen treffen, abseits vom Tourismus, will verstehen, wie die Gesellschaft, der Mensch funktionieren. In seinem Rhythmus zwischen Reisen und Fürs-Reisen-Arbeiten zieht es ihn nach Frankreich, Spanien, England und die Türkei. Es sind flüchtige Momente: Am zweiten Januar verkatert Schlange stehen für zwei Minuten Augenkontakt mit Mona Lisa oder den Grundstein der Sagrada Família berühren und zu fühlen, wie viel Geschichte der schon mitgemacht hat.
Marco wirkt ruhig in der Unruhe, hibbelig lebensfroh und interessiert. „Das Einzige, was mich hier hält, ist die Erdanziehungskraft“, sagt er. Manchmal beneidet er Menschen um eine Heimat, die sie schon immer hatten und immer haben werden. Für ihn ist Heimat schon lange kein Ort mehr, den hatte er nie wirklich.
Heimat sei da, „wo die Menschen sich freuen, mich zu sehen, und beim Abschied schon ans nächste Wiedersehen denken.
Heute, kurz nach seinem 50. Geburtstag, blickt er zurück und zieht Bilanz: Ihm gefällt sein Leben und er bleibt seiner Einstellung treu, aber die Flucht vor dem Ankommen, die Sehnsucht nach Ungebundenheit bleiben Dilemma und Überzeugung gleichzeitig. Frau und Kinder hätten ihm Grund gegeben, Wurzeln zu schlagen.
Die letzte gescheiterte Beziehung führte ihn in die Obdachlosigkeit. Da hat er es rausgeschafft, hat mittlerweile wieder ein Dach über dem Kopf, lebt und spart durch Zeitschriftenverkauf.
Ist er nur für sich selbst verantwortlich, fehlt ihm die Notwendigkeit, sich festzulegen. Und obwohl es klingt, als sei Bremen doch auch irgendwie eine Heimat geworden, schmiedet er fleißig Pläne für die Zukunft. Irgendwann mal zurück auf Anfang nach Wittenberg wäre cool, auch England und Irland stehen ganz oben auf der Liste. Diesen Winter aber erst mal: den Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela wandern, für die richtige Pilgerausrüstung wird schon gespart.
Text: Pia Lehnert
studiert Philosophie und Kulturwissenschaften an der Universität Bremen. In Marcos Geschichte hat sie sich teilweise selbst wiedererkannt.
Original Foto: Wolfgang Everding
hat es gefallen, dass Marco die Gehwegplatten seines täglichen „Arbeitsumfeldes“ mit künstlerischen Zeichnungen und Malerei interessant gestaltet hat.