#92 H.-H.-MEIER-ALLEE. In den Kampa-Häusern leben seit Jahrzehnten Geflüchtete immer neuer Kriege und Konflikte. Was für die Behörden eine Übergangslösung ist, nennen andere ihr Zuhause
Beim nachträglichen Zählen beginnt man doch zu staunen: 2, 3, …, 6, 7, 8, …, 17 – mehr als 20 Kinder und Jugendliche sind uns beim Besuch der „Kampa-Häuser“ begegnet. Als wir weggehen, wuseln mindestens zehn der Jüngeren auf dem kleinen Gehweg herum, sprechen uns an und sind so unbefangen neugierig und fröhlich, dass es doch noch kein Tschüss geben kann. Wie alt bist du? Und du? Kannst du von mir ein Foto machen? Von mir auch! Kann ich auch mal ein Foto machen? Und damit geht’s erst so richtig los.
Aber was sind „Kampa-Häuser“? Sie stehen am Ende der H.-H.-Meier-Allee, acht einstöckige Holzdoppelhäuser mit ausgebautem Dach, benannt nach ihrem Hersteller. Die Fertigbauten dienen als Übergangsunterkünfte. Die senatorische Sozialbehörde ließ sie Anfang der Neunzigerjahre aufstellen, als der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion die sogenannten Spätaussiedler nach Deutschland führte. Die Häuser sind stabiler als Container oder Modulbauten, günstig und schnell zu errichten.
Und obwohl sie nicht lange stehen sollten, sind sie immer noch da. Denn kurz nach ihrer ersten Nutzungsgeneration brachten die kriegerischen Balkan-Konflikte und die Auflösung Jugoslawiens viele Geflüchtete nach Bremen. Sozialbehördensprecher Bernd Schneider erklärt zur weiteren Entwicklung: „Nach zunächst rückläufigen Migrantenzahlen stiegen sie ab 2011 durch die Ereignisse in Syrien wieder an. Seitdem stiegen sie exponentiell – bis zum Höchststand 2015.“ Zahllose Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern flohen vor Kriegen, Hunger und Zerstörung nach Europa. Die Häuser wurden weiter gebraucht und ihre Standzeit verlängert.
Schauen wir uns ihre Lage in der H.-H.-Meier-Allee näher an: Längs zwischen den Bahngleisen der Linie 6 und der Kleingartenanlage „Kornblume“ liegen die Häuser am Straßenende für sich. Dort steht sonst nichts, weil das Gebiet eigentlich kein Bauland ist. Mit roten Dächern und in freundlichem Gelb, Hellblau und Weiß erinnern die Kampa-Häuser an hübsche Sommerbehausungen. Dabei sind sie winterfest und auf 95 Quadratmetern mit fünf Zimmern, Küche und Bad recht geräumig. Trockenplätze für Wäsche, kleinformatige Terrassen, ein schmaler Gartenstreifen sowie Schuppen gehören dazu. Autofreiheit ist garantiert, denn die Straße endet für Kfz noch vor der Siedlung. Und die große Fahrradmeile nach Horn verläuft auf der anderen Gleisseite. Vor den Häusern gibt es nur den schmalen Fußweg und einen Fahrradweg hinter dem Grünstreifen: ein Kinderparadies.
Wer dort vorübergehend wohnen darf, entscheidet die Sozialbehörde als Eigentümerin. Sie sucht mindestens achtköpfige Familien aus Übergangswohnheimen aus, mit deren Betreuung wiederum die Arbeiterwohlfahrt (AWO) beauftragt wird. Die Wohnerlaubnis ist befristet, zurzeit auf 24 Monate. In Ausnahmefällen verlängert die Behörde zwar, aber Bernd Schneider betont: „Nutzung so kurz wie möglich!“ Denn die Menschen sollen schnellstmöglich „normal“ wohnen, um sich besser integrieren zu können.
An diesem schwülwarmen Spätsommertag möchten wir mehr über das Wohnen dort erfahren. Aufgehängte Wäsche und ein paar Kinder verraten zunächst noch wenig über das Leben hier. Aber vorsichtiges Anklopfen öffnet Türen.
Hier leben Menschen aus verschiedensten Nationalitäten. Wir lernen drei syrische Familien kennen. Die Verständigung ist kein Problem, denn die älteren Kinder sprechen gut Deutsch und übersetzen für die Eltern, wenn es nötig wird. Wie und wo sie das gelernt haben? In der Schule, mit anderen Kindern, draußen. Zur ersten Familie gehören sechs Kinder, in den anderen beiden leben jeweils sieben Töchter und Söhne. Alle wohnen gerne in diesen Häusern, erfahren wir. Wie ist das Leben? Die Zweitälteste ihrer Familie berichtet von ihrem Schulbesuch: Sie steht früh auf, auch wenn die Nächte nicht immer ruhig sind, weil manche [Kinder von nebenan] abends lange draußen bleiben. Die Wohnung aber findet sie: „perfekt!“ Obwohl ihr Vater arbeitet und Geld verdient, wohnt die Familie noch immer hier im Kampa-Haus. Sie suchen bereits seit vier Jahren, finden aber keine andere Wohnung. „Jedes Haus hier hat viele Geschichten“, sagt die 19-jährige Shahed, das älteste von sieben Kindern der [Familie nebenan]. Bevor sie hierherkamen, lebten sie unter beengten Verhältnissen im Übergangswohnheim. Schrecklich sei es dort gewesen, ganz anders als jetzt: „Wir haben hier ein Wohlgefühl!“, sagt Shahed und strahlt. Sie steht vor dem Fachabitur. Danach möchte sie vielleicht Architektin werden, oder jedenfalls erst mal ein Praktikum in dem Bereich machen.
Das ist Welten entfernt vom knappen Bericht, den uns ihr Bruder Aziz über die Zeit zuvor gibt – vor der Zeit in Deutschland: Mit 10 Jahren schlug er sich 2015 aus der Türkei, wohin die Familie geflohen war, über Griechenland nach Deutschland durch: allein, in 15 Tagen. Sein schlimmstes Erlebnis war die furchtbare Überfahrt in einem überfüllten Gummiboot. Er kann sich erinnern, dass er unten lag und bei hohem Seegang immer wieder andere auf ihn fielen. Sein Auge wurde verletzt, aber er schaffte es. In der Bundersrepublik bekam er Hilfe. Als seine Familie zwei Jahre später nachkam, hatte Aziz so viel Deutsch gehört und gesprochen, dass er Arabisch erst wieder üben musste. Auch der heute zwölfjährige Mustafa aus der [Familie nebenan] erinnert sich noch an den Krieg und Stationen der langen Flucht. 2015 hat die Familie Syrien über die Türkei verlassen, wo sie sich drei Jahre lang aufhielt. Mustafas Oma und ein Onkel blieben dort, die anderen leben seit 2018 in Deutschland. Sein Bruder Taim ist vier Jahre alt und stolz, dass er mitt lerweile in die AWO-Kita „Singdrossel“ gehen kann. Die befindet sich in einem der Häuser und ist auch anderen Kindern zugänglich.

Hinter jeder Tür gibt es hier andere Familien- und Fluchtgeschichten zu hören.
Aber die Zeit läuft weiter: In vier Monaten sollen zwei der Familien ihre Wohnung geräumt haben. Nicht nur Mustafa träumt davon, statt dessen bald ein schönes Haus zu finden.
Das derzeit größte Problem aller Familien dort ist wohl, dass ihre Wohnfrist zwar längst abgelaufen ist, sie aber entweder keine Wohnungen finden oder sie dann nicht bekommen. Shahed erzählt, dass sie einmal sehr gerne eine Wohnung von ungefähr 94 Quadratmetern genommen hätt en. „Uns hätte das gereicht, aber die wollen uns nicht.“ Die Wohnung sei zu klein für so eine große Familie. Auch ihre [Nachbar:innen] sind unsicher, wie es weitergeht. Alle haben Angst, ins Wohnheim zurück müssen, wenn sie nichts anderes finden.
Aber wie sieht es überhaupt aus mit Wohnraum in der Stadt? Auch urbremische Familien mit vier Kindern suchen oft jahrelang. Und weil es kaum große Wohnungen gibt, steigen die Preise immer weiter. Wie sollen da erst große Migrantenfamilien etwas finden? Das ist die zentrale offene Frage zum sozialen Wohnungsbau – und zwar für alle Suchenden unabhängig von Herkunft und Geschichte. Im „Wohnungsbaukonzept Bremen 2020“ des Bausenats von 2009 heißt es programmatisch, Bremen solle bis „2020 eine grüne Stadt am Wasser mit hohen Erholungs- und Umweltqualitäten“ werden „und eine sozial gerechtere“. Es lässt sich darüber streiten, ob das erreicht ist.
Das Problem ist bei der Sozialbehörde grundsätzlich bekannt. Tatsächlich gab es ja auch immer wieder Verlängerungen, was aber naturgemäß nur eine vorübergehende Lösung sein kann. Man versucht es aber an allen möglichen Ecken und Enden: „Seit 2015 vermittelt die AWO jährlich aus sämtlichen Übergangswohnheimen und unterstützt Geflüchtete bei der Wohnraumsuche“, sagt Sprecher Bernd Schneider. Außerdem verweist er auf die AiQ-Beratungsstellen „Ankommen im Quartier“, die es inzwischen in acht Bremer Stadtteilen gibt.
Doch zurück zu den Suchenden am Ende der H.-H.-Meier-Allee: Alle, mit denen wir hier sprachen, haben Unbeschreibliches erlebt. Als Zuhörende können wir nur eine leise Ahnung dieser Lebenswirklichkeit bekommen. Was zum Beispiel bedeutet es für Shaheds Familie, dass das einst schöne und hochkultivierte ar-Raqqa mit seinen 8.000 Jahre alten Siedlungswurzeln heute zu 80 Prozent zerstört ist? Dass zivilisiertes Leben dort kaum mehr existiert? Shahed ist eine von vielen, die in ihr Land zurückkehren wollen. Sie möchte in Deutschland etwas lernen, womit sie dann beim Wiederaufbau ihrer Stadt helfen kann. Auch dazu muss sie hier wohnen können.
Natürlich müssen sie Kompromisse eingehen und sich anpassen. Das beginnt bereits beim neuen Nachnamen, der dieser Familie auf dem Irrweg hierher sozusagen zugefallen ist. „Wir heißen jetzt K. mit Nachnamen. Aber das ist eigentlich nicht unser Name“, sagt Shahed, „doch jetzt heißen wir so.“ Wie kam das? Auf dem langen Weg nach Deutschland hat man den Namen dieser Familie mit dem einer anderen vertauscht. Die Familie nimmt es gelassen, sie haben Schlimmeres erlebt. Nur haben sie jetzt Schwierigkeiten, entferntere Verwandte besuchen zu dürfen, weil diese sie wegen des Namens nicht mehr Verwandte nennen. „Wenn wir von Familie sprechen, meinen wir mehr Menschen, als man hier meint. Nicht nur die Eltern und Kinder. Auch die Großeltern, Tanten und Onkel“, erklärt Shahed. In ar-Raqqa haben sie noch mit vielen in einem großen Haus gewohnt.
Namen haben Bedeutungen. Shahed bedeutet „Honig“ und Nurhan, der Name ihrer Mutter, gleicht einem Gemälde ihrer Ausstrahlung: „Sonnenlicht“. Vor den Häusern ist es nach zwei Stunden belebter. „Kommt ihr wieder?“, ruft ein Mädchen zum Abschied. Klar. Das muss bald sein, damit wir sie hier noch antreffen – den Honig, das Sonnenlicht und die vielen anderen mit den poetischen Namen.
Text: Ulrike Plappert
Nach ihrem Besuch in den Kampa-Häusern sagt sie: „Wir schaffen das“ ist wesentlich komplexer als gedacht. Sie dankt den Familien für ihre Offenheit.
Fotos: Wolfgang Everding
Kennt die Kampa-Häuser von Baubeginn an. Auf so engem Raum mit neun Personen zu leben, erfordert große Disziplin und Rücksichtnahme.
