EDITORIAL: Jenseits der Spiegel
Selten war mehr Gegensatz in einem unserer Hefte als in diesem. Passend zur Straße, in der unsere Geschichten spielen: Auch sie ist ein Ort der Widersprüche. Wer in die Sögestraße kommt, der will flanieren. Ein wenig durch die Geschäfte streifen, ein wenig den Glanz und Glitzer in den Schaufenstern bewundern. Und wankt am Ende seines Bummels meist erschöpft, mit Einkaufstaschen beladen, dafür aber um einige Euro leichter, gen Heimat. Wendet man seinen Blick jedoch einmal ab von den Schaufenstern, kann man die Kehrseite all dieses Konsums sehen. Jene, die nicht dazu gehören, weil sie kein Geld haben für die Waren, die neben ihnen feilgeboten werden. Oder die sich bewusst für einen anderen Weg als den des Konsums entschieden haben. Die Bettler, die Obdachlosen etwa. Oder die StraßenkünstlerInnen, die sich in festgelegter Folge von Ort zu Ort bewegen, ihre Instrumente oder Utensilien weitertragen, um einige Meter weiter wieder von vorn zu beginnen.
Wir haben sie begleitet, ihre Geschichten erfragt. Etwa die von Michael, den 1989 die Wende packte, ihn ein paar Mal schüttelte und mit nichts zurückließ. Und der heute, wenn seine Gesundheit es zulässt, die Zeitschrift der Straße verkauft (Seite 26). Oder die von Straßenmaler Werner Kunze, der eigentlich anders heißt, aber das wäre noch mal eine ganz andere Geschichte (Seite 8). Wir sprachen mit Menschen, die in der Sögestraße regelmäßig Spenden sammeln (Seite 24), einem Bettler, der auf ihre Gaben nicht angewiesen sein will (Seite 12) – und einem Aussteiger, der mit seinen Händen für kurze Zeit vergessen macht, dass es so etwas wie Schwerkraft auf dieser Erde gibt (Seite 20). Auf unserer Internetseite finden Sie zudem noch ein Interview mit jemandem, der kurzzeitig die Sögestraße zu seinem Zuhause machte – und schildert, warum er dort nicht richtig heimisch wurde.
Viel Spaß beim Lesen wünschen Tanja Krämer, Jan Zier
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße.
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Aus dem Inhalt:
08 „Das ist ein Glücksspiel“
Werner Kunze malt seit 18 Jahren fast jeden Samstag in der Sögestraße. Mit Kitsch kämpft er gegen die Altersarmut
10 Die Euromünze
Eine Kurzgeschichte
12 „Die Leute hier sind mir egal“
Michael Oyher lebt seit zweieinhalb Jahren auf der Straße – und in der Fußgängerzone. Ein Gespräch über Drogen, die Ostsee und Menschen, die auf einen herabschauen
14 Bildstrecke
20 Eins werden mit der Kugel
Chris Ipanaque jongliert als Straßenkünstler in der Fußgängerzone. Er möchte, dass die Menschen für einen Moment ihren Alltag vergesse
24 Suppe auf Rädern (online lesen)
Die Suppenengel sind in Bremen eine Institution. Weil aber der Bedarf steigt, wird die Küche langsam zu klein. Der Frust auf der Straße wächst
26 „Dann kam die Wende“
Ein Porträt unseres Verkäufers Michael Bleibel
Demnächst online: „Man ist eher Fremdkörper“
Till Rümenapp hat ein Jahr in der Sögestraße gewohnt. Doch Konsum, Arbeiten und Wohnen vertrug sich für ihn nicht.
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Hintergrundfoto: Seppo Uusitupa/flickr.com