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PROST, IHR HELDEN

#22 SODENMATT – Sie fühlen sich ein bisschen rausgefallen aus der Zeit. „Filippos“ aber hat geöffnet, so lange sie bleiben. Ein Kneipenvormittag

 

ZdS SodenmattNur zwei Kneipen sind übriggeblieben. „Als wir hier anfingen, gab’s sieben in der Ecke. ‚Ach, der Grieche, der macht in zwei Wochen wieder zu!‘, ham se gesagt. Aber wir sind geblieben, alle anderen sind weg.“ Der Grieche, dessen schwarzes Haar sich lichtet, heißt Paul. Mit seiner Frau Regina führt er „Filippos“, seit 1982, an jedem Tag der Woche. Die beiden 3-D-Bilder an den vertäfelten Wänden müssen auch aus der Zeit sein. Ein roter Sportwagen flitzt durch die Nacht, um ihn herum ein Glitzerrelief. Nebendran rauscht romantisch ein Wasserfall mit Glitter durch das nachtblaue Bild. Draußen an der Tür steht „Geöffnet von 11 Uhr bis 23 Uhr“, aber, winkt Regina ab, „wir schließen, wenn der Letzte geht“. Meistens ist das gegen eins, manchmal auch erst um drei. Für Paul war diese Art von Kundenorientierung „der Trick“, sich gegen die anderen Kneipen durchzusetzen: niemanden rausschmeißen.

Paul und Reginas Wohnung ist oben, die Grenze zwischen Privat- und Berufsleben längst verschwommen. Als ihre Töchter noch klein waren, tingelten sie im Kneipenraum rum, an einer Leine, damit sie im Sommer nicht durch die offene Tür auf die Straße raus rannten. Außerdem hat da Pauls griechische Mutter die Familie noch unterstützt. Jetzt lebt sie wieder in Griechenland. Die Töchter sind groß, die eine studiert in Hamburg, die andere hofft auf einen Ausbildungsplatz, am liebsten im Justizvollzug, aber vielleicht findet sie auch bei „Kellogg’s“ was, einer der Stammgäste hat da Kontakte. Jeden Morgen um elf frühstückt die Familie am mittleren der drei Kneipentische. So können sie nebenher schon Gäste bedienen und müssen sich mit dem Frühstück nicht so hetzen.

Schweigen am Tresen

„Filippos“ ist ein Ort, an den sich selten Fremde verirren. Spagettigardinen in den Fenstern versperren den Blick hinein. Tagsüber bleiben die Lichter über dem Tresen aus, man kann daher nicht sehen, ob überhaupt geöffnet ist oder Gäste da sind. Die meisten der Stammkunden sind Männer, ab Mitte 50, alleinstehend. Männer, deren kahlen Kopf meist nur noch ein weißer Haarkranz umrahmt und die fast alle schwarze Jacke, schwarze Schuhe und Flanellhemd unter farbigem Pullover tragen. Vor allem am Tresen, wo die Älteren sitzen, wird viel geschwiegen. „Man weiß ja sowieso alles vom andern, da muss man nicht pausenlos reden.“

Um fünf nach zwölf hört man das erste Bier am hinteren Tisch ploppen, ab halb eins sind die vier Barhocker und drei Tische belegt. Alle behalten ihre Jacken an; es ist kühl. Ein Mann kommt rein, zahlt wortlos seine Zeche, Regina streicht den Deckel durch, dann verschwindet der Gast wieder. Zechpreller gebe es hier nicht, sagt Regina, „die kommen ja alle wieder, und ich weiß ja auch, wo die wohnen“. Die meisten ihrer Gäste hat sie oder ihr Mann schon mal nach Hause gebracht. Fast alle tragen auch ihr Leergut selbst zurück zum Tresen.

Die Digitalanzeige des Zigarettenautomaten wechselt von „Guten Morgen“ zu „Guten Tag“. In der Auslage leisten kleine Jägermeister und Schnäpschen den Capri-Sonnen und Schokoriegeln Gesellschaft, der Kaffee ist löslich. Um eins schmeißt Regina die drei Spielautomaten an und der erste Kurze geht über den Tresen. Draußen vor dem Fenster radeln Kinder von der Schule heim. „Da kannst’e sagen, wat de willst, aber das war alles verlässlicher früher. Heute – ach Mensch, hör auf!“ Herbert, der immer mit seinem irischen Setter Leo kommt, winkt ab. „Wir passen“, er macht eine Pause, setzt neu an, „wir passen alle in diese Zeit nicht mehr rein, da kannst’e sagen, was de willst.“

Mit 14 hat er Landwirt gelernt, dann Schlachter, ist zur See gefahren und hat schließlich bei „Beck’s“ angefangen, nochmal studiert, sich dort hochgearbeitet, am Ende war er Betriebsrat. Dann wurde die „Beck’s“ von der belgischen „Interbrew“ aufgekauft und mit der brasilianischen „AmBev“ zum weltgrößten Brauereikonzern fusioniert, der schließlich noch die US-Großbrauerei Anheuser-Busch mit dazunahm. „Wenn ich das schon höre: ‚global player‘!“, poltert Herbert mit hölzernem Englisch. Zustimmendes Nicken und Gemurmel. Er gibt der Tresenriege einen Schnaps aus. Zwei wählen Ouzo, das ist der günstigste – man will ja niemanden ausnehmen. Alle erheben die Gläser. „Prost, ihr Helden“, ertönt Herberts Stimme. Schweigen.

Unter der Woche lohne es sich nicht, die Fritteuse und den Bratspieß anzuschmeißen, sagt Regina. Essen gibt es bei „Filippos“ daher nur am Wochenende. „Aber erst ab vier – dann dürfen wir hier nicht mehr rauchen, sondern müssen uns dafür in den Nebenraum verziehen“, verrät Werner und schaut verschmitzt, als würde er eine verrückte Neuigkeit verkünden. Er kratzt immer wieder um die drei kleinen, eintätowierten Punkte an seinem rechten Daumen. Der Nebenraum gehört seit 1996 mit zur Kneipe. Ein Billardtisch steht darin, man kann dort feiern und einmal im Monat wird geknobelt. Bis vor kurzem liefen hier auch „Werder“-Spiele live über die Leinwand, aber seit „Sky“ die Preise fast verdoppelt hat, geht das nicht mehr. Die Fußballbegeisterten unter den Stammkunden sitzen an Spieltagen seitdem 90 Minuten um ein Radio und lauschen dem Reporter.

Paul hält eine „Werder“-Uhr in die Höhe. „Die wird ihm gefallen, oder? So was hat er doch noch nicht!“ Er und ein Stammkunde feiern morgen zusammen Geburtstag. DJ Wolle, ebenfalls ein Stammgast, wird auflegen. Gerade waren sie bei „Metro“ und karren jetzt die Getränke rein. Wenn Paul dort Bier holt, gucken die Leute immer auf seinen dicken Bauch. „Die denken, dass ich das alles selbst trinke“, glaubt Paul. Dabei mag er gar kein Bier.

Rolf hält ein kleines Gerät an den Hals, das seiner Stimme Klang verleiht. Jeden Tag kommt er eigens aus der Vahr hierhergefahren. Wenn er vom Tresen aufsteht, um einem Gespräch irgendwo im Raum etwas hinzuzufügen, oder jemandem auf die Schulter klopft, huscht ein kleines Strahlen über sein Gesicht. Sonst schaut er ins Leere, hustet viel und drückt dann immer auf sein Kehlkopfpflaster. „Wir fühlen uns hier alle wohl“, sagt nicht nur er. „Du erlebst hier alles“, fügt Regina vom Tresen leise hinzu. „Ob ’ne Frau ’nen Kinderwagen hier reinschiebt und sagt ‚Tschüss!‘ und der Ehemann sitzt dann da. Oder ob eine ihrem Mann hier gleich die Koffer reinstellt – das ist der Wahnsinn!“ Paul quetscht sich an ihr vorbei und gibt ihr einen liebevollen Klapps.

Pflegestufe eins

Als Tor über den Bürgersteig auf die Kneipentür zustakst, schauen alle auf. „Siehst’, da kommt er.“ Er kommt langsam auf seinen stelzenartigen, langen Beinen hereingeschritten, setzt sich mühsam auf den Barhocker. Sein Gesicht ist grau, die Hände fahrig. Alleine schafft er es gar nicht mehr bis zur Kneipe, seine Frau muss ihn mit dem Auto holen und bringen. Er bekommt ein Bier und einen Braunen, dann bittet er Paul, einen Zehner klein zu machen – für Zigaretten. Paul schiebt sich hinterm Tresen vor. „Bleib sitzen, ich mach das schon.“ Tor mit der Seemannsmütze, den hier alle nur den „Kapitän“ nennen, erzählt Werner, dass er gestern seine Patientenverfügung gemacht und seine Grabrede besprochen habe, „das dauert 15 Minuten“. Immer wieder unterbricht er sein Reden, schnappt nach Luft und setzt zum nächsten Satz an. Er hat Lungenkrebs und muss bald sterben, alle hier wissen das. „Bei mir ist nichts mehr los. Die Ärzte sagen: ‚Mach, was de willst‘“, erzählt er. Und dass, bei „Filippos“, „wir alle richtig miteinander reden dürfen. Wenn ich Werner sage, dass er ein Armleuchter ist, dann glaubt der das.“ Seit 25 Jahren ist er in Huchting. „Vielleicht bin ich nächste Woche noch hier, vielleicht nich’“, sagt er. Gerade habe er noch eine höhere Pflegestufe bewilligt bekommen.

Sie hätten hier doch alle mindestens Pflegestufe eins, wirft Werner, zwei Tresenstühle weiter, forsch scherzend ein. „Alles, was ich früher mal konnte …“ Tor ringt nach Luft und schimpft: „Nicht mal mehr scheiß angeln kann ich!“ Nachdem er wieder gegangen ist, bleibt er noch eine Weile Gesprächsthema. „Soll er doch rauchen und trinken, Mensch, ist doch richtig so!“, sagt einer. Und dass es Klaus, was die Wohnung und das Altwerden angehe, besser gemacht habe, weil bei dem zu Hause alles ebenerdig sei.

Vom Spielautomaten verkündet Eddi: „Vier Spiele!“ „Bist’e wieder am Zocken?“, ruft Uwe zurück. „Du weißt doch, is’ verlorenes Geld.“ Das findet Eddi nicht. Er hat schon ab und an 200 Euro gewonnen. Der höchste Gewinn, der ausgezahlt werden musste, liegt schon einige Jahre zurück: 860 Euro – aber nicht für Eddie. Zwischen seinen Spielen kommt er zum Tresen, um bei Regina Geld für die nächsten zu wechseln.

„Moin“, tönt es aus einem dichten Oberlippenbart. Ein Mann in weißer Malerhose steht in der Tür. „Moin“, schallt es sechsmal zurück. „Es war einmal ein Maler, der hatte keinen Taler“, flachst Herbert, der sonst gern Klassiker zitiert, Goethe, Schiller, Eugen Roth, Shakespeare, „man hat ja auch ’n bisschen wat gelesen“. „Hör auf“, protestiert Tor dann. „Wir sind hier nicht in der Schule.“ Die drei Haushaltskühlschränke hinterm Tresen brummen.

Text: Kim-Nikoline Kraul
Foto: Franziska von den Driesch