#60 SCHLOSSPARK – Wie die Villa Wisch Menschen mit psychischen Erkrankungen Struktur, neue Chancen und viel Selbstbewusstsein gibt: ein Hausbesuch
„Natürlich“, sagt Stephan Jürgens, „kann man auch ohne ärztliches Attest in die Villa Wisch kommen.“ Das Anwesen liegt ein paar Meter hinter den anderen Hausfassaden in der Sebaldsbrücker Heerstraße, mit einem kleinen Garten und hohen Bäumen vor dem Haus und einer schweren hölzernen Eingangstür. Von außen deutet nur das Schild darauf hin, dass hier eine Tagesstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen ist. Jürgens ist ihr Leiter. „Es ist ein Begegnungsort“, sagt er. 60 bis 70 BesucherInnen kommen und gehen jeden Tag. Es gibt eine Küche, ein großes Esszimmer für alle, ein Café, in dem Zeitungen ausliegen oder Bilder ausgestellt werden, und ein Arbeitszimmer mit Computern. Im ersten Stock sind der Büroservice und eine Textilwerkstatt angesiedelt – hier arbeiten nicht nur die Festangestellten, sondern auch allerlei Injobber; auch im Garten gibt es verschiedene Arbeitsplätze zu vergeben, oder Hausmeistertätigkeiten. „Der Grundgedanke ist, dem Tag eine Struktur zu geben“, sagt Stephan Jürgens.
Menschen, die dauerhaft psychisch erkrankt sind und deshalb nicht mehr so gut in der Gesellschaft zurechtkommen, können hier eine niedrigschwellige Beschäftigung aufnehmen. Sie haben einen Ansporn aufzustehen, wenn sie wissen, wohin sie können. Die Arbeitszeit reicht von einer halben Stunde bis zu 15 Stunden in der Woche. Bei den Injobbern, die vom Jobcenter vermittelt werden sind es mehr, bis zu 30 Stunden in der Woche. Das ist Menschen vorbehalten, die das haben, was das die Behörde ein „Vermittlungshemmnis“ nennt.
Seit dem Ende der Achtzigerjahre gibt es die Villa Wisch, betrieben wird sie vom Arbeiter-Samariter-Bund, der im Bremer Osten für Menschen mit psychischen Erkrankungen zuständig ist. Früher wurden sie „eher weggeschlossen“, sagt Stephan Jürgens. Seine Einrichtung arbeitet mit dem Ameos Klinikum und dem Klinikum Bremen-Ost zusammen – „um Klinikbesuche gar nicht erst notwendig werden zu lassen“.
Im Café unterhalten sich die BesucherInnen, scherzen mit den Arbeitenden oder lesen. Im Garten gibt es unter einer großen, ausladenden Rotbuche verschiedene Sitzgelegenheiten und eine Tischtennisplatte. Viele essen bei gutem Wetter in dem Garten, auch Frühstück oder Kaffee und Kuchen gibt es hier. Wer Hilfe braucht, kann sich an die MitarbeiterInnen wenden. Auch „der Stammtisch“, wie Stephan Jürgens ihn nennt, trifft sich hier. Für viele ist es eine Erleichterung, sich mit anderen Menschen mit psychischen Erkrankungen zu unterhalten oder darüber zu sprechen, wo die jeweiligen Stärken der Menschen liegen. „Das ist besonders wichtig, weil es ja auch oft darum geht, was eben nicht mehr möglich ist“, sagt Jürgens. Oder man entscheidet sich, an dem Programm der Villa teilzunehmen: Das reicht von der offenen Textilwerkstatt über Qigong und Mandala malen bis hin zu Doppelkopf spielen. Manchmal werden Filme gezeigt, oder die Leute machen zusammen einen Ausflug, etwa ins Teufelsmoor.
„Ich erprobe mich hier mit drei Stunden pro Tag“, sagt Anna Fabry, die in der Textilwerkstatt beschäftigt ist. Sie trägt ein Schlüsselband um den Hals und hat einen gelben Igelball vor sich auf dem Tisch liegen. Insgesamt arbeitet sie jetzt 15 Stunden in der Woche in der Villa Wisch. Anfangs sei sie daran gescheitert, eine halbe Stunde durchzuhalten, erzählt sie. Obwohl sie sehr aufgeschlossen wirkt, leidet sie unter Angst- und Panikzuständen. Deshalb konnte sie ihr Leben irgendwann nicht mehr alleine bewältigen, auch die Erziehung ihrer Kinder musste sie an Pflegefamilien abgeben. Sie zog in das Haus Hastedt, ein Wohnheim für Erwachsene mit psychischen Erkrankungen. „Zurzeit sticke ich eine Hummel“, sagt sie, angefangen hat sie mit einer Elster. Dann folgten in den letzten Jahren andere Motive, zwei Möpse etwa, die als Auftragsarbeit hergestellt wurden. Dank ihrer Arbeit hat Anna Fabry es geschafft, in eine Wohngemeinschaft umzuziehen: Sie lebt nun mit einer Frau und drei Männern zusammen und fühlt sich dort sehr wohl.
Bevor sie in das Haus Hastedt kam, litt sie unter ihrem damaligen Lebensgefährten: „Ich konnte ihn nicht rauswerfen“, sagt sie, ohne dass eine Emotion in ihrem Gesicht zu erkennen wäre. Er war drogenabhängig und riet ihr davon ab, sich Hilfe zu holen. Als Fabry in das Wohnheim ziehen wollte, setzte er sie unter Druck. Heute hat Fabry keinen Kontakt mehr zu ihm. „Die Begegnungsstätte tut mir supergut“, sagt sie. Auch in der Theatergruppe der Villa Wisch spielt sie mit. „Durch die Tagesstruktur hier und das Theaterspielen habe ich ein gutes Selbstbewusstsein bekommen – das hatte ich vorher nicht“, sagt Fabry. Auch ihre älteste Tochter kann sie nun wieder treffen.
Insgesamt 18 Leute arbeiten in der Textilwerkstatt, manche 20 Stunden in der Woche, andere nur zwei. Ursprünglich entstand sie aus dem Projekt „Urban Knitting“ mit damals drei Strickerinnen. Jetzt wird hier gestickt oder genäht, und die dabei entstehenden Produkte – Schmuckteile oder Taschen – kann man in der Villa, im Sozialkaufhaus oder in einem Laden im Viertel kaufen. „Es ist ganz unterschiedlich, was die Menschen so an Arbeitskraft mitbringen“, sagt Ilka Hövermann, die zusammen mit der Ergotherapeutin Beate von Schwarzkopf die Werkstatt leitet. „Wir versuchen, sie da abzuholen, wo sie mit ihren Fähigkeiten stehen. Sich an Neues heranzuwagen ist für manche eine echte Herausforderung, während andere da ganz forsch und mutig sind.“ Alle hier sollen in einem geschützten Raum arbeiten können, sagt Beate von Schwarzkopf. Das Ziel: die Stabilisation für den ersten Arbeitsmarkt. Zwar sind die heute Injob genannten Ein-Euro-Jobs umstritten. Beate von Schwarzkopf findet sie aber gut – als Möglichkeit der Integration für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wobei sie lieber von Menschen spricht, die „seelisch erschüttert“ sind.
„Früher war man davon ausgegangen, dass wenig Belastung gut ist“, sagt Beate von Schwarzkopf – aber auch Menschen, die erkrankt sind, brauchen kleine Reize. In der Ergotherapie nennt man diesen Ansatz „Heilen durch handeln“. Die Struktur des Alltages und die Aufgaben lenken ab und steigern das Selbstwertgefühl der Betroffenen. „Das kennt ja jeder, der schon mal eine Krise hatte“, sagt Ilka Hövermann.
Im Keller der Villa sitzt die Redaktion der Zeitschrift „Zwielicht“, die sich vor allem Themen der seelischen Gesundheit widmet. Sie erscheint seit 2012 etwa alle sechs Monate, demnächst auch online. In dem Magazin werden Stadtteilberichte aus Hemelingen veröffentlicht, aber auch Geschichten über Menschen, die Erfahrungen mit der Psychiatrie gemacht haben, Texte von Leuten, die eine Krise hatten und davon berichten, wie sie diese überstanden haben. Rassismus oder Beleidigungen sind tabu: „Hasstiraden wollen wir nicht haben, das ist nicht unser Ansatz“, sagt Christian Kaschkow (oberes Foto, rechts). Er schreibt Artikel über die Verhältnisse in der Psychiatrie und wie diese verbessert werden können. Auch Irmgard Gummig (oberes Foto, links) schreibt für „Zwielicht“: „Ich habe schon immer ganz viel geschrieben“, sagt sie. Es ist eine „Bewältigungsstrategie, um die schrecklichen Dinge, die ich in der Kindheit erlebt habe, zu verarbeiten.“
Früher konnte sie über vieles nicht sprechen – und begann so, zu schreiben. Vor etwa drei Jahren veröffentlichte sie hier ihre ersten Texte. „Das war schon eine Art Krisenbewältigung“, sagt Gummig. Danach ging sie immer öfter zu den Redaktionssitzungen – aber in die Gruppe zu kommen, in der Gruppe zu bleiben, das ist immer noch eine Herausforderung für sie. Mittlerweile hat sie eine Stelle mit 15 Stunden in der Woche angenommen und schreibt nun nicht mehr alleine an ihrem Schreibtisch, sondern in einer Gruppe. Dafür bekommt sie auch Post von Lesern, die ihr schreiben, dass es ihnen Mut mache, wie mutig sie sei. „Der Mut, es zu benennen, ist ein großer Akt“, sagt Irmgard Gummig. „Aber es hilft mir, das Schlimme aus der Vergangenheit zu bewältigen und auch zu sehen, dass es Schönes gibt.“
Test: Frauke Kuffel
Fotos: Jasmin Bojahr