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STOPP ELEND

#25 ZIEGENMARKT – Sie wollten die Verelendung aufhalten – die einen die der Junkies, die anderen die des Viertels. Ein Rückblick auf das Ende einer der größten Drogenszenen Deutschlands

Ziege

„Meine Damen und Her­ren, liebe Jun­kies, heute ver­tei­len wir sau­be­re Sprit­zen, wer tut es mor­gen?“, steht auf den gro­ßen Schil­dern, die sich die Stu­die­ren­den um­ge­hängt haben. Sie ste­hen auf dem Markt­platz und im Vier­tel, rund ums Siel­walleck. Sie haben Eimer dabei für die Sprit­zen. Vor allem aber in­for­mie­ren sie dar­über, wie man Dro­gen­ab­hän­gi­gen hel­fen kann.

Es ist 1991 und die of­fe­ne Dro­gen­sze­ne im Bre­mer Stein­tor­vier­tel gilt als eine der größ­ten in ganz Deutsch­land. Fast alle der Süch­ti­gen sind ob­dach­los und kon­su­mie­ren auf of­fe­ner Straße. Die Jun­kies und ihre Hin­ter­las­sen­schaf­ten sind über­all zu fin­den: in Vor­gär­ten, in Haus­ein­gän­gen, auf Spiel­plät­zen. Schul­hö­fe blei­ben wäh­rend der Pau­sen wegen her­um­lie­gen­den Sprit­zen oder be­nutz­ten Kon­do­men ge­schlos­sen. Dieb­stäh­le, Ein­brü­che, Dea­le­rei und Pro­sti­tu­ti­on sind an der Ta­ges­ord­nung – ir­gend­wo­her muss das Geld für die gan­zen Dro­gen kom­men. Bil­der von aus­ge­mer­gel­ten Ge­sich­tern und sprit­zen­über­sä­ten Vor­gär­ten schmü­cken die Zei­tungs­co­ver bun­des­weit.

23 Jahre spä­ter: Im Kon­takt-Café der „Drobs“ – das steht für „Dro­gen­be­ra­tungs­stel­le“ – im Ti­vo­li-Hoch­haus sitzt eine Hand­voll So­zi­al­ar­bei­te­rIn­nen um den Tisch. Nach­mit­tags kriegt man hier ’nen Kaf­fee, vor­mit­tags nut­zen die Mit­ar­bei­te­rIn­nen den Raum für Be­spre­chun­gen. Sie sind alle um die 50 und alle seit meh­re­ren Jahr­zehn­ten an dem Thema dran. „Heute ist im Vier­tel nix“, sagen sie, und auch der ein­zi­ge junge Street­wor­ker-Kol­le­ge, der mit da­bei­sitzt, nickt. Ins Vier­tel geht er gar nicht mehr auf sei­nen Tou­ren.

At­trak­ti­ves Flair für Süch­ti­ge

Da­mals ge­hö­ren die Frau­en mit zu den Ers­ten über­haupt, die sich hier in Bremen um Jun­kies küm­mern. „Dro­gen­ar­beit und Ka­pi­tal“ heißt ihre stu­den­ti­sche Ar­beits­grup­pe, die sich, un­ter­stützt von ein paar Pro­fes­so­ren, kun­dig macht und Kon­takt zu den Süch­ti­gen sucht. Sie fah­ren nach Hol­land, wo die Dro­gen­sze­ne schon län­ger groß ist, um sich zu in­for­mie­ren, ler­nen Sprit­zen­au­to­ma­ten und Druck­räu­me ken­nen. Ihr Ziel: „Die Ver­elen­dung der Jun­kies auf­hal­ten.“

An­de­re wol­len eher die „Ver­elen­dung des Vier­tels“ auf­hal­ten. Wäh­rend der 1950er- und 1960er-Jah­ren lebt hier ein bunt ge­misch­ter Hau­fen, Hip­pies, Wohn­ge­mein­schaf­ten, Stu­die­ren­de, Im­mi­gran­ten und Jun­kies. Viele Ge­bäu­de sind her­un­ter­ge­kom­men, die Miet­prei­se dem­entspre­chend güns­tig. Hier fin­den alle Platz, die To­le­ranz un­ter­ein­an­der ist ziem­lich groß – auch ge­gen­über der Dro­gen­sze­ne. „Man hatte seine Dea­ler, seine Ab­hän­gi­gen und seine Pen­ner und man kann­te sie“, drückt es ein An­woh­ner aus.

Dass es ir­gend­wann zum Kon­flikt kommt, der ab den 1980ern rich­tig es­ka­liert, hängt in den Augen der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen mit der schon da­mals ein­set­zen­den Gen­tri­fi­zie­rung zu­sam­men: Nach dem Aus für die vier­spu­ri­ge „Mo­zart­tras­se“ quer durchs Quar­tier und die Hoch­haus-Plä­ne wird das Vier­tel wie­der her­aus­ge­putzt. Die Haus­be­sit­zer, man­che ehe­mals Haus­be­set­zer, wer­den älter, be­kom­men Kin­der, wün­schen sich schö­ne Vor­gär­ten und eine „si­che­re“ Um­ge­bung. „Die woll­ten schon, dass das Vier­tel span­nend ist, aber nicht so“, drückt es eine der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen aus.

Das Stadt­bild wan­delt sich – nur die Jun­kies, die blei­ben. Haupt­dro­ge ist He­ro­in, ein Gramm be­reits für 60 DM zu be­kom­men. Ge­fahr, von der der Po­li­zei „auf­ge­knöpft“ zu wer­den, be­steht erst ab zehn Gramm. Nir­gend­wo an­ders sind die Prei­se so güns­tig und die Ge­setz­ge­bung so li­be­ral; das Flair zieht wei­te­re Dro­gen­ab­hän­gi­ge an. Die vor­mals so to­le­ran­te Nach­bar­schaft spal­tet sich in zwei Lager, die sich ge­gen­sei­tig in die Quere kom­men. Flug­blät­ter von „Jun­kie-Ak­ti­ons­wo­chen“ wet­tern gegen die „ver­kack­ten Arsch­gei­gen die­ser Welt“: „Kommt ihr euch über­haupt nicht doof vor, auf die Straße zu gehen ‚für sau­be­re Stra­ßen‘?“

Flug­blät­ter von „Jun­kie-Ak­ti­ons­wo­chen“
wet­tern gegen die
„ver­kack­ten Arsch­gei­gen die­ser Welt“

„Rich­ti­ge Ori­gi­na­le“ seien das da­mals ge­we­sen, die Jun­kies, er­zäh­len die So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen. Es klingt wie: Nicht so be­ne­belt vom Me­tha­don wie die Sub­sti­tu­ier­ten heute. Die Stu­die­ren­den und So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen er­grei­fen da­mals nicht nur Par­tei für die Süch­ti­gen. Weil es staat­li­che An­ge­bo­te bis dato kaum gibt, or­ga­ni­sie­ren die Ak­ti­vis­tIn­nen auch ganz prak­ti­sche Hilfe, etwa durch Haus­be­set­zun­gen, um Un­ter­künf­te und Druck­räu­me zu schaf­fen.

Erst als 1988 im Ge­sund­heits­res­sort nicht mehr Hen­ning Scherf das Zep­ter in der Hand hält, be­kom­men die Street­wor­ke­rin­nen auch mehr staat­li­che Un­ter­stüt­zung für ihre Ar­beit. Ein VW-Bus dient als „Schutz­raum“ für die bis zu 50 Pro­sti­tu­ier­ten auf dem Dro­gen­strich in der Frie­sen­stra­ße. Die haben nicht nur Stress mit den Frei­ern, son­dern auch mit den Pro­sti­tu­ier­ten aus der He­le­nen­stra­ße, denen sie das Ge­schäft ver­mie­sen. Im Bus wer­den Wun­den ver­sorgt, Ein­weg­sprit­zen und Kon­do­me ver­teilt. Ein ähn­li­ches An­ge­bot schafft das neue Drobs-Café in der Bau­ern­stra­ße und der „Kon­takt­la­den“ in der We­ber­stra­ße. Hilfe gegen Hun­ger, Kälte und Ver­let­zun­gen – das lin­dert das Elend. Und na­tür­lich gibt es immer auch Be­ra­tung.

Das An­ge­bot der Street­wor­ker kann dem An­sturm nicht stand­hal­ten. Ge­ra­de in den Win­ter­mo­na­ten sind der Frau­en­bus und die Be­ra­tungs­stel­le in der Bau­ern­stra­ße für viele le­bens­not­wen­dig. Was als An­ge­bot mit viel per­sön­li­chem Kon­takt und of­fe­nem Ohr für eine über­schau­ba­re An­zahl an Dro­gen­ab­hän­gi­gen ge­dacht war, wird von den un­zäh­li­gen Jun­kies re­gel­recht über­flu­tet. Die Mit­ar­bei­ter kön­nen das kaum noch be­wäl­ti­gen, 86 Dro­gen­to­te in einem Jahr schrei­ben einen neuen Re­kord. „Da die Ab­hän­gi­gen immer mehr ver­elen­den, war un­se­re Ar­beit zu­neh­mend auf die Ver­sor­gung re­du­ziert. Mit un­se­rem bis­he­ri­gen Kon­zept sind wir ge­schei­tert“, ge­steht Anton Bart­ling, der da­ma­li­ge Lei­ter des Drobs-Cafés, im De­zem­ber 1991 in einem In­ter­view.

In den Win­ter­mo­na­ten 1990/1991 sind die Lo­ka­le in der Bau­ern- und We­ber­stra­ße zeit­wei­lig so über­lau­fen, dass es zu re­gel­rech­ten Aus­schrei­tun­gen kommt. Den Street­wor­kern bleibt nichts an­de­res übrig, als beide An­lauf­stel­len zeit­wei­se zu schlie­ßen, um sich selbst nicht zu ge­fähr­den. Der Ver­such, die Räume zu er­wei­tern, schei­tert am star­ken Pro­test von An­woh­nern und La­den­be­sit­zern. Auch all­ge­mein wächst der Druck: Mit De­mons­tra­tio­nen, Flug­blät­tern und öf­fent­li­chen Dis­kus­sio­nen macht sich eine Bür­ger­be­we­gung rund um den Os­ter­tor­stein­weg gegen die Dro­gen­sze­ne stark. „Die woll­ten, dass das alles ein­fach ver­schwin­det“, er­in­nert sich eine der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen. „Die Angst vor HIV war grö­ßer als die Angst vor zu vie­len Dro­gen­to­ten.“

Jun­kie-Sitz­blo­cka­de auf der Kreu­zung

Auch die Po­li­tik ist unter Druck. Im Sep­tem­ber 1992 be­schließt der Senat die „Rück­bil­dung der of­fe­nen Dro­gen­sze­ne mit dem Ziel ihrer Auf­lö­sung“. Viele neh­men das zu­nächst nicht ernst. Die Jun­kies ge­hör­ten zum Vier­tel, rund um die Uhr. „Kei­ner konn­te sich vor­stel­len, dass sich das je än­dert“, sagt eine der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen. „Da hing ja auch eine kom­plet­te In­fra­struk­tur dran.“

Doch neben der Be­reit­stel­lung von de­zen­tral über die ganze Stadt ver­teil­tem Wohn­raum be­deu­tet der Se­nats­be­schluss auch mas­si­ve Re­pres­sio­nen gegen Süch­ti­ge und Pro­sti­tu­ier­te sowie einen Abbau der be­ste­hen­den Hilfs­an­ge­bo­te im Vier­tel. Von „Er­pres­sung“ spre­chen die So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen: Zwar gibt es mehr Mit­tel für ein frau­en­spe­zi­fi­sches Me­tha­don­pro­gramm. Der Bus, der als An­lauf­stel­le für die Dro­gen­pro­sti­tu­ier­ten in der Frie­sen­stra­ße dien­te, muss aber im Ge­gen­zug sein An­ge­bot ein­stel­len. Der Sprit­zen­au­to­mat am Eck wird im Ok­to­ber 1992 ab­ge­baut. Und auch die Jun­kie-Sitz­blo­cka­de auf der Siel­wall­kreu­zung kann das Aus für die An­lauf­stel­len in der Bau­ern- und We­ber­stra­ße nicht ver­hin­dern.

Dro­gen­ab­hän­gi­ge, die beim Kon­su­mie­ren er­wischt wer­den, be­kom­men nun Buß­gel­der, Platz­ver­wei­se oder wer­den di­rekt aufs Po­li­zei­re­vier ge­bracht. Die ört­li­chen Zel­len sind so über­füllt, dass die Be­am­ten die Ab­hän­gi­gen manch­mal ein­fach nur in einem an­de­ren Stadt­teil ab­set­zen. Mit Kon­trol­len und Buß­gel­dern geht die Po­li­zei auch gegen die Pro­sti­tu­ier­ten und Frei­er in der Frie­sen­stra­ße vor – nicht, um die Dro­gen­pro­sti­tu­ti­on zu ver­hin­dern, son­dern, um sie an den Holz­ha­fen zu ver­le­gen. In „Bür­ger-In­for­ma­tio­nen“, die sich an Frei­er rich­ten, kün­digt der In­nen­se­na­tor „Vor­la­dun­gen an Ihre Woh­nungs­an­schrift“ an und warnt vor „pein­li­chen Si­tua­tio­nen“. Dro­gen­ab­hän­gi­ge Pro­sti­tu­ier­te, die wei­ter­hin im Sperr­ge­biet ihre Diens­te an­bie­ten, lan­den rei­hen­wei­se im Ge­wahr­sam – 35 Frau­en täg­lich sind es Mitte der 1990er.

Die Angst vor HIV
war grö­ßer
als die Angst vor zu vie­len Dro­gen­to­ten

1995 zieht die Drobs von der Bau­ern­stra­ße ins Ti­vo­li-Hoch­haus um. Die Zahl der Süch­ti­gen, die mit Me­tha­don sub­sti­tu­iert wer­den, steigt von 200 im Jahr 1991 auf 1.000. „Im Stein­tor ist es so ruhig wie seit zehn Jah­ren nicht mehr“, kon­sta­tiert der Po­li­zei­re­vier­lei­ter. Die Lei­te­rin der Drobs zieht 1996, ein Jahr nach dem Umzug, eine ge­misch­te Bi­lanz: Zwei Drit­tel ihrer Kli­en­tIn­nen aus dem Vier­tel kämen wei­ter­hin vor­bei, dafür such­ten nun auch Ab­hän­gi­ge Rat, die zuvor das Um­feld der of­fe­nen Szene im Vier­tel ge­scheut hät­ten. Die Si­tua­ti­on der Jun­kies im Vier­tel aber habe sich mas­siv ver­schlech­tert: Das Klima sei rück­sichts­lo­ser ge­wor­den, die Ver­elen­dung habe zu­ge­nom­men.

Die So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen, die einst im VW-Bus in der Frie­sen­stra­ße hal­fen und in­zwi­schen bei der Come­back GmbH im Ti­vo­li-Hoch­haus ar­bei­ten, sind bis heute wü­tend über das ra­bia­te Vor­ge­hen von Po­li­tik und Po­li­zei da­mals. Das Wohl der Süch­ti­gen habe keine Rolle mehr ge­spielt, ur­tei­len sie: „Un­se­re Be­mü­hun­gen wur­den zer­schla­gen.“

Text: Char­lett Wenig
Bild: Susan Buckow