#25 ZIEGENMARKT – Ein Zeichen für den ersten Sex, für Mord und Totschlag oder einfach für nichts? Eine Suche nach der Wahrheit über die Schuhe an der Leine
„Vielleicht ist es ja auch einfach eine Fiesheit unter verfeindeten Schülern und so“, vermutet das Mädchen. „Also, man klaut einem die Schuhe und wirft sie hoch, dass sie hängen bleiben, und sagt: ‚Hol sie dir!‘“ Neun sind es an der Zahl. Sportliche Versionen, an den Schnürsenkeln zusammengebunden, immer paarweise. Man muss den Kopf schon ziemlich in den Nacken legen, um sie zu sehen. Sie hängen unterm Bremer Himmel, genauer: über dem Drahtseil, an dem auch die Straßenlaterne hoch über der Kreuzung befestigt ist. Und nicht nur hier. „Shoefiti“, zusammengesetzt aus den englischen Wörtern „shoe“ und „graffiti“. Wie auch Graffiti und „Urban Knitting“, das Umhäkeln von Parkpollern, Masten und anderem, ist die Schuhinstallation eine Form, in den öffentlichen Raum gestaltend einzugreifen – Guerillakunst also. Unter Insidern gilt schon das Werfen an sich, im Fachjargon „Shoetossing“ genannt, als Performance. Dass Schuhe an Kabeln, Bäumen, Ampeln und Laternen baumeln, ist längst ein weltweites Phänomen.
Die Kreuzung auf der Friesenstraße ist wenig befahren. Ab und an kommen Passanten vorbei, weniger schlendernd als mit einem sicheren Ziel. Sie wirken geschäftig und die Frage nach den Schuhen da oben über ihnen und was es damit auf sich hat, irritiert sie. „Vielleicht waren sie alt und jemand wollte nur seinen Müll loswerden“, vermutet ein Mann um die 40, die lederne Aktentasche unterm Arm; dann eilt er weiter Richtung Innenstadt. Lederschuhe, wie er sie trägt, gehören bisher nicht zum Repertoire der hängenden neun. Möglicherweise habe es etwas mit Banden zu tun, die ihr Revier markieren, vermuten andere. Oder: „Heimatlose, die hier wohnen.“ Wobei einige der Schuhe noch fast ungetragen aussehen. „Eventuell sind die Besitzer auch tot, bleiben so aber in Erinnerung.“
Soli-Aktion für Kurzkriegshelden
Auf den Stufen der Eckkneipe sitzt einer mit seinem Nachmittagsbier, gedankenverloren. Seine kamelbraune Jacke, die lange Hose, die Mütze und die Wollsocken in seinen Turnschuhen sind viel zu warm für die späten Sonnenstrahlen des Tages. Er folgt dem Blick nach oben und verzieht keine Miene. Mehr als die Schuhe selbst verwundert ihn das Interesse an dem Phänomen. Die Frage hat er erwartet. Mit einer Antwort jedoch lässt er sich Zeit, zündet sich erst einmal eine Zigarette an. Sehr leise, mit belegter Stimme, sagt er dann, dass er nichts darüber wisse, außer dass es ein Trend aus Amerika sei. Das jedenfalls erzählten die Medien. Er ist schon sehr lange regelmäßiger Gast im „Horner Eck“, sitzt immer hier, mit Blick auf die Kreuzung. Seit wann die Schuhe dort oben hängen, kann er allerdings auch nicht sagen. „Irgendwann waren sie einfach da.“
„Eventuell sind die Besitzer tot,
bleiben so aber
in Erinnerung“, vermutet einer
Er rät, den Wirt zu befragen. Der schießt gerade mit vollem Tablett nach draußen. Am Tresen ist noch ein Platz frei. Es ist recht dunkel hier drinnen und von allen Seiten blickt, neben einigen anderen bekannten Gesichtern, Frank Zappa von den Wänden, in den verrücktesten Posen. Manche der Bilder sind handsigniert. Auf seinem Rückweg hinter den Tresen schnackt der Wirt kurz mit einigen Stammgästen. Mich beachtet er nicht.
Ich bestelle ein Bier und schiebe mein Anliegen direkt hinterher: Was hat es mit den Schuhen da draußen an der Leine auf sich? Die strenge Miene des Alt-68ers mit weiß-grau meliertem Pferdeschwanz, Hut und runder Brille erhellt sich. Er beginnt direkt voller Begeisterung von dem US-Film „Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt“ zu erzählen. „Ein Klassiker mit den ganz Großen – den muss man doch kennen!“ Die Schuhe da draußen hätten „auf jeden Fall“ damit zu tun, ist er überzeugt. In dem Film von Barry Levinson aus dem Jahr 1997 geht es um Gerüchte, die Manipulation von Medien und Scharfmacherei im US- Präsidentenwahlkampf. Um einen Skandal um den Präsidenten zu vertuschen, inszeniert einer seiner Berater einen fiktiven Kurzkrieg gegen Albanien und erfindet einen Helden. Dieser William Schumann alias „Old Shoe“ bleibt am Ende des Krieges angeblich als Gefangener hinter den feindlichen Linien zurück. Die US-Bevölkerung setzt sich daraufhin für eine Befreiungsaktion ein und hängt als Zeichen der Anteilnahme alte Schuhe an Bäumen und Strommasten auf. „Eine echt coole Story“, wiederholt der Wirt und zapft dabei blind ein Bier nach dem anderen. „Deswegen, denke ich, hingen die ersten Schuhe hier. Das war wohl die Inspiration durch den Film. Also im Prinzip nur aus Jux – ohne eine eigene Ideologie. Und andere Schuhe kamen dann ganz ohne Grund hinzu.“
Auch die drei Männer, die draußen an dem Tisch direkt neben der Schuhgirlande gemütlich bei Weizenbier und gutem Essen zusammensitzen, vermuten nicht viel hinter dem Schuh-Trend. Sie bemerken die Fußbekleidung über ihren Köpfen auch erst jetzt. „Ja, stimmt, die hängen ja inzwischen überall.“ – „In der Zeitung hat letztens davon mal was gestanden in Verbindung mit dem Vietnamkrieg“, erinnert sich der mit der Glatze, den seine Tischnachbarn als „Herr Professor“ vorstellen, kauend. Sie seien als eine Art Grabdenkmal beschrieben worden. Die Treter hier seien aber wohl eher ein Scherz, fügt er noch hinzu, bevor der nächste Bissen in seinem Mund landet: „Von ‚Splashern‘, die zu viel Geld haben.“ Sein jüngerer Kollege tippt auf Kinder, eine besondere Idee stecke nicht dahinter: „Ich habe mal einen beobachtet, der war kaum 1,60 groß.“ Dementsprechend lange habe es gedauert, bis das Schuhpaar oben geblieben sei. Das Werfen habe bestimmt seinen Reiz. „Man hat ja keine Leiter oder so.“ Für manche sei das sicher eine Art Sport. Die eigentlich interessante Frage aber sei doch, wirft er lachend ein: „Bringt man die Schuhe extra mit oder geht man dann barfuß heim?“ Einstimmiges Gelächter. Der Herr Professor ergänzt, es sei eine Mode. „Wie die hängenden Hosen: Die kamen ja auch von irgendwoher und dann hatten sie plötzlich nichts mehr mit Knast und so zu tun.“
Fußabdrücke hinterlassen
Es liege in der Natur des Menschen, der Bedeutungslosigkeit des Lebens etwas entgegenstellen und Fußabdrücke hinterlassen zu wollen, erklären Psychologen, Zeichen zu setzen, selbst wenn niemand wisse, wofür. Es gibt ganze Internetforen, die sich mit dem Schuh-Phänomen beschäftigen, und Filme, die ihm nachgehen. Die Ursprünge liegen demnach in den USA und in Schottland. In den USA stehen die Luft-Treter vor allem mit Bandenkriminalität in Verbindung, dienen als Reviermarkierung und erinnern an Todesopfer. In Schottland ist der Brauch angeblich noch älter und ein stolzes Zeichen für den ersten Sex. Im Steintor-Viertel tippt die Freundin des Mädchens, das einen bösen Streich unter Mitschülern vermutet, eher auf eine Mutprobe. Die Aufgabe bestehe darin, die Schuhe wieder runter zu holen. Aber, wendet sie dann selbst ein: „Dabei kann man sicher leicht krepieren.“
„Gefährlich? Quatsch!“, kommentiert der Wirt spöttisch und signalisiert mit einer Handbewegung, wie beschränkt er diese Annahme findet. „Wer will denn da oben drankommen?“ Außerdem hingen diese neun Schuhpaare nun schon eine ganze Weile dort. Wie lange genau, weiß er aber auch nicht. Die hängenden Schuhe kümmerten offensichtlich niemand. „Mögen oder nicht mögen? Ich habe keine Meinung dazu“, sagt er schließlich. „Ohne die Schuhe wäre es ja auch nicht schöner.“
Die Frage ist doch:
Bringt man die Schuhe extra mit
oder geht man
dann barfuß heim?
Erfahre man von Schuhen, die an Kabeln oder Leitungen hingen, heißt es bei der SWB, so prüfe man, ob dadurch Schäden entstanden seien oder eine Gefährdung von Leib und Leben vorliege. Gegebenenfalls würden Mitarbeiter die Treter dann entfernen. Die Bremer Polizei teilt mit, dass das Werfen von Schuhen auf Kabel, Ampeln oder Bäume nach dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz als Ordnungswidrigkeit gelte; es drohe ein Verwarnungsgeld von 35 Euro. Ob die hängenden Schuhe darüber hinaus eine Gefährdung darstellten, müsse jeweils im Einzelfall geprüft werden; zuständig sei in erster Linie das Stadtamt.
Die Turnschuhe der jungen, groß gewachsenen Frau, die mit ihrem Hund gerade die Kreuzung am Horner Eck überqueren möchte, sehen einem der Schuhpaare, die hoch über ihr baumeln, sehr ähnlich: „Chucks“ der Marke „Converse“. Weiß sie vielleicht, was es mit dem ominösen Luftschmuck auf sich hat? „Das ist so, wie irgendwas an die Häuser sprühen oder wie dieses Häkeln, glaube ich“, sagt sie, und dass es wohl aus den USA komme. „Aber genau verstehe ich das auch nicht.“ Sie lächelt entschuldigend.
Text und Foto: Tinka Lehn.