#24 FUCHSBERG – Sie kommen rein, damit sie nicht rein kommen: Ein Projekt führt straffällig gewordene Jugendliche mit Gefangenen zusammen, die erzählen, wie es ist im Knast. Eine Lehrstunde der Abschreckung
Alle paar Meter trennen Sicherheitstüren die schmalen, mit blauem PVC-Boden ausgelegten Gänge der Justizvollzugsanstalt Bremen-Oslebshausen. Alle paar Meter schiebt sich die Handvoll Jungen zu einem kleinen Menschenhaufen zusammen, bevor der Mechanismus der stählernen Pforten den nächsten Gang freigibt. Und noch einer. Und noch einer. Dann der Hof. An dessen anderen Ende geht es, begleitet von zahllosen, neugierigen Blicken der Gefängnisinsassen, geradewegs in das backsteinerne Schulgebäude der JVA. In der sommerlich heißen Luft liegt nicht nur die penetrant-explosive Mischung diverser Aftershaves und pubertärer Ausdünstungen, sondern vor allem eins: Anspannung. Wer hier landet, steht mit einem Bein im Knast. Buchstäblich. Was beruhigt, ist allein die Gewissheit, die JVA am Ende des Tages wieder unversehrt und als freier Mensch verlassen zu können. Diesmal jedenfalls noch.
In einem altmodischen Klassenraum warten Ben* und Riadh* in einem Stuhlkreis bereits auf die Gruppe, jede einzelnen begrüßen sie mit Handschlag. Nervöse Blicke wandern von einer Seite zur anderen. Von der notdürftig geputzten Kreidetafel zur gegenüberliegenden Wand, die bunt ausgemalte Mandalas zieren, neben einem Plakat mit der Aufschrift „Du kannst nix!“. „Ich würde gerne mit einer Vorstellungsrunde beginnen“, schlägt Andre Galdia vom Pädagogischen Dienst der JVA vor. Und ergänzt: „Natürlich wäre es schön, wenn ihr noch hinzufügen würdet, was ihr so auf dem Kerbholz habt.“
„Gefangene helfen Jugendlichen“ heißt das Projekt, das Jugendliche ab 14 Jahren, die bereits Bekanntschaft mit Bremens Gesetzeshütern gemacht haben, mit den Konsequenzen ihrer Missetaten konfrontiert. Es ist es dem gleichnamigen Verein in Hamburg angeschlossen, wo es bereits 1998 von Häftlingen ins Leben gerufen wurde und sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. In Bremen läuft es seit drei Jahren; Galdia betreut es gemeinsam mit Katharina Sylvia Lorenz. Auf seinen Animationsversuch entgegnet die Gruppe erst einmal mit großem Schweigen. Schließlich erbarmt sich David*. „Ich bin 18 und, joah …, hab Diebstähle gemacht, Sachbeschädigung …, was es da halt so gibt.“ Ihm folgen Acun*, Emir*, Sören* und Marik*, der „schon mal vier Tage in U-Haft saß“ und „das echt nich’ geil fand“.
Nur Playstation 1
Erst jetzt gilt die Aufmerksamkeit den beiden Häftlingen, die die Jugendlichen erwartet haben. Ben ist 29 und sitzt seit anderthalb Jahren in der JVA Oslebshausen ein. Insgesamt 12 Jahre hat er bereits hinter Gittern verbracht in seinem jungen Leben. Die Liste seiner Straftaten ist lang: „Körperverletzung, Diebstahl, Drogenhandel“, sagt er, leise seufzend, unterbricht sich schließlich selbst und gibt das Wort an seinen Mitinsassen weiter. Drei Jahre und neun Monate hat Riadh für mehrere kleinere und größere Diebstähle und Raub zu verbüßen. „2017 komme ich raus“, sagt der 28-Jährige. Die Jugendlichen nicken brav. Ihre Blicke verharren die meiste Zeit auf dem grauen, kratzigen Teppichboden, die Arme fest vor der Brust verschränkt. Als nächstes steht eine Fragerunde auf der Tagesordnung, und ohne Ordnung läuft insbesondere im Knast nichts.
Galdias Versuch, die Gruppe zum Reden zu bewegen, läuft zunächst erneut ins Leere. „Nichts, was ihr von den Häftlingen wissen möchtet?“, hakt er ungläubig nach. Wieder ist es David, der das Schweigen bricht. „Also, was ich schon immer mal wissen wollte“, stottert er: „Wie soll ich sagen … – habt ihr hier drinnen eure eigenen Gangs?“ Ben krallt sich an seine blaue „Alpha Industries“-Cap. Unter seinem hellgelben Shirt blitzen nicht nur einige Tattoos am rechten Oberarm, sondern in erster Linie Adern hervor, die sich wie Gartenschläuche bis runter zum Handgelenk schlängeln.
„Hier drinnen kämpft jeder für sich“, gibt er trocken zurück. Klar sei man auch Teil einer Gruppe, aber dennoch die meiste Zeit „ziemlich allein“. Die zweite Frage – der 19-jährige Sören stellt sie – lautet: „Kann man hier ’ne Playstation oder ’nen DVD-Player haben?“ „Eine Playstation 1, ja“, erklärt Riadh. Konsolen mit integrierten Festplatten und USB-Anschlüssen seien hingegen tabu. „Playstation und Gangs – sind das die wirklich wichtigen Dinge für euch?“, fragt Ben in die Runde. Eine Antwort wartet er nicht ab. „Das ist doch alles nicht wichtig!“, sagt er. „Was ist denn mit Familie, Freunden?“ Dann beginnt er zu erzählen. Ungefragt, aber auch ununterbrochen. „Freunde könnt ihr vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das Leben da draußen geht weiter – hier drinnen steht’s!“ Sein rotblonder Dreitagebart ist so akkurat gestutzt, dass er nur erahnen lässt, wie viel Zeit ein Häftling jeden Tag in seiner Zelle verbringt.
„Und Besuch“, führt er fort, „dürft ihr zwei Mal im Monat für jeweils eine Stunde bekommen, von maximal drei Leuten – aber redet mal mit jemandem über das, was euch bedrückt, wenn Mitinsassen nur wenige Meter von euch entfernt sitzen. Das hältst du nicht aus! Da heulst du los. Und ihr könnt euch nicht vorstellen, was ihr euren Familien damit antut.“
Was Frauen nicht wollen
Das Eis ist gebrochen, Frage folgt auf Frage. Ben und Riadh geben geduldig Auskunft über ihren Haftalltag: Über Freigänge, die daraus bestehen, eine Stunde wie getriebenes Vieh im Kreis über den Gefängnishof zu laufen. Über das Essen, an das sich ein Häftling mit normal funktionierenden Geschmacksnerven wohl niemals gewöhnt, und über das Glück, sich seine Zeit mit Arbeit zu vertreiben, die im besten Fall mit 1,60 Euro pro Stunde entlohnt wird.
Das Schweigen der Jugendlichen ist an diesem Nachmittag lauter als jedes gesprochene Wort. „Es geht nicht um Abschreckung und Konfrontation, sondern um sachliche Aufklärung“, steht auf der Internetseite der JVA Oslebshausen geschrieben. Erst neulich sei ein Häftling von Mitinsassen mit einem Besenstiel vergewaltigt worden, erwähnt Riadh beiläufig, während er den Reißverschluss seiner marineblauen und offensichtlich zu großen Trainingsjacke in unregelmäßigen Abständen auf und zu zieht. Drei Kleidergrößen habe er in den vergangenen drei Wochen abgenommen. „Habt ihr Freundinnen?“, will Riadh von den Jugendlichen wissen. Zwei der fünf nicken monoton, der Rest perfektioniert sein Schweigen. „Wenn du hier einsitzt, bist du das absolute Gegenteil von dem, was eine Frau will“, erklärt Ben. Es habe Zeiten gegeben, in denen er versucht habe, von hier drinnen aus eine Beziehung zu führen, doch „du machst dir immer einen Kopf um sie, fragst dich, was sie dort draußen treibt, während du hier drin sitzt. Du stehst mit ihr auf und gehst mit ihr schlafen – aber alles nur in deinem Kopf.“
Thematisiert werden auch berufliche Aussichten. „Ich will ab Oktober wieder zur Schule gehen“, berichtet Sören, „und danach Hotelmanagement studieren.“ „Schön“, freut sich Andre Galdia: „Aber glaubst du, das ist noch möglich, wenn du weiter Mist baust?“ Auch Ben mustert den Jungen mit rotbraunen Haaren: Jeans, „Adidas“-Hoodie und blitzeblanke „Nike“-Treter. „Kannst’e vergessen“, sprudelt es aus ihm heraus. Nicht einmal zum Putzen werde ein Ex-Knacki noch eingestellt heutzutage. „Hat denn noch jemand einen Plan? Vielleicht einen Traum?“, hakt Galdia nach. Schweigen. „Setzt alles auf Bildung, Leute!“, sagt Riadh schließlich. „Ihr könnt dealen, klauen, prügeln, aber das ist alles nur ein Spiel auf Zeit – vergesst das nicht.“
Nach rund anderthalb Stunden endet das ungewöhnliche Treffen. Die Verabschiedung fällt wesentlich herzlicher und vertrauter aus, als die Begrüßung. Auf dem Rückweg über den Hof lugt ein Häftling zwischen den Gitterstäben seiner Zelle hervor und ruft sichtlich erfreut in Richtung der Gruppe: „Ey Emir, was machst’n du hier?“ Man kennt sich halt.
*Alle Namen der Jugendlichen und Gefangenen geändert
Text: Sonja Gersonde
Illustration: Leonard Rokita