Neueste Artikel

„AUFKLÄRUNG IST FAST SCHON EIN SCHIMPFWORT“

#53 DOM: Früher war Horst Isola Landesvorsitzender der SPD, heute kämpft er für die Trennung von Staat und Kirche. Ein Gespräch über Lobbyismus, Auschwitz, die Sozialdemokratie und 20 Schläge

Haben Sie eine Mission, Herr Isola?

Mission wäre zu hoch gegriffen, aber ich habe politische Auffassungen und Grundsätze. Eine davon ist die Trennung von Kirche und Staat.

Geht es Ihnen nur ums Prinzip, oder was ist das Problem?

Religion ist Privatsache! Jede:r kann glauben, was er oder sie will. Das ist geschützt durch das Grundgesetz. Für mich ist es aber ein Prinzip der Demokratie, dass sich die Kirchen aus der Politik heraushalten. Wer sich auf ein nicht kontrollierbares höheres Wesen beruft, unterläuft die Demokratie. Was mich weiter stört, ist die Privilegierung der Kirchen mit Steuergeldern in Milliardenhöhe.

Was Sie also stört, ist die Bevorzugung der Kirche und nicht ihre Inhalte.

Ich bin Atheist. Was soll ich da zu den Inhalten der Kirche und deren Religion sagen, die gehen mich nichts an. Das Problem ist die fehlende Trennung zwischen Religion und Politik. Es gibt eine Reihe von Staaten, die den Laizismus verfassungsrechtlich festgeschrieben haben, etwa Frankreich. Nehmen wir das Thema Schule: mit Ausnahme von Bremen, Hamburg und Berlin ist in den Bundesländern der Religionsunterricht verpflichtend. Wer seine Kinder religiös erziehen will, kann das ja tun. Aber an öffentlichen Schulen hat Religion nichts zu suchen.

Aber kann man diesen Unterricht nicht so begreifen, dass man etwas über Religionen lernt?

Das ist auch unsere Forderung. Junge Menschen sollten wissen, was für Inhalte die Religionen haben, was sie tun und vor allem, was sie seit ihrem Bestehen angerichtet haben. Aber bitte keinen Verkündungsunterricht mit dem Ziel der Missionierung.

Aber in Deutschland hat man es doch geschafft, die politische Macht der Kirche zurückzudrängen.

Leider nicht. Trotz dramatisch rückläufiger Mitgliederzahlen ist der Einfluss der Kirchen in den letzten Jahren sogar gewachsen, sodass Kritiker:innen von einer Kirchenrepublik Deutschland sprechen. Warum? Die Kirchen tun so, als seien sie unverzichtbar im gesellschaftlichen und politischen Leben. Und sie haben überall ihre Lobbybüros, im Bund und in den Ländern, gefördert und unterstützt vom Staat und von fast allen Parteien.

Andere etwa nicht?

Natürlich machen auch die Gewerkschaften Interessenpolitik, aber sie sind keine Körperschaften des öffentlichen Rechts wie die Kirchen und erhalten auch keine finanziellen Zuwendungen in Milliardenhöhe vom Staat. Dagegen werden die Kirchen sogar beim Arbeitsrecht privilegiert: für ihre Mitarbeiter:innen gibt es beispielsweise kein Streikrecht und häufig nicht einmal Tarifverträge. Was ich noch viel schlimmer finde, ist das individuelle Arbeitsrecht. Die Kirchen dürfen ihre Mitarbeiter:innen diskriminieren, und das ist ihnen nach dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sogar noch erlaubt! Wenn etwa ein Arzt / eine Ärztin einer katholischen Klinik sich scheiden lässt und wieder heiratet, kann ihm / ihr gekündigt werden. Aber auch wenn er / sie eine homosexuelle Partnerschaft öffentlich macht oder sich positiv über Homosexualität, künstlicher Befruchtung oder Abtreibung äußert. Eine Diskriminierung, gebilligt und gewollt von unseren demokratischen Parteien!

Die vom Grundgesetz gedeckt ist.

Richtig, und die Rechtsprechung deckt diesen unglaublichen Zustand … Bis jetzt hat sich das Bundesverfassungsgericht immer auf die Seite der Kirchen geschlagen. Man muss sich das einmal vorstellen: da fliegen Reinigungskräfte bei kirchlichen Einrichtungen raus, wenn sie aus der Kirche austreten. Als ob es katholisches Operieren oder evangelisches Putzen gäbe! Allerdings zeichnet sich in den letzten Jahren bei einigen Gerichten ein Umdenken ab. In der Weimarer Verfassung steht, die Kirchen haben ein Selbstverwaltungsrecht. Die Kirchen sagen dagegen: Wir haben ein Selbstbestimmungsrecht und werden in dieser Auffassung vom Bundesverfassungsgericht unterstützt – gegen den Wortlaut des Grundgesetzes.

Was ist der Unterschied?

Nehmen wir den ADAC: Dieser Verein hat natürlich ein Selbstverwaltungsrecht, er kann also entscheiden, wie seine interne Verwaltungsabläufe zu regeln sind.  Aber er hat kein Selbstbestimmungsrecht: Der ADAC kann also nicht sagen, dass für seine Mitglieder die Straßenverkehrsordnung nicht gilt. Für die Kirchen aber wurde das für alle anderen geltende Arbeitsrecht außer Kraft gesetzt. Das halten wir Laizisten für einen Skandal. Aber ich sehe gegenwärtig kaum eine Chance, das zu ändern.

„Ich kann nicht religiös sein, dagegen spricht mein gesunder Menschenverstand“, sagt Isola.

Was wird aus den kirchlichen Kindergärten in Bremen, wenn die Kirchen ihre Privilegien verlieren?

Dann müssen sie zu den gleichen Bedingungen arbeiten wie beispielsweise die Arbeiter:innenwohlfahrt.

Die gerade in Bremen besonders SPD-nah ist.

Es gibt ja auch noch die staatlichen Kindertagesstätten.

In letzter Zeit war die staatliche Kita-Organisation in Bremen eher überfordert.

Na ja, jammern nach mehr Geld tun die Kirchen auch. Ich sage ja nicht, dass die Kirchen völlig raus sollen aus dem Geschäft. Aber es ärgert mich, dass sie sich öffentlich hinstellen und sagen, wir tun nur Gutes, während  der Sozialstaat zu mehr als 90 Prozent für die Unkosten aufkommt. Im übrigen sind Kindergärten ein schönes Missionierungsfeld für die Kirchen.

Die Bremer Verfassung ist bei der Trennung von Staat und Kirche ja sehr fortschrittlich. Woran scheitert es in der Praxis?

„Die Kirchen und Religionsgesellschaften sind vom Staate getrennt“, steht in Artikel 59 der Landesverfassung. Entgegen diesem eindeutigen Wortlaut haben wir in Bremen kurioserweise einen Kirchensenator.

Der gleichzeitig Bürgermeister ist.

Ja, das gibt es in keinem anderen Bundesland, nicht mal in Bayern. Wir haben doch auch keine:n Werdersenator:in.

Was liegt ihrer Partei, der seit 1945 regierenden SPD, an so viel Kirchennähe?

Die Bremer SPD ist in der Tat besonders kirchenfreundlich. Kirchenmitglieder sind Wähler:innen, ein großer Teil der SPD-Mitglieder ist in der Kirche aktiv. Dagegen ist im Prinzip auch nichts einzuwenden, obwohl es den Absturz der SPD in der Wähler:innengunst auch nicht verhindert hat.  Aber muss es sein, dass mittlerweile fünf Religionsvertreter:innen im Rundfunkrat sitzen? Immerhin hat neuerdings auch ein Vertreter des humanistischen Verbandes einen Sitz dort.

Der wiederum ist die einzig nennenswerte Lobby der Nicht-Gläubigen. Aber haben diese Menschen überhaupt ein gemeinsames Interesse?

Das Problem ist, dass Nichtkonfessionelle überwiegend desinteressiert sind, sich einzubringen und zu organisieren. Es gibt keine Bereitschaft, sich zu binden.

Woran liegt das?

Für die Bürger:innen ist die Frage von Politik und Kirche allenfalls sporadisch ein Thema. Andere Themen gehen vor: Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, Bildung und so weiter.

Man hat das Gefühl, dass die Laizist:innen in der SPD nur geduldet sind, weil Sie eine prominente Figur in der Partei sind.

Nach dem Motto: Lass ihm doch die Spielwiese? Vielleicht. Leider begegnen wir in der Partei, vor allem im Landesvorstand, erheblichen Vorbehalten bis zur schroffen Ablehnung.

Ist die wachsende Religiosität nicht Folge einer Verzweiflung an der Komplexität der globalisierten Welt?

Das würde sie erklären. Aber damit wird es ja nicht richtiger. Die Stärke der Leute, die immer mehr darauf drängen, dass Religion in die Politik kommt , um damit von den eigentlichen Problemen und deren Ursachen abzulenken, ist gleichzeitig die Schwäche von Leuten, die für mehr Aufklärung stehen. Aufklärung ist ja heute schon fast ein Schimpfwort.

Die Menschen verbinden vielleicht damit nicht Werte wie Mitmenschlichkeit und Barmherzigkeit, die die Kirche für sich reklamiert.

Dieser Trick läuft seit 2000 Jahren. Ich finde es anmaßend zu behaupten, dass nicht-religiöse Menschen keine Empathie haben.

Die Kirchen würden das auch nicht bezweifeln.

Das mag in Ausnahmefällen so sein. In der Regel aber reklamieren die Kirchen für sich die Monopolstellung in Sachen Nächsten- und Friedensliebe. Die Realität sieht oftmals anders aus, wenn man beispielsweise die empörende Rolle der katholischen Kirche im früheren faschistischen Franco-Spanien oder – aktuell – in Kolumbien betrachtet, wo sich hohe Kirchenvertreter nicht genieren, öffentlich zum Mord an Liberalen und Linken aufzurufen.

Angesichts der sinkenden Mitgliederzahlen: Erledigt sich der Einfluss der Kirche nicht auf die Dauer von allein?

Da können wir noch lange warten! Wir erleben gegenwärtig das Paradoxon, dass trotz dramatisch abnehmender Mitgliederzahlen die Religionsgemeinschaften noch mehr an politischen Einfluss gewinnen.

Wenn die Kirchen sich zurückzögen, wäre das Feld frei für Wirtschaftsverbände, zu denen die Kirchen ein Gegengewicht bilden. Wenn die Kirche keinen Lobbyismus mehr macht, haben andere noch mehr Raum, sich auszubreiten.

Das sehe ich nicht so. Es sind die Gewerkschaften, die ein politisches Gegengewicht zu den Wirtschaftsverbänden bilden und nicht die Kirchen.

Woher kommt Ihr laizistisches Engagement überhaupt?

Ich fand Religionsgeschichte schon immer spannend. Ich habe mich schon als Schüler viel mit der Bibel beschäftigt, vor allem mit dem Alten Testament. Ich war verblüfft, wie ein sogenanntes Heiliges Buch nur so von Geschichten über Mord und Totschlag wimmeln kann. In der vierten Klasse habe ich mal gesagt: Es gibt keinen lieben Gott. Dafür bekam ich 20 Schläge mit dem Lineal. Zu Hause sagte mein Vater dann: Das hast du richtig gemacht. Ich stamme aus einem katholischen Haushalt, aber meine Eltern waren schon aus der Kirche ausgetreten. 2010 habe ich dann den Gesprächskreis Laizist:innen in der SPD mitbegründet.

In einem Interview haben Sie mal gesagt: Wie kann man nach Auschwitz noch an einen gerechten und gütigen Gott glauben. Sind Sie deshalb Atheist?

Ich kann nicht religiös sein, dagegen spricht mein gesunder Menschenverstand. Kant hat gesagt „Sapere aude“ – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Diesen Wahlspruch der Aufklärung habe ich mir zeitlebens zur Lebensmaxime gemacht. Hinzu kommt, dass die Geschichte des Christentums eine einzige Kriminalgeschichte ist, in der die Religionen und deren Vertreter sich immer wieder als Brandstifter und Brandbeschleuniger betätigt haben. Und wenn ich an die tausendfachen Sexualverbrechen von Priestern in der jüngsten Zeit, begangen an Kindern, denke, das Sterben von Millionen von Kindern in Afrika und Asien, das Elend der Flüchtlinge, da frage ich mich, wie man da noch an einen allwissenden, allmächtigen und vor allem barmherzigen Gott glauben kann.

Horst Isola, 78, war in den siebziger Jahren Leiter einer Jugendstrafanstalt, später Senatsrat in Bremen und für die SPD von 1987 bis 2003 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft. 1991/92 war er zudem Landesvorsitzender der Partei. Seit 2010 ist als Sprecher für die Gruppe der Laizist:innen in der SPD aktiv.

Interview:
Philipp Jarke, Jan Zier
Fotos:
Jan Zier

#53 DOM

EDITORIAL: VON AUFKLÄRUNG UND WIDERSTAND

So recht kann er sich nicht mehr erinnern, wann er zuletzt im Dom war – zum Beten jedenfalls ist Horst Isola nicht gekommen, er hat es nicht so mit dem lieben Gott. Für uns war der SPD-Politiker dann aber doch mal wieder drin, nach einem langen Gespräch über die Trennung von Staat und Kirche (Seite 20). Er hat dazu eine klare Haltung, aber eine, die auch in den eigenen Reihen eher unpopulär ist.

Überhaupt haben wir mit vielen Menschen in der ganzen Stadt über den Dom gesprochen, und ihn aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, wie schon auf dem Titel zu sehen ist; weiter geht es auf Seite 14. Gleich neben dem Dom, im Bibelgarten, sind im Sommer neuerdings Bienenvölker zu Gast. Ob das geht, so mitten in der Stadt, und ob das mehr ist als nur ein Trend, den man heutzutage „urban beekeeping“ nennt, haben wir zum Ende der Saison den Imker Heiner Lenz gefragt (Seite 12).

Und wenn Sie schon mal an einem Montag vor dem Dom standen, am frühen Abend, ist Ihnen sicher auch diese kleine Schar demonstrierender Menschen aufgefallen, die seit über zehn Jahren jede Woche gegen Hartz IV und andere soziale Missstände in unserer Gesellschaft protestiert. Warum Sie immer noch weitermachen? Wo sich doch die meisten schon lange damit abgefunden haben? Seite 8!

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Philipp Jarke, Jan Zier
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08    Immer weiter

Seit 13 Jahren demonstrieren sie auf dem Marktplatz gegen soziale Ungerechtigkeit

12    Summende UntermieterInnen

Am Dom verbringen mehrere Bienenvölker ihren Sommer. Die Bedingungen dort sind gut

14    Ansichten einer Kirche

Bildstrecke

20    „Aufklärung ist fast schon ein Schimpfwort“ (online lesen)

SPD-Politiker Horst Isola kämpft für die Trennung von Staat und Kirche

24    Markt gegen Markt

Fünf Perspektiven auf Konkurrenz und Miteinander der Märkte auf dem Domshof

30    Treffen im Wahlkampf

Wohnungslose Menschen errichten eine Klagemauer vor der Bürgerschaft

Hintergrundfoto: Micha/flickr.com

Deutscher Bürgerpreis 2017 für die ZdS!

Die Zeitschrift der Straße hat am 23. Oktober im Bremer Regionalwettbewerb den Deutschen Bürgerpreis 2017 gewonnen! Den Preis nahm Michael Vogel als Initiator der Zeitschrift stellvertretend für ihre vielen Engagierten entgegen. Die Auszeichnung ist mit einer Spende der Sparkasse Bremen über 3500 Euro verbunden.

Der Deutsche Bürgerpreis ist der wichtigste deutsche Preis für ehrenamtliches Engagement mit über 2300 Bewerbungen allein in diesem Jahr. Auf den Wettbewerb auf regionaler Ebene, den wir nun gewonnen haben, folgt der Bundeswettbewerb. Er endet am 15. November mit der Preisverleihung in Berlin.

Bürgerpreisträger der verschiedenen Kategorien. Ganz links: Michael Vogel, Initiator der Zeitschrift der Straße (Quelle: M. Bahlo/nordbuzz)

Haben wir auch national eine Chance? Sieht ganz danach aus. Denn auf der Website des Deutschen Bürgerpreises wird die Zeitschrift der Straße in der Kategorie „Alltagshelden“ bereits als eine von nur drei nominierten Kandidaten geführt!

Drückt uns fest die Daumen, dann wird’s was.

Die Urkunde, das gute Stück, erhält einen Ehrenplatz in unserem Büro

RUNDGÄNGE GEGEN DAS UNWISSEN

Seit Mai bietet die Zeitschrift der Straße eine Tour an, die Bremen aus der Perspektive wohnungsloser Menschen zeigt. Zeit für eine erste Bilanz mit dem Initiator Reinhard ‚Cäsar‘ Spöring

 

Interessieren sich die Leute für soziale Stadtführungen in Bremen?

Reinhard Spöring: Ja! Die Bremer Schulbehörde und das Landesinstitut für Schule haben gerade eine offizielle Empfehlung an alle Bremer Schulen herausgegeben, unsere Stadtrundgänge im Unterricht zu berücksichtigen. Die Hochschule für öffentliche Verwaltung wird die Perspektivwechsel-Führung ab dem Wintersemester auf freiwilliger Basis anbieten. Das niedersächsische Bildungswerk aus Osterholz-Scharmbeck hat bereits eine Tour absolviert, die Hochschule Bremen für den Studiengang „Soziale Arbeit“ zwei Touren im Sommersemester 2018 gebucht. Und auch die Diakonie und der soziale Friedensdienst haben Interesse angemeldet.

Wie viele Perspektivwechsel-Touren habt ihr bisher schon gemacht?

RS: Bislang gab es fünf Touren mit insgesamt rund 100 TeilnehmerInnen, die vorwiegend aus der achten und neunten Klasse kamen.

Wie fällt deine Bilanz aus?

RS: Unsere vorherige Einschätzung, dass genau dieses Angebot in Bremen gefehlt hat, scheint sich zu bestätigen. Darauf deuten auch viele Reaktionen derjenigen Leute hin, mit denen ich vorab gesprochen habe. Sätze wie: „Toll, dass sich die Zeitschrift der Straße jetzt auch um dieses Thema kümmert“ waren da immer wieder zu hören.

Was wollen die TeilnehmerInnen von Euch wissen?

RS: Bei den jungen Leuten ist festzustellen, dass sie sehr häufig gar keine Ahnung von den sozialen Problemen gerade in Bremen haben. Sehr häufig wird gefragt: „Wie wird man obdachlos?“, auch Fragen zu Problemen mit Abhängigkeitserkrankungen und Sucht ganz allgemein werden häufig gestellt. In zwei Klassen wurden zusätzlich Besuche an der Schule organisiert, um das Thema aus der Sicht von Betroffenen zu bearbeiten und mehr darüber zu erfahren. Fragen wie: „Was kann ich tun?“ oder „Was muss geschehen?“ kamen zwar zaghaft – aber sie kamen immerhin.

Wie geht es mit dem Projekt weiter?

RS: Wir schauen erst einmal, wie sich die Zahl der Führungen entwickelt. Zusätzlich wollen wir weitere ehrenamtliche Tour-Guides finden und den Kontakt zu den Schulen weiter ausbauen. Außerdem hoffen wir, spätestens zum Anfang des kommenden Jahres Touren für „jedermann“ anbieten zu können.

Weitere Informationen und Anmeldung unter zeitschrift-der-strasse.de/pw

 

Text: Jan Zier
(Das Interview ist erschienen in Ausgabe #52 NELSON MANDELA PARK im Oktober 2017.)

 

DAS ÜBERSEHENE LEID

#52 NELSON MANDELA PARK: Neben dem Elefanten steht ein kleines Mahnmal – das bundesweit einzige seiner Art, das an den Völkermord an den Herero erinnert.

 Der Nelson-Mandela-Park beherbergt ein unscheinbares und oft übersehenes Mahnmal. Gleich neben dem Elefanten, der seinen Schatten auf einen kleinen Steinkreis wirft. Wofür steht dieser Kreis?

Es ist das bundesweit einzige Denkmal sein Art. Und erinnert an die Vernichtung der Herero in der Schlacht am Waterberg im Jahre 1904. Das Volk hatte sich gegen die deutsche Kolonialherrschaft aufgelehnt. In Erinnerung an diesen Völkermord wurden 2009 Steine aus der Omaheke-Wüste nach Bremen gebracht, um dort zusammen mit deutschem Beton und Kies einen kreisförmigen Erinnerungsort im Dialog mit dem Elefanten zu gestalten.

Bremens Rolle im Kolonialismus und der Herero-Genozid

Bremen war einst tief in den deutschen Kolonialismus verstrickt. 1883 kaufte der Bremer Tabakhändler Adolph Lüderitz – Namensgeber der Lüderitzstraße in Schwachhausen – mit betrügerischen Mitteln große Landstriche in Südwestafrika und stieg somit in den sogenannten „Scramble for Africa“ ein, den Wettlauf um Afrika, der in jener Zeit in ganz Europa stattfand. Erstmals wurde die deutsche Flagge auf afrikanischem Boden gehisst. In diesem Gebiet, dem heutigen Zentralnamibia, lebten im 19. Jahrhundert die Herero und Nama. 1904 kam es infolge lang andauernder Dürren zu einem Aufstand der einheimischen Bevölkerung.

Getrieben durch Existenzängste und die entwürdigende Behandlung durch die Kolonialherren wurden die deutschen Siedler von ihren Ländereien vertrieben. Das Kaiserreich reagierte resolut – und vergrößerte die Anzahl der Truppen im Land. Eine neu eingesetzte militärische Führung von Generalleutnant Lothar von Trotha erließ einen Vernichtungsbefehl. Die Herero wurden in die wasserlose Omaheke-Wüste nahe des Waterberges gedrängt und dort eingekesselt. Der Großteil des Volkes verdurstete, verhungerte oder wurde erschossen. Friedliche Lösungen schlossen die Deutschen aus, auch Frauen und Kinder wurden nicht verschont. Von 80.000 Herero sollen Schätzungen zufolge nur 15.000 überlebt haben.

Das Herero-Denkmal und die Symbolik der Versöhnung

Neben dem Herero-Denkmal im Nelson-Mandela-Park gibt es eine Informationstafel zur Historie, die einer Interpretation jedoch freien Raum lässt. Bei der Einweihung des Denkmals am 11. August 2009, dem Jahrestag der Schlacht am Waterberg, beschrieb der namibische Politikwissenschaftler und spätere Botschafter Namibias Peter Katjavivi das Dargestellte so: „Kies und Beton, die den Boden der runden Gedenkstätte bedecken, symbolisieren die Grundlage der Erinnerung. Die 300 kleinen Steine aus Namibia stehen für die unzähligen Opfer des Völkermordes, die vier größeren Felsbrocken stellen die Grundsteine der Versöhnung dar, die wir setzen müssen.“

Gudrun Eickelberg, eine der beiden Vorsitzenden des Vereins „Der Elefant!“, der sich heute um das Antikolonialdenkmal kümmert, beschreibt die vier großen Steine als die vier großen Kolonialmächte Deutschland, Frankreich, Belgien und England, die den ausgebeuteten Kolonien in Afrika, in Form von kleinen Steinen, gegenüberstehen. „Die Großen sprechen, die Kleinen hören. Doch die wahre Größe macht sich nicht an der bildlichen Größe fest, das versuchen die kleinen Steine den großen zu erklären. Das Mahnmal ist leise und trotzdem laut“, sagt Gudrun Eickelberg.

Deutschlands Verleugnung des Herero-Völkermords und die späte Entschuldigung

Eine lange Zeit musste vergehen, bis Deutschland sich überhaupt mit dem Geschehen am Waterberg auseinander setzte. Bis heute erkennt die Bundesrepublik den Völkermord an den Herero nicht als solchen an – gestützt auf das Argument, das der Fall verjährt sei. Das Thema wurde aus Politik und Medien verdrängt. „So konnten mit der Verneinung eines Genozids jegliche Entschädigungszahlung an die Opfergruppen vermieden werden“, kritisiert Eickelberg. Anlässlich des 100. Jahrestages der Schlacht kam es 2004 erstmals zu einer Entschuldigung. Die damalige Entwicklungshilfeministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) bat in Namibia offiziell um Vergebung für die Verbrechen der deutschen Kolonialherren. Der Begriff „Völkermord“ wurde jedoch auch hier bewusst vermieden.

Gespräche zwischen Namibia und Deutschland

Einige Jahre später machte sich die Bundesregierung für Vorwurf des „Völkermordes“ der Türkei an den Armeniern im Jahre 1915 stark – und deklarierte ihn als ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Die Türkei nutzte die Gelegenheit, um Deutschland an seine eigene Schuld in Afrika zu erinnern. Durch die Aufmerksamkeit, die dem Völkermord von 1904 nun zuteil wurde, führte für die Bundesregierung kein Weg mehr an der Auseinandersetzung mit der Thematik vorbei.

Momentan laufen Gespräche zwischen Namibia und Deutschland. Vertreter:innen der Hereros und Namas sind jedoch hierbei ausgeschlossen. „Die Gespräche wären von Seiten der Bundesregierung lieber vermieden worden. Die ganzen Verhandlungen wirken doch sehr alibimäßig“, sagt Gudrun Eickelberg. Aber auch wenn es am Ende zu Zahlungen an Namibia kommt, ist fraglich, ob dieses Geld wirklich den Opfergruppen zukommt. Vertreter:innen der Herero versuchen darum, sich durch eine Klage gegen Deutschland Gehör zu verschaffen.

Die unvollständige Aufarbeitung und die Forderungen aus Namibia

Die Umsetzung des Denkmals wurde durch das Bremen-Afrika-Archiv und dem Verein „Der Elefant!“ finanziert – die Stadt Bremen hat das Projekt finanziell nicht unterstützt. Die private und somit kostengünstige Umsetzung des Denkmals könnte in der Öffentlichkeit als eine Anspielung auf die Verweigerungen von Reparationszahlungen verstanden werden. Ohnehin dauerte es bis in die Neunziger Jahre, ehe erstmals Künstler:innen aufgerufen wurden, die Waterberg-Schlacht in einem Denkmal darzustellen. Manches davon war „nicht passend“, findet Eickelberg, etwa die Darstellung eines riesigen Brunnens. Schließlich sei ein Großteil der Herero seinerzeit verdurstet. Am Ende des Wettbewerbs wurde denn auch kein Sieger gekürt und das Projekt verlief allmählich im Sande.

2004 versprach dann der damalige Bürgermeister Henning Scherf (SPD) im Rahmen einer internationalen Versöhnungskonferenz den Opfergruppen ein Denkmal. Einige Zeit später wurde der Entwurf des Steinkreises von Thomas Gatter vorgelegt, einem Autor, Künstler und Archivar aus Bremen. Er ist über einen langen Zeitraum mit der Planung des Denkmals beschäftigt gewesen. Schließlich wurde das Mahnmal für die Opfer des Völkermords in Namibia 1904-1908 von dem Bremen-Afrika-Archiv errichtet.

Die Notwendigkeit einer gerechten Aufarbeitung

Virginie Kamche, Diplom-Informatikerin und Vorsitzende des Afrika-Netzwerks Bremen, sieht das Denkmal als einen passenden Anfang der Anerkennung des Völkermordes an den Herero und wünscht sich als nächsten Schritt ein gemeinsam erarbeitetes Erinnerungskonzept zur angemessenen Aufarbeitung des Genozids. „Wie soll man das Geschehene sonst groß entschädigen? Kein Leben ist mit Geld zu ersetzen. Dennoch gibt es viel zu tun: Die Bundesregierung soll sich damit auseinandersetzen, wie man mehr Solidarität erreichen kann, um solche Gräueltaten nicht nochmal geschehen zu lassen“, sagt Kamche. Wichtig sei eine Fairness zwischen Europa und den ehemaligen Kolonialstaaten, eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe und das Lernen aus der Vergangenheit. „Es muss über Details des Völkermordes gesprochen werden, vor allem mit Schülern“, so Kamche. Deutschland habe schon viel zu lange geschwiegen.

[Dieser Text ist die Langfassung des stark gekürzten Texts in der Ausgabe #52.]

Text:
Nike Frey
Foto:
Jan Zier

#52 NELSON MANDELA PARK

EDITORIAL: EIN ELEFANT WIRD ERKUNDET

Irgendwas mit Kolonialismus in Bremen sollten wir machen, haben sie uns an der Uni Bremen gesagt, denn: Das war ihr Schwerpunkt in den Kulturwissenschaften, in diesem Sommersemester. Nun, da gibt es viele Orte in Bremen, die einem einfallen, wenn es um die „Dekolonisierung der Stadt“ geht (so hieß das wissenschaft­soffiziell). Aber eigentlich ist es nur einer, der wirklich heraussticht: der Elefant im Nelson-Mandela-Park hinter dem Hauptbahnhof.

Also haben wir uns erst mal einen ganzen Tag lang da herumgedrückt, um zu sehen, was so passiert (Seite 8). Haben die Leute überhaupt eine Ahnung, was es mit dem riesigen Viech auf sich hat? Nicht unbedingt, wie auch unser Besuch im Hermann-Böse-Gymnasium zeigt, wo man dem einstigen „Reichskolonial­ehrendenkmal“ zwar ganz nahe, dann aber doch weit weg ist (Seite 18).

Das zeigt auch ein Gespräch, das wir mit Gudrun Eickelberg geführt haben, die sich seit Jahren schon um den Elefanten kümmert (Seite 16). Dabei wird ganz in der Nähe neuerdings rege geforscht und in der eigenen Vergangenheit gewühlt (Seite 12).

Andererseits finden auch wir, bei aller Liebe zur Uni, mit deren StudentInnen wir nun dieses Heft auf die Beine gestellt haben: Es kann nicht immer nur um die dunkle Vergangenheit gehen! Man muss auch mal raus – manchmal auch jeden Tag, wie die 128.000 Menschen, die täglich nach Bremen pendeln (Seite 26). Und dann ist da noch ein wichtiges Anliegen, das den Nelson-Mandela-Park betrifft, aber ganz besonders auch unsere VerkäuferInnen: ein öffentlicher Trinkwasser­brunnen (Seite 22).

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Philipp Jarke, Jan Zier
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

 

Aus dem Inhalt:

08    Marlon, Claudia und die Frage nach der Romantik

Ein Tag und eine Nacht am Fuße des Elefanten

12    Alles nur geklaut?

Das Übersee-Museum erforscht seine eigene Sammlung

16    „Keinen Strich drunter!“

Die Vorsitzenden des Vereins „Der Elefant!“ über Nazi-Kunst, Erinnerungsarbeit und desinteressierte Schulen

18    Fest verankert in der Nische

An Bremer Schulen spielt Kolonialismus kaum eine Rolle

22    Nicht mal ein Tropfen auf den heißen Stein

Das Menschenrecht auf Trinkwasser wird in Bremen mit Füßen getreten

26    Hin und zurück, immer wieder

Zig Tausende pendeln nach Bremen. Was ist so attraktiv an dieser Lebensform?

30    Rundgänge gegen das Unwissen

Die ZdS zeigt Bremen aus der Perspektive wohnungsloser Menschen. Eine erste Bilanz

Online: Das übersehene Leid

Neben dem Elefanten steht ein kleines Mahnmal – das bundesweit einzige seiner Art, das an den Völkermord an den Herero erinnert.

 

Hintergrundfoto: Open Grid Scheduler/Grid Engine/flickr.com

WIE MAN SICH SEIN HOBBY ABGEWÖHNT

#51 WALLER PARK: Erich Schneider führt seit zwei Jahren einen Modellbauladen. Gern würde er mehr Kinder in seinem Geschäft begrüßen, aber seine Kundschaft wird immer älter (Online-Artikel)

Das Handy in Erich Schneiders Brusttasche klingelt. Er wirft einen kurzen Blick drauf und schüttelt den Kopf. „Nicht der schon wieder“, murmelt er und sagt etwas geheimnisvoll: „Das meinte ich vorhin mit der Sozialstation.“ Schneider kauft und verkauft Modelleisenbahnen und Modellbauzubehör. Der kleine, vollgestellte Laden an der Ecke Gröpelinger Heerstraße/Altenescher Straße sieht aus, als stehe er schon seit sehr langer Zeit dort. Tatsächlich gibt es „Erich’s Modell-Shop“ aber erst seit zwei Jahren. Schneider, 57 Jahre alt, besaß vorher eine kleine Spedition. Weil sich das aber nicht mit seinem Leben als alleinerziehender Vater vertrug, begann er, hauptberuflich in einem Modellbauladen zu arbeiten, in dem er vor dem Studium schon gejobbt hatte. Als dieser, wie so viele andere auch, den Betrieb einstellte, entschloss sich Schneider, einen eigenen Laden zu eröffnen.

Erschwingliche Lösungen für passionierte Bastler

Ein alter Herr kommt langsam, sich an den Regalen abstützend, in den Laden. „Ich muss zum Jahresende aus meiner Wohnung ausziehen und hab‘ so ’ne kleine zarte Modellbahn, vier Meter mal eins-fuffzig.“ „H0 oder N?“, fragt Schneider. „N.“ Die Abkürzungen stehen für die beiden gängigen Größen im Modellbau. Als alle weiteren technischen Details geklärt sind, macht Schneider mit dem Herrn für die folgende Woche einen Termin aus.

„Erich’s Modell-Shop“ ist auf den Secondhandhandel spezialisiert. Denn Modellbau ist kein billiges Hobby, die steigenden Neuwarenpreise können sich viele nicht mehr leisten. Die Digitalisierung ist auch in diesem Bereich angekommen, wodurch die Modelle und die Technik immer perfekter und aufwendiger werden, gleichzeitig aber auch immer teurer. Die Secondhand-Preise liegen etwa bei der Hälfte der Neupreise, manchmal noch darunter.

Landschaften, Gebäude und Details für Eisenbahn-Enthusiasten

Wer dem Hobby Modelleisenbahn mit dem nötigen Ernst nachgeht, braucht nicht nur Schienen, Lokomotiven und Waggons, sondern auch Landschaften und Gebäude und Leben drum herum. Kleine Imbissbuden, Hopfenfelder oder das Figuren-Set „raufende Jugendliche“, bei Schneider kann man fast alles finden, natürlich auch künstlichen Qualm und Soundmaschinen, die Vogelgezwitscher oder Autolärm imitieren. Manche Modellbauer spezialisierten sich auf eine ganz bestimmte Zeit, erzählt Schneider. Da kämen nur zeitgenössische Züge auf die Schienen, beispielsweise aus den 70ern, auch die Umgebung sei dann entsprechend angepasst.

Warum Kinder immer weniger Interesse zeigen

Obwohl Modellbau geradezu als Archetyp aller Hobbys bezeichnet werden kann, fehlt allerdings der Nachwuchs. „Kinder kommen eher selten in den Laden“, sagt Schneider, der Modellbau für eine sehr sinnvolle Beschäftigung für Kinder hält. Man lerne mit Strom, Holz und Metall umzugehen und  Landschaften zu gestalten. Einige Modellbauer beschäftigten sich außerdem mit dem „großen Vorbild“, der richtigen Bahn und ihrer Verkehrspolitik.

Dass Kinder all dies immer weniger interessiert, liegt laut Schneider auch an den „verpassten Chancen“ der Hersteller. Die Kinderserie mit Thomas der kleinen Lokomotive beispielsweise sei wie dafür gemacht, Kinder für elektrische Eisenbahnen zu begeistern. Und tatsächlich gibt es eine englische Firma, die die blaue Lokomotive mit dem freundlichen Gesicht für den Modellbau anbietet. Schneider hat davon mehrere verkauft und auch noch ein Exemplar im Laden; er findet es aber völlig unverständlich, dass es nicht das kleinste bisschen Werbung für den elektrischen Thomas gibt.

Erinnerungen an die Werft und die Kunst des Modellbaus

Ein weiterer älterer Herr erscheint in der offenen Ladentür. „Na“, begrüßen sich die beiden Männer. „Die erste, die anderen beiden von der HMV hab ich vergrößert“, sagt der ältere Herr und stellt ein Schiffsmodell aus Papier auf den Tisch. Schneider weiß, wovon die Rede ist, und begutachtet fachmännisch die frisch lackierte „Oldenburg“. „Das ist jetzt der Kleine in 1:87, ne?“ – „Nee, der in 1:100.“ Der Geruch des Lacks erinnert Schneider an Leinöl und an seine erste Ausbildung auf einer Werft. Schürenstedt in Werne, „die sind ein paar Jahre vor der AG Weser kaputt gegangen.“ – „Da, wo die Schiffe am Deich stehen?“ – „Ja, genau, die sind da den Deich runtergerutscht. Und irgendwann rutschte da gar nichts mehr runter, da haben wir dann mit 400 Mann zu Weihnachten unsere Kündigung gekriegt.“

Die unerwartete Rolle im Modellbauladen

Der Großteil von Schneiders Kunden sind ältere Männer, viele davon alleinstehend. Für diese Klientel ist er nicht nur Verkäufer, sondern manchmal auch das offene Ohr, das die Einsamkeit daheim zu überbrücken hilft. „Man hat manchmal so’n bisschen das Gefühl, man übernimmt hier unentgeltlich die Aufgabe einer Sozialstation“, sagt Schneider.

Während Schneider in seinem Laden steht und passionierten Bastlern das nötige Zubehör verkauft, stagniert seine eigene Modellbahn zu Hause schon seit Jahren. Wenn man den ganzen Tag im Laden stehe, wolle man zuhause auch mal etwas anderes machen. „Die beste Methode, sich ein Hobby abzugewöhnen, ist, es zum Beruf zu machen“, sagt er.

Aus ökonomischer Sicht, sagt Schneider, lohne sich solch ein Laden nicht wirklich. Man müsse schon ein wenig verrückt sein, um einen solchen Beruf zu haben. Aber: „Wenn man da einmal mit angefangen hat, ist es nicht so leicht, wieder aufzuhören.“

Text:
Teresa Wolny
Fotos:
Lena Möhler

GELEGENTLICH ZIEMLICH MODERN

#51 WALLER PARK: Besuch bei einem Radiomoderator, der wenig spricht, kein Smartphone besitzt und selbst aus seinem Namen ein Geheimnis macht

Die zarten Klänge der Band Passenger werden ausgeschaltet. Lange graue Locken werden zu einem Zopf zusammengebunden, die Kopfhörer aufgesetzt. Stille tritt ein bis melancholisch-asiatische Gesänge einsetzen; die Anfangsmelodie des Therapeutischen Radios. Windy Jacob, der Moderator, summt die Melodie mit, um sich selbst zu beruhigen. Er wirkt angespannt, kommt aber zur Ruhe, sobald er die ersten Worte auf Chinesisch gesprochen hat. Es ist zu einem Ritual geworden, dass Jacob seine Sendung auf Chinesisch anmoderiert. Warum? Das weiß keiner so genau. Aber so kennen seine HörerInnen ihn und seine leicht kryptische Zwischenmoderationen, die nicht immer Sinn ergeben müssen. Oft wird etwas angerissen, aber nicht wirklich ausgeführt, sodass die Hörerinnen und Hörer in einer gewissen Unwissenheit bleiben. Aber so ist Windy Jacob, der selbst aus dem Ursprung seines Namens ein echtes Geheimnis macht.

„Sorry, ich habe nicht aufgeräumt.“ So begrüßt uns Jacob in seinem kleinen Tonstudio in der Kulturwerkstatt Westend in Walle. Der lichtdurchflutete Raum wirkt ein bisschen chaotisch, aber gemütlich. Auf Tischen und in Regalen liegen Tausende Veranstaltungsflyer herum, viele CDs, kleine Notizen und Kartons, dazwischen eine Teedose aus Sri Lanka, alkoholfreier Sekt und ein altes analoges Radio. In der Ecke stehen sein Pult und die Mikrofone. In dem Rest des Raumes sind zwei Tische mit mehreren Sesseln verteilt.

Jacobs Leidenschaft für Radio und seine unkonventionellen Sendungen

Jacob ist 55 Jahre alt und verdient sein Geld mit Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für die Kulturwerkstatt, seine Leidenschaft aber ist das Radio. Jeden zweiten Donnerstag macht er seine Sendung „westendRADIO“, jeden Dienstag das Therapeutische Radio. Beides zu hören im offenen Kanal von Radio Weser.TV. Im „westendRADIO“ geht es um Themen rund um das Westend, das „Therapeutische Radio“ aber ist Jacobs ganz eigener Spielplatz. „Wir therapieren alles und jeden, nur uns selbst nicht“, sagt er in seiner Sendung. Tatsächlich aber stammt der Titel daher, dass sein ehemaliger Radiopartner damals eine experimentelle Fernsehshow namens „Therapeutisches Fernsehen“ moderierte, „in der er völlig schräge Sachen ausprobierte“, sagt Jacob. Und so wurde der Name des Therapeutischen Radios geboren. Jacob wird für die Sendung nicht bezahlt und steckt doch seine ganze Leidenschaft hinein.

Ein unkonventioneller Musikstil bei völliger Freiheit im offenen Kanal

„Wenig Moderation und ganz viel Musik“, so beschreibt Jacob selbst seine Sendung, „das kann man im offenen Kanal halt machen.“ Einmal spielte er einen 50-minütigen Song am Stück. Auf die Songs geht er nur kurz ein, die Musik spricht für sich. Jacob spielt nur, was ihm selbst gefällt. Da lässt er sich von niemandem reinreden. Größtenteils laufen also Stücke von Singer-Songwritern, Akustik, ruhige Klänge und meditativ-orientalische Musik. Dabei achtet er mehr auf die Stimme als auf den Text: „Die Botschaft interessiert mich gar nicht. Mir geht es eher um den Klang und den Flow.“ Auch die Quote ist ihm egal, „das wird doch sonst immer angeglichener! Es gibt keine Analyse, wie viele Leute zuhören, weil ja auch keine Werbung gespielt wird. Deshalb kann ich auch so agieren, wie ich möchte, und muss mich nicht an irgendwelche vorgefertigten Texte halten!“

Die Quote ist ihm völlig egal

Jacob macht sein eigenes Ding, auf die ganz altmodische Art. Er besitzt kein Smartphone und hat kein Wlan zu Hause. „Das bringt doch nichts!“, sagt er. Heutzutage habe jeder die Befürchtung, etwas zu verpassen und ständig sein Handy abchecken zu müssen. Für die jungen Menschen gebe es durch die Medien keine Notwendigkeit mehr, selbst zu denken. „Ich finde es wichtig, eine eigene Meinung zu haben und auch mal etwas infrage zu stellen“, sagt Jacob. Er genießt die ungewohnte Umgebung, wenn er sich mal mit seinem Fahrrad verfährt, und ist stolz darauf, auf unbekannte Menschen zuzugehen und sie nach dem Weg zu fragen. „Heutzutage ist Kommunikation wichtig. Man muss tolerant sein und reden können, miteinander kommunizieren.“ Sein gelegentlicher Co-Moderator Klaus Klaemena sagt, Jacob kopple sich immer mehr ab: „Er schreibt noch Briefe! Er ist kein moderner Mensch, eher traditionell.“

Wlan zu Hause? Ein Smartphone? Das bringt doch nichts!

Windy Jacob ist das Haptische lieber, weshalb er auch nicht einfach vom Laptop sendet. Da geht manchmal auch etwas schief. Einmal zum Beispiel gab es kein Sendesignal. Was passierte dann? „Ruhe bewahren.“ Als im Radio eine Minute lang nichts passierte, kam automatisch Musik vom Band. „Ich habe die Sendung trotzdem durchgezogen und dem Studiogast nichts davon erzählt. Ich habe das Ganze aufgenommen und später einfach nochmal ausgestrahlt.“ Für Jacob relativieren sich alle Dinge sowieso, weshalb er kleine Patzer nicht so eng sieht.

Jacob sagt, Musik sei sein Leben, er selbst spielt Gitarre und Rahmentrommel und hat in seiner Vergangenheit sogar drei Jahre lang Bauchtanzunterricht genommen. Er hatte schon immer viel Radio gehört und Briefe an seine Lieblingssendungen geschrieben, um sich Songs zu wünschen. Um aufzufallen, hat Jacob die Briefe schon mal parfümiert oder in Sütterlin geschrieben. Meistens wurden seine Wünsche erhört.

Vom ersten Radioerlebnis zur spontanen Magie des Therapeutischen Radios

Nach Bremen kam er 1980. Wegen einer verlorenen Wette musste er damals vier Stunden lang live im Radio chinesisches Essen kochen. Mit zwei Fahrrädern und vier großen Taschen seien sie damals zum Radiosender „Bremen Vier“ gefahren. Als Mitte der 1990er-Jahre der Offene Kanal mit vielen freien Sendeplätzen an den Start ging, hat Jacob seine Chance ergriffen und mit einem Freund zusammen das Therapeutische Radio gegründet. Nun konnte er seine Lieblingsmusik spielen, ohne Briefe schreiben zu müssen.

670 Sendungen hat Jacob bislang gemacht, etwa vierzig davon mit seinem Freund Klaus Klaemena. „Zu zweit ist alles ganz anders“, sagt Jacob. Klaemena und Jacob spielen ihre Songs abwechselnd, ohne dass der andere vorher weiß, welche es sein werden. Während ein Lied von Klaemena spielt, wählt Jacob spontan den nächsten Song aus. Jacob gefällt der Ansporn und das Adrenalin: Alles soll zusammenpassen und sich einem großen Oberthema fügen. Nebenbei essen die Moderatoren Chips und trinken alkoholfreien Sekt. Gesprochen wird dabei nicht viel, aber Jacob sagt, in den Songs steckten manchmal heimliche Botschaften an seine Lieben: an Freunde, Menschen die ihm sehr nahestehen oder an seine Freundin.

„So, und jetzt eine Hammermoderation zum Abschluss“, sagt Jacob leicht ironisch zu Klaus Klaemena. Es gibt eine kurze Abschiedsformel, dann ein Handzeichen zum Schlussspann. Nach 23 Liedern in zwei Stunden erklingt die Abschlussmelodie. Und es wird erst mal ausgeatmet.

Text:
Maha Vollmer
Foto:
Lena Möhler

#51 WALLER PARK

EDITORIAL: EIN HEFT VON DER UNI

Dieses Heft ist ein klein wenig anders als unsere gewöhnlichen Ausgaben: Es ist das Ergebnis eines Schreibworkshops an der Universität Bremen. Angeleitet durch die Redaktionsleiter der Zeitschrift der Straße, erarbeiteten sich Studierende der Kulturwissenschaften und anderer Fachrichtungen die Grundlagen journalistischer Arbeit, um dann rund um den Waller Park nach Themen, interessanten Personen und Geschichten zu suchen.

Dominant in der Gegend ist der Friedhof, nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch durch die rundherum ansässigen Gewerbetreibenden: Blumenhändler, Gärtner, Bestatter, dazu viele Steinmetze. Einen von ihnen haben wir in seiner Werkstatt besucht und erfahren, warum man für Grabsteine durchaus eine Leidenschaft entwickeln kann (Seite 28). Auf dem Friedhof trafen wir Heinz Räck, der hier seit 40 Jahren den Rasen, die Bäume und all das andere Grün zwischen den Gräbern pflegt (Seite 12).

Gleich vor dem Friedhofstor steht die Kulturwerkstatt Westend. Vor 25 Jahren für die Arbeiterschicht gegründet, treffen sich hier heutzutage kunstinteressierte Menschen aller Couleur (Seite 18). Dort arbeitet auch Windy Jacob, ein Radiomoderator alter Schule mit vielen Geheimnissen (Seite 14).

Außerdem haben wir erfahren, dass es mit der Eissporthalle Paradice zwar vorangeht, die Situation der Angestellten aber noch nicht paradiesisch ist (Seite 8). Und das örtliche Jugendzentrum hat zwar mittlerweile etwas mehr Geld, kommt damit aber vorne und hinten nicht hin (Seite 24).

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Philipp Jarke, Jan Zier
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt:

08    Kein Eis im Sommer

Obwohl die Eishalle gute Besucherzahlen hat, ist das Geld knapp

12    Gut gelauntes Gepfeife um kurz nach sechs

Heinz Räck ist seit 40 Jahren Gärtner auf dem Waller Friedhof. Eine Zwischenbilanz

14    Gelegentlich ziemlich modern (online lesen)

Ein Radiomoderator der selbst aus seinem Namen ein Geheimnis macht

18    Arbeit an der Kunst

Das Kulturzentrum Westend wird 25.

20    Manche Wunden heilen nie

Wie eine Mutter, die ihren Sohn durch einen Unfall verlor, ihren Lebensmut wiederfindet

24    Kein Geld fürs Mittagessen

Jugendfreizeitheime leiden unter finanziellen Nöten. Besuch in einer Mädchengruppe

28    Was bleibt, ist der Stein

Björn Niehues fertigt Grabsteine. Die Leute wollen es leicht haben, sagt er, eher klassisch und traditionell

Nur online: Das Westbad um halb acht

Das 42 Jahre alte Hallenbad in Walle soll modernisiert werden. Früh morgens, wenn das Wasser noch glänzt wie ein polierter Spiegel, wirkt es schön wie am ersten Tag

Nur online: Wie man sich sein Hobby abgewöhnt

Erich Schneider führt seit zwei Jahren einen Modellbauladen. Gern würde er mehr Kinder in seinem Geschäft begrüßen, aber seine Kundschaft wird immer älter

Hintergrundfoto: Stuerzender Horizont/flickr.com

DAS WESTBAD UM HALB ACHT

#51 WALLER PARK: Das 42 Jahre alte Hallenbad in Walle soll modernisiert werden. Früh morgens, wenn das Wasser noch glänzt wie ein polierter Spiegel, wirkt es schön wie am ersten Tag (Online-Bildstrecke)

Bremens Drittklässler haben einmal pro Woche Schwimmunterricht, und der ist dringend nötig: Etwa die Hälfte der 4.600 Acht- bis Neunjährigen kann zu Beginn des Schuljahres nicht schwimmen. Schlimmer noch: „Viele der Kinder haben noch nie ein Schwimmbad von innen gesehen“, sagt Sabrina Winkler, Schwimmeisterin im Waller Westbad. Wir wissen nicht, ob unser Fotograf Benjamin Eichler schwimmen kann. Sicher ist: Er hat sich das Innere des Westbads ganz genau angesehen und dabei wunderbare Bilder gemacht.

Fotos:
Benjamin Eichler
Text:
Philipp Jarke