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DIGITALE KARTOGRAFIE

#33 FALKENSTRASSE – Eine bunte Gruppe von Hacker:innen arbeitet an einer besseren Weltkarte

Hackerspace. Das klingt nach einem vertrackt zwielichtigen Hinterzimmer. Und ist doch das Gegenteil: ein Ort, an dem getüftelt, verändert und erarbeitet wird – offen in jeglicher Hinsicht. Der Hackerspace Bremen wurde Ende 2011 als Verein gegründet. Er hat 53 Mitglieder und doppelt so viele Aktive. Nerds im besten Sinne: Technikbegeisterte jeden Alters, Informatiker:innen, Elektroniker:innen und Bastler:innen. Sie treffen sich in sogenannten Usergroups und gehen gemeinsamen Hobbys in Kreativwerkstätten und Workshopräumen nach. Wichtigstes Mitglied – so hört man – sei der Grill. Der laufe eigentlich immer. Beim Betreten des Hinterhofs in der Bornstraße liegt allerdings ein anderer Geruch in der Luft. Von einem Lasercutter ziehen beißende Dämpfe herüber. Anfang des Jahres hat eine Teespedition auf der anderen Hofseite zusätzliche Räume zur Verfügung gestellt. Hier wird gelötet, geätzt und in 3D gedruckt. Aber auch geruchsneutral mit der Stickmaschine und einem Plotter an großflächigen Plakaten gearbeitet.

Eine der Usergroups, die monatlich Platz, Infrastruktur und Technik des Hackerspace nutzt, ist die OpenStreetMap-Gruppe (OSM). Früher trafen sich die „Mapper:innen“ im Dunstkreise des Chaos Computer Clubs. Zum festen Kern der offenen Gruppierung gehören der Mathestudent Tobias Mettenbrink, der segelfliegende Informatiker Arne Berthold sowie der frühere Elektroingenieur und heutige Rentner Günther Meyer. Bei OSM geht es nach eigener Darstellung darum, eine Alternative zu kostenlos im Internet verfügbaren Karten wie Google Maps bereit zu stellen. Diese dürfen häufig nur privat genutzt und nicht weiterveröffentlicht werden. Zudem sind solche Angebote oft weniger vollständig und aktuell. Auch lassen sich die fertigen Kartenbilder kaum personalisieren, weil der Zugriff auf dafür nötige Hintergrunddaten fehlt. Um dies zu überwinden, trägt eine Community von 2,3 Millionen digitalen Kartograph:innen weltweit Rohdaten zusammen. Die Zeitschrift der Straße traf sich mit der Bremer OSM-Gruppe im Hackerspace, um mehr über die Funktionen und das soziale Gewissen der Community zu erfahren.

Berthold: Es geht dabei um mehr als die bloße Darstellung der Daten als grafische Karte im Netz. Jeder kann die Bilder lizenz- und gebührenfrei ausdrucken, muss nur die Mitwirkenden als Quelle angeben.

Mettenbrink: Beim Einzeichnen von Objekten in die Karten sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Es geht z.B. um Zusatzinformationen wie Öffnungszeiten oder Webseiten von bestimmten Geschäften. Diese werden teilweise sogar von den Ladeninhabern selbst beigetragen, finden sich dann jedoch häufig eher in Spezialkarten.

Meyer: Wichtig ist auch die Funktion als Navigationssystem. Der kommerzielle Marktführer Tomtom ist gut, fast jeder Autofahrer kann damit umgehen. Aber es gibt Diskussionen darüber, wer mehr Straßen und Wege hat. Je nach Studie ist mal OSM und mal Tomtom vorn.

Berthold: OSM ist vergleichbar mit Wikipedia. Jeder kann etwas beitragen. Daten zu erfassen und sich einzuarbeiten ist nicht schwer. Unsere Treffen sind ein guter Anlaufpunkt, um erste Schritte zu machen.

Mettenbrink: Es ist die perfekte Spielwiese für Anfänger:innen. Man kann sich erst offline ausprobieren, bevor Änderungen wirksam werden. Von der Gruppe erhalten Neulinge häufig Unterstützung bei Problemen und bekommen Vorschläge zur Umsetzung. Zu Kernthemen herrscht in der Community meist ein Konsens, bei strittigen Dingen wird erst einmal in Foren und Wikis abgestimmt.

Meyer: Oft sind Daten um Schulen herum sehr genau, weil Schüler:innen mitarbeiten. Natürlich wird gerne behauptet, man würde mit dem OSM-Navi stranden, weil nur Quatsch darin stehe. Das übliche Wikipedia-Argument. Wirkliche Fehlinformationen oder Täuschungen verschwinden jedoch schnell. Änderungen lassen sich nachvollziehen und Trolle werden gebannt. OSM ist meist viel detaillierter. Die Großen fühlen sich bestimmt einfach bedroht. Vor allem ist OSM meist schneller, weil die „Mapper“ mit ihren GPS-Geräten in der Nachbarschaft unterwegs sind und direkt Neuigkeiten wie Baustellen einzeichnen.

Berthold: Die Abdeckung ist abhängig von der lokalen Community. Bei Straßen kann man sich deutschlandweit auf OSM verlassen, bei Hausnummern auf dem Lande vielleicht weniger. Aber da sind die kommerziellen auch unsicher. Es ist ein Ehrgeiz der Mitwirkenden, stets aktuell und umfassend zu sein.

Berthold: Man stellt z. B. online fest, dass in den OSM-Karten und -Datenbanken irgendwo noch Hausnummern fehlen. Dann fährt man, je nach Geschmack mit einem Kartenausdruck, einer App oder einem Diktiergerät, dorthin, zeichnet ein, was man online ergänzen möchte, und überträgt es später ins Programm. Man darf erfassen, was öffentlich zu sehen ist. Verboten wäre es, per Selfiestick über Zäune zu spähen oder persönliche Namen zu nennen.

Mettenbrink: Seitdem der OSM-Gründer Steve Coast bei Microsoft Bing arbeitete, stehen von dieser Seite auch Satellitenbilder zum Abzeichnen von z. B. Flüssen wie der Weser zur Verfügung.

Mettenbrink: Für mich geht es um lizenzfreie Karten für Softwareprojekte oder die Offline-Nutzung auf dem Smartphone. Außerdem ist mir Privatsphäre wichtig. Kommerzielle Anbieter:innen erstellen oft Bewegungsprofile im Hintergrund.

Berthold: Ich habe mich irgendwann gefragt, was man mit dem GPS-Empfänger fürs Segelfliegen noch so anstellen kann. In Delmenhorst gab es noch weiße Flecken im Kartennetz, da wurde ich neugierig.

Meyer: Ich wollte aus Freude über die kostenlosen Karten gerne etwas zurückgeben.

Mettenbrink: Günther [Meyer] ist damals nach einer „Mapper:innen“-Party dabei hängen geblieben und inzwischen ein Aktivposten.

Mettenbrink: Das ist schwer zu sagen.

Berthold: Die „Mapper:innen“ sind sehr unterschiedlich aktiv. Ich habe z. B. 2008 angefangen, war aber zunächst selten bei den Treffen. Trotzdem ist Bremen insgesamt ziemlich gut erfasst.

Mettenbrink: Ja, es gibt sehr viele Details. Beispielsweise die Tiergehege im Bürgerpark. Oder auch so genannte Shelter, also Plätze zum Unterstellen oder Zuflucht suchen.

Mettenbrink: Die Daten liegen zentral vor, daher ist es einfach Spezialkarten zu bauen, z.B. für Rad- und Wanderrouten, Skipisten, Nahverkehr oder Briefkästen. Oder eine Mate-Karte, die zeigt, wo der/die nächste Mate-Händler:in für die Szene-Brause ist. Es gibt auch Wheel-Maps, die Barrierefreiheit für Rollstuhlfahrer:innen anzeigen.

Berthold: Dafür liefern Rollstuhlfahrer:innen übrigens aus erster Hand Details u. a. zu Straßenbelägen und sind Teil der Community.

Mettenbrink: Bei Hydrantenkarten für Rettungskräfte sind es oft freiwillige Feuerwehren, die die Pläne pflegen. In Ostfriesland gibt es eine Crisis Map mit Rettungsplänen für Katastrophen. Und das Humanitarian OpenStreetMap Team hat bei den Erbeben- und Flutkatastrophen in Nepal und Haiti tolle Arbeit geleistet. Der weltweiten Community wurden Satellitenbildern von Firmen zur Verfügung gestellt. Daraufhin hat sie sich koordiniert und die betroffenen Gegenden ausgearbeitet. So konnten sich Helfer:innen vor Ort anhand aktueller Karten orientieren und zu Dörfern vordringen, die sonst kaum zu finden gewesen wären. Auch das Rote Kreuz war sehr froh über dieses kostenlose Material. Es gibt auch Karten von Flüchtlingscamps in Syrien mit Wasserstellen und Ärzt:innen. Bei Google ist da nur Wüste.

Mettenbrink: Denkbar wäre es, speziell Hilfsangebote für Obdachlose und Flüchtlinge einzuzeichnen. Was wäre denn z. B. für Verkaufspersonen der Zeitschrift der Straße wichtig? Vielleicht ein Verzeichnis mit Versorgungsstellen für kostenlose Kleidung und Schlafplätze? Da müsste man mal gemeinsam überlegen und recherchieren. Die Innere Mission könnte doch so eine Karte auf ihrer Seite anbieten.

Berthold: Verkäufer:innen können auch selbst wichtige Informationen sammeln und beitragen. Speziell für ihre Zwecke oder auch, um die Bremer Karten ganz allgemein noch umfangreicher zu machen.

Mettenbrink: Die soziale und kritische Denkweise ist in der Szene stark vertreten. Auch weil entsprechende Einrichtungen wenig Geld haben, daher das kostenlose OSM-Angebot nutzen und viel Input liefern. Google ist da unflexibel und vieles passt nicht zu deren Image. Auch der Wagenplatz am Bahnhof, der sich mit alternativen Lebensformen gegen das Establishment richtet, ist bei OSM eingezeichnet. Ebenso nutzt das soziale Projekt Mundraub OSM-Karten. Dort findet man wild wachsende Früchte, die man frei pflücken darf. Wie gesagt, es gibt kaum Grenzen. Bis auf die Privatsphäre. Gräber werden z. B. nur von bedeutenden Personen eingezeichnet. Vielen „Mapper:innen“ liegt auch die Repräsentation von Stolpersteinen am Herzen, also kleine Gedenktafeln für Opfer des Nationalsozialismus. Da wird manchmal wahrlich ums Einzeichnen gewetteifert.

Text & Foto: Joschka Schmitt

#33 FALKENSTRASSE

EDITORIAL: DOCH KEIN UNORT

Jeder kennt diese Orte, die merkwürdig kühl wirken, durch die wir nur hindurchfahren, wo wir nicht zu verweilen wünschen; Orte, denen es (scheinbar) an Geschichte und Identität mangelt, an denen die Menschen gruß- und sprachlos aneinander vorübergehen. Der Anthropologe Marc Augé bezeichnet sie als Nicht- oder Unorte.

Viele kennen die Falkenstraße, die kühl wirkt mit ihren breiten Fahrspuren, Parkbuchten und doppelten Straßenbahnschienen; durch die hindurch muss, wer von Findorff in die Altstadt will oder vom Hauptbahnhof nach Walle; wo nach dem Krieg kein Haus mehr stand und heute die Effizienz von Klinker und Beton dominiert. Ein klassischer Unort?

In dem ehemaligen Bundeswehrhochhaus hatte das Kreiswehrersatzamt (was für ein Wort!) seinen Sitz, wo Tausende junger Männer zur Musterung antreten mussten (Seite 12). Heute sind hier Flüchtlinge untergebracht. Auch sie nur auf der Durchreise, aber die Falkenstraße dürfte für sie der Ausgangspunkt eines neuen Lebens in Sicherheit sein. In unserer Fotostrecke stellen wir einige der zugereisten Menschen vor (S. 14).

Den vermeintlichen Unort Falkenstraße kurzerhand zur geliebten Heimat gemacht hat das Ehepaar Annelotte und Rolf Roß. Sie leben seit 47 Jahren in der Brebau-Siedlung, die für sie schon immer ein Ort der Freiheit und Unbeschwertheit war. Und für die nötige Gemütlichkeit sorgen sie und ihre Nachbarn bei sich in ihren Wohnungen und den überraschend grünen Hinterhöfen (S. 8).

Und dann werkelt da noch ein Dutzend junger Leute daran, ein verlassenes Fitnessstudio in eine Wohnung zu verwandeln (S. 20). Sie nennen das Ganze „Zukunft“, was vom Optimismus zeugt, dem man in der Falkenstraße überraschend häufig begegnet.

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt

08   EINE GRÜNE OASE

Sie wohnen schon ewig hier. Und lieben es

12   VIELE LEBEN

Das Bundeswehrhochhaus hat einiges erlebt. Eine Grafik

14   WILLKOMMEN IN BREMEN

Fotostrecke

20   HOHE ERWARTUNGEN

Ein Gespräch über neue Drogen, Sucht im Alter und legales Kiffen

22   LEBEN

Eine WG zimmert sich ihre ganz eigene „Zukunft“ zurecht

26   DIGITALE KARTOGRAFEN (online lesen)

Neue Karten braucht das Land

30   EIN SCHNACK MIT … ALEXANDER

Hintergrundfoto: Holger Prothmann/flickr.com

UNTER BLINDEN

#32 GETEVIERTEL – Christoph Kendel ist Lehrer an der Blindenschule im Geteviertel. Täglich unterstützt er Kinder mit Sehbehinderung dabei, ihren Schulalltag zu meistern.

BlindenschuleBrille mit schwarzem Rahmen, braunes Hemd, darüber eine knallgelbe Warnweste – Christoph Kendel steht mitten auf dem Schulhof. Er hat Pausenaufsicht. Die gelbe Weste gibt den sehbehinderten Schülern Orientierung, hilft ihnen, ihren Lehrer besser wahrzunehmen und sofort zu wissen, wo er ist. Langsam tritt Kendel vom einen Bein auf das andere. Um ihn herum toben Kinder, spielen mit einem alten, etwas zerknautschten Ball Fußball. Von der Rutsche her hört man Geschrei – wie auf jedem anderen Schulhof. Und doch ist die Georg-Droste-Schule, zu der der Schulhof gehört, etwas Besonderes.

Das Förderzentrum im Geteviertel

Das Klettergerüst, die Torwand, das hellgelbe Gebäude. All das gehört zu dem Förderzentrum für Sehen und visuelle Wahrnehmung im Geteviertel. Christoph Kendel unterrichtet hier seit neun Jahren. Während er zum Eingang des Schulgebäudes geht, hat er trotzdem ein breites Lächeln im Gesicht. Er scheint motiviert. „Hallo Herr Kendel!“, grüßen die Schüler ihn. Kendel streckt die Hand aus, ein Junge schüttelt sie, grinst dabei. Christoph Kendel ist 41 Jahre alt und kam als Referendar zu der Blindenschule. „Als einer von drei Männern im Kollegium war ich sehr begehrt“, erinnert er sich und lacht. Seine Arbeit machte ihm schon damals Spaß. „Durch den Zivildienst bin ich darauf gekommen, Sonderpädagogik zu studieren. Ich fand das spannend“, sagt er. Und so ist Kendel nach dem Referendariat an der Schule geblieben, die in der Umgebung das einzige Förderzentrum im Bereich Sehen ist. Christoph Kendel unterrichtet Musik, Deutsch und Naturwissenschaften. Momentan ist er Klassenlehrer einer kombinierten Klasse aus Neunt- und Zehntklässlern. „Besonders aufregend!“, findet Kendel, denn er ist gespannt, wie es nach ihrem Abschluss mit den Schülern weitergeht.

Abitur und alternative Bildungswege

Doch nicht nur mit den älteren Schülern kommt Kendel gut klar: „Möchtest du einen Vorschlag von mir, was du machen kannst, oder möchtest du dir selbst etwas überlegen?“, fragt er ruhig. Der kleine Junge, der zu ihm gekommen ist, schmollt. Er ist richtig sauer. „Die haben mich von der Rutsche geschubst!“ – „Es ist hier genau wie woanders auch“, sagt Kendel mit einem Seitenblick zu dem kleinen Jungen, während er den alten Fußball zurück zu einer Gruppe älterer Kinder kickt.

„In der Regel machen die Schüler maximal einen mittleren Bildungsabschluss“, sagt Christoph Kendel. „Doch dann gibt es alle Möglichkeiten: Vom normalen Weg über den ersten Arbeitsmarkt bis hin zu Unterstützungssystemen und speziellen Berufsbildungswerken“, macht Kendel die Optionen der Schüler deutlich. Wollen sie das Abitur machen, müssten die Jugendlichen entweder ans Gymnasium nach Marburg wechseln oder an einer Regelschule inklusiv betreut werden.

Schulprogramms: Lebenspraktische Fähigkeiten

Sie haben zahlreiche Möglichkeiten und doch haben die Schüler der Georg-Droste-Schule eine Schwierigkeit mehr zu meistern als andere Kinder. Eine Sehbehinderung zu haben, das bedeutet nicht, komplett blind zu sein, aber die Schüler leiden unter einer dauerhaften Einschränkung der Sehkraft. Ihre Sehschärfe ist reduziert. Sie nehmen ihre Umgebung anders wahr – anders als Christoph Kendel. Trotzdem sind er – und die anderen Lehrer – es, die ihnen beibringen sollen, mit dieser Einschränkung umzugehen. „LPF – Lebenspraktische Fähigkeiten, das ist Teil unseres Schulprogramms“, erklärt Kendel. So lernen besonders die Grundschulkinder beispielsweise einen Reißverschluss zuzumachen, sich in der Küche zurechtzufinden und Brote zu schmieren. Kendel soll seinen Schützlingen beibringen, wie sie sich im Alltag zurechtfinden, wie sie ihren Schulabschluss meistern und sich aufs Berufsleben vorbereiten. Aber kann er sich überhaupt vorstellen, wie die Kinder ihre Umwelt erleben?

Individuelle Unterstützung im Musikunterricht

In Selbsterfahrungskursen hat Kendel gelernt, die Situation seiner Schüler besser nachempfinden zu können. „Bei der Fortbildung mussten wir eine Augenbinde tragen und eine Simulationsbrille aufsetzen – wie Milchglas kann man sich das vorstellen“, sagt er. Ohne zu sehen habe er dann versucht, bestimmte Tätigkeiten auszuüben. „Es geht vor allem darum Raumgrößen einzuschätzen, sich im Raum zu orientieren oder zum Beispiel mit der Augenbinde zu essen. Man stellt sich die Frage, was mit der eigenen Wahrnehmung passiert. Beim Sportunterricht fragt man sich beim zum Beispiel ,Trau ich mich, von dem Balken zu springen?’“ Kendel hat all das in Fortbildungen ausprobiert. „Meine Arbeit ist Diagnostik und Beobachtung“, sagt er und fügt hinzu: „Sich wirklich in die Kinder hineinzuversetzen, ist schwierig.“

Individuelle Unterstützung im Musikunterricht

„Wir üben heute Stimmbildung und mehrstimmig singen.“ Kendel bittet seine Schüler aufzustehen. Musikunterricht ist angesagt. „Streckt euch!“ Gemeinsam wärmt die Gruppe sich auf, schüttelt Beine und Arme aus. Kendel tut so, als beiße er in einen großen Apfel, um die Gesichtsmuskeln zu lockern. Als er mit seinen Lippen das Geräusch eines Motorrads nachmacht, müssen die Schüler lachen. Christoph Kendel nimmt seine Gitarre und stimmt eine Melodie an. Gemeinsam beginnt die Gruppe das Lied „Ain’t nobody loves me better“ zu singen. Einer der Jungs begleitet den Gesang auf dem Xylophon, das hinten im Raum steht. Kendel erklärt ihm genau, welche Töne er spielen muss, nimmt einige Klangstäbe heraus, um die Aufgabe zu erleichtern. Er stellt sich neben den Jungen, zeigt ihm genau, wie er seine Hände führen muss.  „Ganz toll!“, ermutigt er die Gruppe.

Unterricht im Stuhlkreis

Inzwischen haben alle Kinder im Stuhlkreis Platz genommen. Elf Mädchen und Jungen warten nun darauf, dass der Unterricht beginnt. „Was ist mit den anderen?“ fragt Herr Kendel. „Ach Daniel hat Punktschrift. Dann können wir ja beginnen.“

Später erklärt Kendel, dass die Schüler zwar immer noch die Blindenschrift lernen, deren Verwendung sich aber massiv verändert habe, seit Sprachprogramme den Schülern den Umgang mit dem Computer ermöglichen. Als Lehrer müsse er heute nicht mehr alle Texte erst transkribieren, bevor er sie korrigiert. Das erledige der Computer für ihn.

Die Bedeutung von Ordnung

An Spaß scheint es den Achtklässlern, die fröhlich mitsingen, nicht zu fehlen. Die meisten von ihnen tragen eine Brille. Komplett blind ist keines der Kinder, aber das Lesen beispielsweise fällt ihnen schwer. „Es geht um Nachteilsausgleich“, sagt Kendel. „Wir wollen die Arbeitsumgebung für die Schüler so gestalten, dass die Nachteile, die sie durch ihre Behinderung haben, bestmöglich minimiert werden.“ Dazu gebe es verschiedene Möglichkeiten wie zum Beispiel Zeitzugaben bei Klausuren, entsprechende Beleuchtung in den Klassenräumen und die Verwendung von Hilfsmitteln wie Lupen oder dem Bildschirmlesegerät.

Kendel weiß, worauf es außerdem ankommt. „Wenn ich Sie mit verbundenen Augen in die Schulküche führe, haben Sie keine Ahnung, wie groß sie ist. Dann müssen Sie andere Strategien erlernen, um von der Tür zum Kühlschrank zu kommen.“ Ordnung sei daher für die Kinder mit Sehbehinderung sehr wichtig.

Christoph Kendel sorgt dafür, dass diese Ordnung eingehalten wird. Er hält die Gruppe zusammen, ist im Musikunterricht der Dirigent. Wenn nötig, hat Kendel auch mal ein strenges Wort über. Er sorgt dafür, dass die Kinder gefördert werden und dass das anders Sein die Normalität des Schulalltags nicht beeinträchtigt. „Mir gefällt an meinem Job, dass ich individuell gucken kann, was meine Schüler brauchen“, sagt er. „Und dass ich dafür entsprechend Zeit und Ressourcen habe. Man hat das Gefühl, dass das, was man tut, eine Auswirkung hat.“

Text und Foto: Milena Pieper

KOPF KAPUTT

BISS/München: Unsere Autorin hat fünf Monate lang unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutsch unterrichtet. Ein Erfahrungsbericht

 

Im September 2014 war mir per E-Mail ein Notruf zur Betreuung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge zugegangen: „Wir suchen dringend Betreuer, die irgendwie pädagogisch geschult bzw. geeignet sind.“ Da die Bayernkaserne als Erstaufnahmestelle aus allen Nähten platzte und die Plätze in den Münchner Clearingstellen für Jugendliche alle schon besetzt waren, richteten die freien Träger der bayerischen Jugendhilfe im Herbst letzten Jahres mehrere Notunterkünfte als Dependancen der Bayernkaserne ein. In einer solchen Unterkunft – einem umfunktionierten Versammlungssaal – sollten 25 männliche Jugendliche wohnen und auch in Deutsch unterrichtet werden. „Das entspricht nicht gerade dem, was wir uns unter Jugendhilfe vorstellen, aber im Moment bricht einfach alles zusammen“, hatte die Verantwortliche des freien Trägers in der E-Mail geschrieben.

Bei der Sprachschule Inlingua hatte ich einen Sommer lang Deutsch als Fremdsprache unterrichtet für junge spanische Ingenieure, ehrgeizige osteuropäische Akademikerinnen, verwöhnte Austauschschüler aus den USA und den Emiraten. Gerade war ich knapp bei Kasse, und so hoffte ich, ein paar Arbeitsstunden als Deutschlehrerin für Flüchtlinge in meine Freiberuflichkeit zu integrieren. Beim Helfertreffen erfuhr ich jedoch, dass man schon genug Lehrer gefunden hatte. Nur Ehrenamtliche wurden noch gesucht, für Ausflüge und Unternehmungen mit den Flüchtlingen sowie Nachhilfeunterricht. Mein Freund schimpfte über meine Unvernunft, als ich erklärte, dass ich trotzdem hingehen würde, schon allein aus Neugier. Und so kam ich Anfang Oktober zum ersten Mal in die Einrichtung.

In einer Tüte hatte ich Alltagsgegenstände und bunte Bilder dabei, mit denen ich den Flüchtlingen ein paar Vokabeln und die Artikel beibringen wollte. Meine Schüler waren 14 bis 18 Jahre alt, kamen aus Afghanistan und mehreren afrikanischen Ländern. Zwei Monate später würden sie beginnen, mich damit aufzuziehen, mich schelmisch zu fragen: „Wo sind heute der Apfel und die Zeitung?“ Die sechs Jungs, um die ich mich an diesem Tag kümmern sollte, konnten mir alle schon erzählen, wie sie heißen, woher sie kommen und dass sie in München wohnen. Die Grammatik – „der, die, das“ – saugten sie förmlich auf.

„Ehrenamtliche Nachhilfe“ hätte der Kalendereintrag der Leiterin der Unterkunft wohl gelautet, wenn es einen für meine Stunde gegeben hätte. Tatsächlich erinnerte sich aber an diesem Morgen niemand, mich bestellt zu haben. Hinterher kam die Chefin der Unterkunft auf mich zu, erstaunt über die Ruhe in meiner Klasse. Wenn ich so ernsthaft Unterricht halte, müsse ich auch wie die anderen Lehrerinnen bezahlt werden, sagte sie. Und so kam es.

Ein Raum für 30 Personen, keine Küche, notdürftige Sanitäranlagen im Keller, und das letztlich für sechs statt, wie geplant, für zwei Monate – vieles war nicht optimal in der Notunterkunft, doch den Deutschunterricht ließ sich der Wohlfahrtsverband der Einrichtung etwas kosten. Zusätzlich zu dem für die minderjährigen Flüchtlinge obligatorischen vierstündigen Nachmittagskurs in einer Sprachschule engagierten sie insgesamt drei Lehrkräfte. Jeden Vormittag unterrichteten zwei von uns parallel von zehn bis 13 Uhr.

Hygiene statt Deutsch

Bei Antritt meiner neuen Tätigkeit klärte mich eine Kollegin darüber auf, dass viele der Jugendlichen noch keiner medizinischen Erstuntersuchung unterzogen worden waren. Und das auf dem Höhepunkt der Ebola-Epidemie! „Pass auf, dass du ihnen nicht zu nahe kommst!“, lautete die Empfehlung meiner Kollegin. Manchmal, wenn ich mich über ein Aufgabenheft beugte oder einem Schüler half, der beim Schreiben an der Tafel ins Stocken geriet, erschrak ich – den Mundgeruch des Schülers wahrnehmend – im Gedanken an die Warnung. Doch meine Angst legte sich nach drei Wochen – und ebenso der allgemeine Mundgeruch. Man stellte nämlich fest, dass viele Jungs die Zahnpasta als Creme verwendeten, und so stand einen Vormittag lang statt Deutsch Hygiene auf dem Stundenplan.

Die Schüler, die ich an meinem ersten Tag kennengelernt hatte, gehörten, wie ich nun merkte, zur Gruppe A1, der Gruppe, die besonders schnell lernte. Einer von ihnen – ein hübscher, hochgewachsener Afghane namens Massoud*, der Medizin studieren wollte – brachte es innerhalb von drei Monaten so weit, dass er in die achte Klasse einer normalen Realschule aufgenommen wurde. Ein anderer, Mukhtar, hätte es aufgrund seiner Leistungen auch geschafft, hatte aber keinen engagierten Vormund, der sich kümmerte und ein solches Vorrecht für ihn erstritt.

Neben der Gruppe A1 mit rund fünf Schülern gab es zwei Anfängergruppen, aus denen sich auf Dauer drei Gruppen entwickelten: eine gute Mittelstufengruppe A2, die zwischenzeitlich bis zu sechs Schüler umfasste, eine Gruppe B2, deren vier bis sieben Teilnehmer keinerlei Fortschritte machten, und eine Gruppe B1, deren Schüler – zehn bis zwölf an der Zahl – nicht im Unterricht erschienen. Der 14-jährige Eritreer Tzegay war so ein Kandidat. Er lernte statt Deutsch lieber Dari, die afghanische Variante des Persischen, und das mit beachtlichem Erfolg, wie die Afghanen versicherten.

Dass der etwa gleichaltrige Rezene dem Unterricht nach einer Weile fernblieb, war zunächst eine Erlösung für mich. Er redete ununterbrochen laut auf seine Mitschüler ein und hatte etwas Abschätziges im Blick. Alle waren in den ersten paar Wochen unruhig, aber niemand machte es mir so schwer wie Rezene. Um Formulierungen wie „Woher kommt er? Welche Sprache spricht sie?“ zu üben, hatte ich bei meinen Kursen an der Sprachschule Inlingua Bilder von Prominenten gezeigt. Bei den Flüchtlingen erwies sich das als schwierig. Die meisten kannten weder Queen Elizabeth noch Angela Merkel, Lionel Messi oder Nelson Mandela. Also zog ich ziemlich oft die Karten „Papst“ und „Obama“. Das war für Rezene ein rotes Tuch: „Amerika! Amerika!“, rief er hasserfüllt. „And this!“, er verdrehte wild die Augen und sein Zeigefinger schnellte auf das Papstbild zu. Die Mehrzahl der Eritreer in der Einrichtung waren Christen, Rezene war einer der wenigen Muslime. Nachdem er derart rebelliert hatte, sah ich ihn monatelang nicht mehr. Erst Anfang Februar, kurz bevor die Notunterkunft aufgelöst wurde, tauchte er zweimal unvermittelt in meinem Kurs auf. Ich schaffte nicht, ihn in den Unterricht von Gruppe A2 zu integrieren. Ich konnte ihm nur irgendein einfaches Arbeitsblatt geben und ihm zwischendurch immer wieder eine Minute Aufmerksamkeit schenken. Er war geduldig, wie verwandelt, und ich freute mich darüber.

Unterdrücker-Schauspiel

Es hat in der Einrichtung am Münchner Hauptbahnhof immer auch Konflikte gegeben. Einige Afghanen blickten auf die Schwarzen herab. Afrooz aus der Fortgeschrittenengruppe machte einmal eine Andeutung mit Bananen und Affengeräuschen und wurde dafür von meiner Kollegin für drei Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Angeblich musste auch ein paar Mal nachts die Polizei kommen, um eine Prügelei zu schlichten oder einen Handy-Dieb zu stellen. Einmal kamen Rezene und Girmay nach der Stunde zu mir nach vorn. Rezene ergriff Girmays Hand und zwang ihn zu Boden, indem er seine Finger schmerzhaft nach oben drückte. Er sagte etwas zu ihm auf Tigrinya, in der Sprache, die man in Eritrea spricht, und im Befehlston. Daraufhin begann Girmay Liegestütze zu machen, während Rezene mitzählte. Ich war schockiert von diesem Unterdrücker-Schauspiel. Zugleich war mir klar, dass ein gewisses Gewaltpotenzial in einer Gruppe von Halbwüchsigen normal ist.

Allen mehr oder weniger ernsten Problemen zum Trotz verstanden sich die Jungs untereinander und mit dem Team der Einrichtung aber immer besser. Der Security-Mann begann, Mathematik-Nachhilfe zu geben und mit den Flüchtlingen Schach oder „Mensch ärgere Dich nicht“ zu spielen. Die Jugendlichen interessierten sich für mich und meine Kolleginnen, fragten, wie wir lebten, ob wir Kinder hätten, und auch mal, ob ich nicht Lust hätte, mit ihnen ins Schwimmbad zu gehen. Als ob eine Lehrerin noch Autorität über eine Gruppe männlicher Teenager haben könnte, nachdem sie im Bikini vor ihnen gestanden hat!

Beim Weihnachtsfrühstück wurden Fotos von fröhlichen Fußballturnieren und gemeinsamen Zoobesuchen gezeigt, die dank der Ehrenamtlichen realisiert werden konnten. Meistens wurde irgendwo in der Unterkunft gelacht, Musik gehört, Kicker gespielt – wobei es bei den Jungs zum guten Ton gehörte, dass sie jubelten, wenn ich einmal ein Tor schoss.

Unser Klassenraum wurde zugleich auch als Fitness- und Fernsehzimmer genutzt. Einmal saß bei meiner Ankunft bereits ein kleines Grüppchen vor dem Fernseher. „Guten Morgen! Was guckt ihr denn da?“, begrüßte ich sie. „Das ist gut für Deutsch“, erklärte Dawit. Shopping-TV. „Diese Hose gibt es in den Farben Grau, Blau und Schwarz.“ Die Moderatorin sprach langsam und eindringlich. Ihr Assistent präsentierte währenddessen die graue, dann die blaue, dann die schwarze Hose. „Die Hose lässt sich auch sehr leicht bügeln“, erklärte die Moderatorin, und schon gab es einen Close-up-Shot auf ein Bügeleisen, das über die Hose fuhr. „Rufen Sie heute noch an!“ Ein klingelndes Telefon wurde eingeblendet. „Dann bekommen Sie diese Uhr als Geschenk.“

Die besten Waffen

Ist mein Unterricht wirklich besser als das, überlegte ich. Zumindest bemühte ich mich darum. Ich hatte durch Rezene etwas gelernt. Ich fing an, für die extrem langsame Anfängergruppe B2 passendes Unterrichtsmaterial zu konzipieren: Arbeitsblätter mit lustigen Männchen dunkler Hautfarbe, unter die ich „Naom. Eritrea“, „Zenep. Sudan“ oder Ähnliches schrieb. Anhand dieser Zettel übten wir nun das „Er/sie heißt … Er/sie kommt aus …“ Wie jeder Mensch waren auch meine B2-Schüler genervt, wenn wir jede Stunde das Gleiche machten. Oft verstanden sie es aber trotz der Wiederholung immer noch nicht. Sie mussten zum Teil traumatisiert sein, zum Teil nahezu lernbehindert. Nach mehreren Monaten war jede von uns Lehrerinnen zu dem Schluss gekommen, dass sich die meisten Schüler der B2-Gruppe nie in ein normales Schulsystem würden integrieren lassen, nur in eine Förderschule.

Im Mittelpunkt dieser Gruppe stand der Junge, der während der Monate in der Einrichtung die größte Veränderung durchmachte: Hamsa. Hamsa, dem auf der Flucht ein Ohrläppchen abgeschnitten wurde, weil er der Schlepperbande nicht genug bezahlen konnte. Nichts konnte er sich merken, gar nichts. „Ich heiße … Wie heißt du?“ Unendlich langsam lernte er, überhaupt Wörter nachzusprechen. Alles war für ihn 20-mal so schwer wie für einen Schüler mit normaler Begabung, aber er ließ nicht locker. Irgendwann entdeckte er seine Methode des Lernens: Er schrieb jeden Satz dreimal auf, immer mit der Übersetzung in seine Muttersprache Tigrinya. Manchmal sprach er mir den Satz auf Tigrinya andächtig vor, und ich versuchte ihn nachzusprechen. Das brachte ihn immer zum Lachen. Und wenn ich morgens in die Klasse kam, saß er schon im Schneidersitz unter dem Tisch und murmelte die deutschen Sätze immer wieder vor sich hin. Selbst die ehrgeizigsten Schüler aus der Fortgeschrittenengruppe berichteten voller Ehrfurcht von Hamsa, der manchmal bis tief in die Nacht lernte. Und es funktionierte. Ich war so stolz, wenn er etwas richtig machte. „Ich bin seit August in Deutschland.“ „Der Deutschkurs beginnt um zehn.“ „Ich lerne gern Deutsch.“ Man kann wirklich alles schaffen, was man will, dachte ich dann und musste die Tränen unterdrücken.

Doch nach etwa einem Monat war seine fleißige Phase vorbei. Er hing mit den anderen herum, schwänzte den Unterricht. Dafür war er aber viel offener geworden, lachte und begrüßte mich, wenn wir uns mal sahen, mit einem kumpelhaften Aneinanderstoßen der Fäuste. Was er gelernt hatte, vergaß er weitgehend wieder, aber er hatte sich Selbstbewusstsein erarbeitet, einen lebendigen Blick, eine natürliche Coolness, eine Lebens- und Kommunikationsfreude. Für seine Mitbewohner war er allem Anschein nach eine Respektsperson geworden, und all das war mindestens genauso wertvoll wie Deutschkenntnisse. Der Kampf ums Überleben geht für die Flüchtlinge in Deutschland weiter, und ein offenes Wesen, Charme und Intellekt sind hier die besten Waffen, das zeigte sich nirgends so deutlich wie beim Thema Vormundschaft.

Premium-Flüchtlinge

Im Prinzip hätten es alle verdient gehabt, einen netten Vormund zu bekommen, der sich für sie interessiert und sie unterstützt. Am meisten hätten es diejenigen verdient gehabt, die so traumatisiert waren, dass sie nicht mehr lächeln konnten, die so viel Schlechtes erfahren hatten, dass sie nicht nett sein konnten. Ich fühlte mich zu jung und zu wenig sesshaft, um Vormund zu sein, aber manchmal dachte ich, ich hätte gern eine Vormundschaft für Azim übernommen, der immer wieder für eine Woche in die geschlossene Psychiatrie musste, weil er schlimme psychotische Anfälle hatte. Er brach zusammen, schlug um sich und konnte sich hinterher an nichts erinnern. Eines Tages bestellte die Leiterin der Einrichtung deshalb einen eritreischen Schamanen – nicht etwa, um Azim zu heilen, sondern um die Eritreer zu beschwichtigen, die seinetwegen in Panik geraten waren. Sie glaubten, dass Azim von Dämonen besessen sei und dass diese Dämonen nun auch auf sie überspringen könnten. Azim hatte bei einem Bombenanschlag auf ein libysches Gefängnis miterleben müssen, wie fast alle seine Mithäftlinge getötet wurden. Er selbst war mit dem Leben davongekommen, hatte aber einen Splitter ins Auge bekommen und war seitdem auf diesem Auge blind.

Auch Nahom hätte einen guten Vormund gebraucht: Er tat sich sehr schwer mit dem Lernen und überhaupt mit jeglicher Kommunikation, war so in sich gekehrt, so unheilbar traurig und sein irgendwie zu großes Gesicht zu allem Überfluss mit Eiterpickeln übersät. Ich hatte für den Unterricht eine riesige Weltkarte mitgebracht, die die Jungs faszinierte. Die meisten von ihnen sahen wohl zum ersten Mal so eine Karte, waren aber nicht in der Lage, ihr Heimatland zu lokalisieren. Eines Tages in der Pause blieb Nahom vor der Karte stehen. Er zeichnete mit dem Finger seinen Weg von Afghanistan bis an die Küste des Libanon nach. „This?“, fragte er und zeigte auf das Blau. „Das Meer“, sagte ich. „Meer … Und this?“ Er macht eine schaukelnde Handbewegung. „Boot?“, fragte ich. „Ja, Boot! Boot big problem. Thirty dead body in the Meer.“ Stille. Nach einer Weile sagte ich: „Gut, dass du hier bist“, und strich über seinen Arm beziehungsweise die dicke Daunenjacke, in der er steckte. Einige der Flüchtlinge trugen immer ihre Daunenjacke, wie Schutzpanzer. Das waren nicht die, die einen guten Vormund bekommen haben.

Hanibal hatte Glück. Eine reiche Münchnerin hatte einen Sack gebrauchter Kleidung gebracht und mit einigen der Flüchtlinge einen Ausflug in den Zoo unternommen. Dann suchte sie sich denjenigen aus, der am charmantesten und intelligentesten war, einen, mit dem man sich sehen lassen konnte, einen richtigen Premium-Flüchtling. Obwohl er oft unaufmerksam war oder gar nicht kam, war Hanibal fast der beste Schüler meiner Mittelstufenklasse. Frau Vormund lud ihn am Wochenende zu sich nach Hause ein und übte mit ihm Deutsch. Danach durfte er durch die Clubs in der Kultfabrik ziehen. Wenn er mich sah, kam er mit einem breiten Grinsen auf mich zu und verwickelte mich in irgendeinen Smalltalk. Er war anzüglich, aber auf eine lustige Weise.

„Ich mach dir eine Massage“

Im Schulbuch war eine Konversationsübung vorgegeben, die auf einem fingierten Fehler basierte. Ich probte mit Hanibal: „Mein Bein tut weh!“, sagte ich und hielt mir den Arm. „Das ist nicht dein Bein, das ist dein Arm“, lautete die vorgeschriebene Antwort aus dem Buch. Das war Hanibal zu blöd. Er warf mir einen trägen, zärtlichen Blick zu: „Ich mach dir eine Massage“, sagte er. Ein paar Mal lud er mich ein, in der Flüchtlingsunterkunft zu Mittag zu essen. Während die anderen Jungs sich nicht einmal zu mir an den Tisch trauten, setzte sich Hanibal direkt neben mich, rutschte immer näher und zeigte mir auf seinem Handy Fotos von seiner neuen Familie. Der offiziell 17-Jährige – wahrscheinlich war er älter – hatte tatsächlich angefangen, seinen Vormund „Mama“ zu nennen. Hin und wieder sah ich sie zusammen. Er schmiegte sich an sie, legte ihr den Arm um die Schulter, so wie er es bei seinen Freunden auch machte. Als ich erfuhr, dass er am Wochenende bei ihr geschlafen hatte, war ich skeptisch. „Ist sie deine Mama und deine Freundin?“ Er verstand. „Nein“, grinste er. „Sie ist meine Mama und mein Vormund.“

Hanibal und sein Freund Filiam, ein verträumter 17-Jähriger – der Einzige, der nach wenigen Monaten eine Freundin hatte -, sorgten dafür, dass die Stimmung in der A2-Gruppe ständig erotisch aufgeladen war. Einmal zog Hanibal im Unterricht Filiam zu sich heran und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Wange. „In Eritrea ist das kein Problem“, erklärte er mir. „Auch Männer schlafen in einem Bett. Kein Problem. Aber in Deutschland nicht okay.“ Dennoch habe ich in Hanibal nie nur einen Lüstling gesehen, sondern auch einen Jungen, der intelligent und fröhlich ist trotz schweren Schicksals. Als ich versuchte, den Schülern den Unterschied zwischen „seit“ und „vor“ beizubringen, war Hanibal der Erste, der begriff und ein Beispiel parat hatte: „Meine Eltern sind vor neun Jahren gestorben.“ Und: „Meine Eltern sind seit neun Jahren tot. – Richtig?“ „Äh … ja, richtig. Das tut mir leid.“ „Kein Problem.“ Beide sind sie am selben Tag gestorben.

Eines Tages fragten mich die Schüler nach der Bedeutung des Wortes „Hure“ und der männlichen Form davon, um mir dann zu erzählen, dass Temesgen sich angeblich prostituiere – für 50 Euro pro Freier. Während die Schüler leidenschaftlich zu moralisieren begannen – „Fickificki machen mit der Freundin ist okay, aber das ist nicht okay“ -, nahmen meine Gedanken eine ganz andere Richtung: Wer sich von Eritrea bis nach München durchgeschlagen hat, ist erwachsen. Ihr müsst zwar lernen, wie man Zähne putzt, aber was Prostitution, was Vergewaltigung bedeutet, wisst ihr wahrscheinlich besser als ich. Soll ich euch etwas vom Ausgeliefertsein erzählen, euch, die ihr, auf rostige Boote gepfercht, über das Mittelmeer gefahren seid mit einer Scheibe Brot pro Tag als Verpflegung? Soll ich euch sagen, dass Prostitution sozial inakzeptabel ist, euch, die ihr in Deutschland sowieso hin und her geschoben werdet wie Vieh? Soll ich euch auf die Gefahren des Straßenstrichs aufmerksam machen, euch, die ihr von Schlepperbanden im Jemen oder in Libyen festgehalten wurdet? Soll ich euch sagen: „Nicht alle Leute meinen es gut mit euch!“? Vielleicht hältst du hinterher dein heiß ersehntes iPhone in der Hand, lieber Temesgen, und denkst: Das war es wert. Nur schließ es dann bitte nachts in deinem Spind ein! „Prostitution ist nicht gut“, sagte ich schließlich. „Sie ist sehr schlecht.“

Mit abstrakten Begriffen konnten die Schüler wenig anfangen. Wörter wie „Fußabstreifer“ und „Versichertenkarte“ lernten sie mit Begeisterung, aber was „das Leben“ sein soll, leuchtete ihnen nicht ein. In allen Aufsätzen las ich aber „Liebe“. Liebe und Sex waren für unsere Flüchtlinge schätzungsweise noch wichtiger als für andere Gleichaltrige. Sie kamen aus Gesellschaften, in denen Frauen verschleiert und oft sogar beschnitten sind, plötzlich nach Deutschland, wo auf jedem zweiten Werbeplakat eine überlebensgroße Frau in Unterwäsche abgebildet ist. Zum ersten Mal im Leben schämte ich mich dafür, dass hier überall solche Plakate hängen. Gleichzeitig erlebten die Flüchtlinge einen totalen Liebesentzug: Geliebte Eltern und Geschwister waren für sie außer Reichweite, Mädchen, in die man sich verlieben könnte, gab es aber auch nicht, weder in der Unterkunft noch in den nachmittäglichen Sprachkursen. Mädchen kennenlernen würden sie wohl erst, wenn sie den Sprung auf eine normale Schule oder Berufsschule geschafft hätten, das war ihnen auch klar. So hing über der Tafel ein Zettel, den einer von ihnen mit rotem Filzstift geschrieben hatte, als Motivation für alle: „The sooner you learn Deutsch = The sooner you find a girlfriend“ (Je eher du Deutsch lernst, desto eher findest du eine Freundin).

Nicht nur Abstrakta, auch Verhältniswörter bereiteten den meisten Schülern Schwierigkeiten. Begriffe wie „seit“ und „vor“, „erst“ und „schon“ verursachten Frust und wurden wieder vergessen. Ende Januar war jedoch plötzlich eine Präposition in aller Munde: „außerhalb“.

Außerhalb

Der Extra-Deutschunterricht war eine gute Investition. Einige der Flüchtlinge machten auf diese Weise sehr schnelle Fortschritte. Möglicherweise wollte der freie Träger der Einrichtung damit aber auch erreichen, dass die Halbwüchsigen weniger in der Stadt herumstreunten und nicht so schnell rebellisch wurden. Die materiellen Bedingungen in der Notunterkunft waren für einen Zeitraum von sechs Monaten nämlich alles andere als ideal: 30 Jugendliche in einem Schlafraum! Mit der Zeit hängten sie Bettlaken auf und schoben die Hochbetten und Spinde so zurecht, dass einzelne Bereiche entstanden, die wenigstens einen Hauch von Privatsphäre vermittelten. Aber die Nächte in dem großen Saal müssen trotzdem furchtbar gewesen sein. Viele Schüler beschwerten sich, nicht schlafen zu können. Und wie gern hätten sie eine Küche gehabt, um selbst kochen zu können. Die Leitung der Unterkunft zauberte einen eritreischen Ehrenamtlichen aus dem Hut, der einmal ein eritreisches Mittagessen für alle besorgte. Dennoch war das nicht dasselbe wie eine eigene Küche, und so zettelten die Jungs eines Tages wegen der schlechten Bedingungen einen Hungerstreik an. Doch die Chefin der Unterkunft wusste sie umzustimmen. Es lohne sich, durchzuhalten, wurde ihnen vermittelt, denn der Wohlfahrtsverband besitze ein Haus in München, in das sie bald alle zusammen einziehen würden. Es sei im Umbau und schon fast fertig. Die Wirklichkeit sah jedoch anders aus: Meine Kollegin und einige unserer Schüler machten einen Ausflug zu diesem Haus und stellten fest, dass die Umbaumaßnahmen noch nicht einmal  begonnen hatten. Gegen Ende Januar war zum ersten Mal die Rede davon, dass die Flüchtlinge in Kleingruppen aufgeteilt und außerhalb Münchens untergebracht werden müssten. Nun fühlten sie sich belogen und zeterten, sie seien auf keinen Fall bereit, München zu verlassen. Es gab ein quälend langes Hin und Her. Wahrscheinlich würden sie bayernweit verschickt werden, aber ob in einer Woche oder einem Monat und wohin, das konnte keiner sagen. Von Schwandorf war die Rede und von Fürth. Während Hanibal sich auf einen Berlin-Urlaub mit seiner „Mama“ freuen durfte, die sich bereit erklärt hatte, ihn nach Schließung der Notunterkunft dauerhaft bei sich aufzunehmen, wurden die anderen Jungs regelrecht weichgekocht. „Ich kann nicht, Kopf kaputt“, diese Ausrede im Unterricht hörte ich jetzt täglich – und ließ sie meistens gelten. Es kam mir perfide vor: Die Flüchtlinge wurden letztlich gezwungen, München zu verlassen. Man stellte ihnen keine Alternative in Aussicht. Und dennoch konnte man sie nicht gegen ihren Willen umsiedeln. Also mussten sie selbst entscheiden und unterschreiben – obwohl sie gar nicht genau wussten, was sie da unterschrieben, da niemand bereit war, ihnen die Adressen der neuen Unterkünfte zu geben.

Ich erinnere mich daran, wie zwei Betreuer und die Chefin der Unterkunft auf Efret einredeten, er müsse jetzt sofort entscheiden, ob er nun nach Schwandorf gehen wolle oder nicht. „Dort wirst du leichter einen Arbeitsplatz finden“, erklärten sie ihm. Solche Argumente machten mich wütend. Dabei war mir das Grundproblem klar: Es war nötig, dass die Jungs so schnell wie möglich einen Platz in einer richtigen Jugendhilfe bekamen, sonst riskierten sie, an ihrem 18. Geburtstag in die Bayernkaserne zu müssen.

Ein Flüchtling, der noch nicht 18 ist, wird in Deutschland nicht abgeschoben und hat einen Anspruch auf Schule und Jugendhilfe. Deshalb geben sich so viele als Minderjährige aus, was dann vom Jugendamt geprüft wird. Die Resultate solcher Alterseinschätzungen des Jugendamtes erschienen uns, die wir die Schüler fast täglich erlebten, jedoch in vielen Fällen grotesk. Musterschüler Massoud aus Afghanistan war ein besonnener, gebildeter, höflicher, 1,80 Meter großer junger Erwachsener – und wurde als 15-jährig eingestuft. Martins aus Nigeria hielten wir eher für 30 als für 17. Er erzählte oft von der Firma, in die er in Nigeria involviert war, scheinbar mindestens als Teilhaber. Andererseits war da Girmay aus Eritrea, der während der sechs Monate enorm in die Höhe schoss. Auf den Brief, in dem das Jugendamt geschrieben hatte, er sei 17 Jahre alt, war er so stolz, wie es nur ein 14-, 15-Jähriger sein kann.

Girmay mit seiner Ausgelassenheit, seinen strahlenden Augen und seiner makellosen Haut. Er hatte eine kindliche Unschuld, als sei ihm nie etwas Böses begegnet. Von Girmay lernte ich das einzige Wort auf Tigrinya, das ich nie vergessen werde: „Aiuaaa“ heißt (wenngleich es natürlich ganz anders geschrieben wird) so viel wie „Aha“. Seine kleinen Erleuchtungen brachten mir viel Freude, ihr intellektueller Wert war jedoch gering. Girmay machte beim Lernen kaum Fortschritte. Dafür lachte er umso mehr und kommunizierte mit Händen und Füßen. Dass er den Weg von Eritrea bis nach München geschafft hatte, konnte ich kaum glauben. Er musste einfach vom Himmel gefallen sein. Oder Teferi hatte ihn hergebracht. Teferi, sein Freund. Er war klein, mit Augen, die schon alles gesehen hatten, ein richtiges Straßenkind. Er ruhte sich in der Flüchtlingsunterkunft ein paar Wochen lang aus – so wirkte es -, und irgendwann verschwand er. Drei Tage später erfuhren wir, dass er in Schweden lebt. Und auch Girmay entging der Umsiedelung nach Schwandorf: Eine meiner Kolleginnen, die sich über die Fehleinschätzung seines Alters ärgerte, übernahm die Vormundschaft für ihn und besorgte ihm einen Platz in der Münchner Jugendhilfe.

Und die anderen? Das Jugendhaus in Schwandorf, für das Efret sich so eilig entscheiden sollte, hatte mehr als ein Dutzend Plätze frei. Schließlich wurde noch eine nette, wirkungsvolle Weise gefunden, die Jungs zu überzeugen: Eine Sozialarbeiterin aus Schwandorf kam extra nach München, um sich vorzustellen und von ihrer Einrichtung zu erzählen. Der Großteil unserer Eritreer zog schließlich dort ein.

„Ich esse nicht. Ich faste“

Diese Lösung war jedoch nicht für alle ideal. Der Eritreer Dawit zum Beispiel weigerte sich kategorisch: „Alles Eritrea – ich lerne nie Deutsch“, erklärte er. Dawits Flucht hatte über zwei Jahre gedauert, danach war er sechs Monate lang in der Bayernkaserne gewesen. Nun war er seit fünf Monaten hier, und seine Strategie, um das alles auszuhalten, waren Ordnung und Disziplin. Er besuchte jeden Vor- und Nachmittag den Unterricht und ging abends und am Wochenende in die Kirche. Das Chaos rund um den Transfer – dieser Mangel an Disziplin in seinen Augen – war für ihn eine wahre Tortur. Eines Tages kam ein neues Angebot: zwei Plätze in einer Zweier-WG in Fürth für Flüchtlinge mit Deutschkenntnissen. Als man Dawit einen dieser Plätze vorschlug, war seine erste Reaktion: „Jetzt ich kann gut Deutsch. In einem Monat kein Deutsch.“ Er hatte das Gefühl, vor lauter Hin und Her alles zu vergessen, was er gelernt hatte. Dann entschied er sich aber doch für Fürth. Filiam, mit dem er die Wohngemeinschaft zusammen gründen wollte, ließ ihn allerdings eine Woche vor dem Umzugstermin sitzen. Am nächsten Tag war Dawit im zweiten Unterrichtsblock mein einziger Schüler. Wir sprachen über Fürth, dann sagte er: „Heute ich kann nicht lernen. Mein Kopf ist krank.“ „Meiner auch“, seufzte ich. „Was machen wir? Wollen wir Pizza essen gehen? Ich lade dich ein!“ Er sah mich herablassend an: „Ich esse nicht. Ich faste.“

Dawit war also nicht immer nett. Er konnte sogar furchtbar bockig sein. Einmal entdeckte ich in einer Übung, die meine Kollegin bereits korrigiert hatte, zwei Fehler. Die Uneinigkeit seiner beiden Lehrerinnen in diesem Punkt erschien ihm als eine unerträgliche Schlamperei. Er diskutierte herum und schien uns plötzlich als einen Bestandteil eines großen betrügerischen Systems zu sehen. Das war das einzige Mal in den sechs Monaten, dass ich ausrastete und einen Schüler anschrie. Hinterher entschuldigten wir uns beide.

Dawit war der Einzige, der mir einmal unter vier Augen ehrlich von seinem Leben in Eritrea erzählt hat. Die meisten anderen behaupteten, sie hätten acht Jahre lang Englisch gelernt und Eritrea sei einfach toll. Dawit war vier Jahre zur Schule gegangen und hatte danach seiner Mutter im Haushalt geholfen. Sie hatten Bienen. „Und mein Vater hat einen Supermarkt, ungefähr so groß“, sagte er und breitete die Arme aus, aber nicht ganz. Auf der Flucht hatte er ein Jahr lang im Sudan gelebt und sich mit Malerarbeiten Geld verdient. Genau das verband ihn mit dem Mann, mit dem er schließlich die WG in Fürth gründen würde.

Der Afghane Mustafa, meiner Ansicht nach ungefähr 23 Jahre alt, war sehr stolz auf seinen Beruf. Einmal kam in einem meiner Tests ein Bild von einem Maler vor und daneben die Frage: „Was ist er von Beruf?“ Mustafa wählte die Maximalversion: „Er ist Beruf Maler arbeiten“, schrieb er in seiner schönsten Schnörkelschrift. Einmal brach er auf der Treppe zusammen. Er ließ sich aufsetzen, war aber nicht ansprechbar. Ein andermal saß er in einer Ecke am Eingang, den Kopf auf die Hände gestützt. Ein Bild der Trauer. Ich sprach ihn an: „Mustafa, alles in Ordnung? Möchtest du reden?“ Was für eine absurde Idee! Bei so geringen Deutschkenntnissen. Er schüttelte leicht den Kopf. Einmal hatte ich eine Postkarte mit einem Vögelchen dabei. „Ich liebe! Ich liebe das Bild!“, rief er, und ich schenkte es ihm. Dann freute er sich, das Wort „umsonst“ von mir zu lernen. „Ah, umsonst! Hier ist alles umsonst. Essen umsonst, Deutschkurs umsonst. Das ist super.“

Ein Abschied mit „Ghishenk“

Ich habe mich von Dawit und Mustafa nicht verabschieden können. Die Unterkunft wurde Ende Februar geschlossen. Die größte Gruppe von Schülern aus Eritrea war schon Mitte des Monats nach Schwandorf abgereist. Der 13-jährige Tarek, einer meiner Schüler aus der Gruppe der langsamen Anfänger, rief mich später einmal von dort aus an: „Schwandorf klein, Deutschkurs gut, Tzegay und ich ein Zimmer.“ Er hörte sich zufrieden an. Ich war beruhigt. Nach ihrer Abreise unterrichtete ich noch drei Tage lang, doch es waren nun zu wenige Schüler da, und niemand war motiviert. Hanibal plauderte einen Moment mit mir, Dawit kam für eine halbe Stunde in meinen Kurs, bevor er sich wegen Kopfschmerzen verabschiedete. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass die Schüler sich mehr um mich kümmerten als andersherum. Jeder schenkte mir ein paar Minuten Aufmerksamkeit, damit ich mich nicht allzu traurig und einsam fühlte.

Am Montag, dem 23. Februar, sollten die restlichen Schüler die Notunterkunft verlassen. Ich kam um 9.30 Uhr, um mich zu verabschieden, Dawit und Mustafa waren aber schon um neun Uhr mit einem Bus abgeholt worden. Im Schlafsaal, in den ich jeden Morgen gekommen war, um meine Schüler zu wecken und zum Unterricht zusammenzutrommeln,

war es totenstill. In der hintersten Ecke saß Filiam auf einem der Hochbetten. Hanibal stand daneben. Ich verabschiedete mich mit einem Händedruck, doch Filiam sagte: „Warte! Ich habe ein Geschenk.“ Er drehte sich um, wühlte in einer Plastiktüte und streckte mir dann ein Armband aus Zuckerperlen entgegen. Raus hier, dachte ich, damit sie mich nicht weinen sehen. Ein paar Wochen zuvor hatte er in meinem Unterricht mit Buntstiften ein Bild für seine Freundin gemalt. „Ghishenk“ hatte er groß und breit daraufgeschrieben, und ich hatte ihn damit etwas aufgezogen, auf nette Weise: „Was ist denn ein Ghishenk?“ „Na, ein Ghishenk, du weißt schon. Wie Weihnachten.“

Text: Daphne Morgenrot. Illustration: Jindrich Novotny. Mit freundlicher Genehmigung des INSP Nachrichtendiensts www.INSP.ngo / BISS, München.

VERKÄUFER IM RAMPENLICHT: COLIN, BIG ISSUE

BIG ISSUE NORTH (Nordengland): Seit sechs Jahren verkauft Colin die Straßenzeitung „The Big Issue North“ in Manchester. Er ist ziemlich bekannt, was nicht zuletzt an den regelmäßigen Posts über seinen Alltag liegt, die auf der Facebook-Seite der Straßenzeitung geteilt werden. Mit Christian Lisseman spricht er über einen lokalen Film, bei dem er den Anführer einer Gang gespielt hat, wie er wieder Kontakt mit seinem Vater aufgenommen hat und wie Big Issue North ihm dabei auf geholfen hat, wieder auf die Beine zu kommen.

Warum verkaufst du das Magazin?

Ich wurde obdachlos aufgrund von Familienproblemen. Seit dem Teenageralter war ich immer wieder obdachlos. Ich habe in Hostels geschlafen, aber auch auf der Straße. Ich habe 2009 angefangen, Big Issue North zu verkaufen. Zu der Zeit habe ich auf der Straße geschlafen und kam auf die Idee, mir mit dem Verkauf der Zeitung ein bisschen Geld dazu zu verdienen.

Hast du Familie?

Ja, habe ich. Vor einigen Jahren habe ich in einem Hostel der Heilsarmee gelebt. Dort habe ich eine Weihnachtskarte bekommen mit einem Brief darin – aus Birmingham. Die ersten Worte in diesem Brief waren: „Ich schreibe dir, um herauszufinden, ob du mein lange verlorener Sohn bist.“ Es war ein Bild dabei von meinem Vater, den ich seit 23 Jahren nicht gesehen hatte. Ich habe dann eine Weile bei ihm gewohnt und wir sind immer noch in Kontakt.

Wie geht es dir im Moment?

Im Moment ist es nicht so schlecht. Das Magazin zu verkaufen, hilft mir unheimlich. Es hilft mir weiterzumachen, raus zu gehen und Leute zu treffen. Außerdem kann ich so ein bisschen Geld verdienen. Das reicht für Essen und Kleidung. Ich habe mittlerweile auch eine Wohnung, in der ich seit vier Jahren lebe. Es ist einfach super, sein eigenes kleines Heim zu haben. Ich kann machen, was ich will, wann ich will. Ich mach die Tür auf, schließe sie hinter mir und bin in meinem eigenen Reich.

Erzähl uns von den Projekten, bei denen du dabei bist.

Manchmal fragen mich Leute einfach, ob ich bei was mitmachen will. Letztes Jahr zum Beispiel hat mich jemand angesprochen, der ein Buch über Menschen aus Manchester schreibt. Die haben auch ein Foto von mir gemacht und mir Komplimente gemacht, weil ich immer ein Lächeln auf den Lippen habe. Die haben sogar das Team von Cornerhouse interviewt, die mich immer sehr unterstützt haben. Und dann sollte ich letztes Jahr noch in einem Film mitspielen. Der hieß „Der grausamste aller Götter“. Ich habe darin einen Bandenchef gespielt. Als das dann im Mai gezeigt wurde, kamen die Leute auf mich zu und meinten: „Du hast in dem Film richtig böse ausgesehen, wie ein echter Gangster.“ Im wirklichen Leben bin ich überhaupt nicht so!

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Ich würde gerne wieder anfangen, zu arbeiten. Früher habe ich in der Küche gearbeitet und im Catering. Ich denke darüber nach, wieder in diesen Bereich zu gehen.

Erzähl uns noch von deinem Verkaufsort.

Mein Platz war lange vor dem ehemaligen Cornerhouse. Das war ein unabhängiges Kino und ein Ort der Kunst in Manchester. Anfang diesen Jahres haben sie dann hier zugemacht und sind umgezogen in ein neues Haus die Straße runter – es heißt „Home“ (Zu Hause). Ich vermisse das alte Cornerhaus. Und ich hatte anfangs tatsächlich Einbußen bei den Verkäufen. Aber mittlerweile habe ich einen neuen Standplatz in der Nähe der neuen Location. Das Team vom Home ist großartig. Als ich angefangen habe, dort zu verkaufen, kamen sie raus und meinten: „Wir sind so froh, dass du Zu Hause bist!“

Text: Christian Lisseman. Foto: Jason Lock. Mit freundlicher Genehmigung des INSP Nachrichtendiensts www.INSP.ngo / Big Issue North, Großbritannien.

„UNGARN IST SO EIN MERKWÜRDIGES LAND“

HINZ & KUNZT (Hamburg): Mitte September reiste unser Autor Frank Keil nach Ungarn. Was ist in dem Land los, das Europa durch seinen Umgang mit Flüchtlingen schockierte? Und wie ergeht es dort den Obdachlosen? Ein Besuch auf dem Bahnhof Keleti in der Hauptstadt Budapest, wo die Flüchtlinge ankamen, und in den Obdachloseneinrichtungen der Stadt.

Budapest, Mitte September, Bahnhof Keleti. Der mondäne Ostbahnhof. Ich wusste nicht, ob ich ankommen würde. Mal hieß es, der Zugverkehr von und nach Budapest sei wegen der Flüchtlinge eingestellt; mal auch wieder nicht. Nun ist es mitten in der Nacht. Ich frage einen jungen Ungarn nach dem Weg; danach, wo laut meinem Plan mein Apartment im jüdischen Viertel liegen müsste, in dem ich eine Woche lang wohnen werde. Er zeigt geradeaus, immer geradeaus solle ich gehen. Wir schauen auf die Flüchtlinge, die unter uns auf der teils überdachten Fläche zwischen Bahnhof und Metro in Zelten oder auf Matten campieren. Vielleicht 200, 300 sind es, schätze ich.

Anfang September saßen hier tagelang Tausende fest, sich selbst überlassen. Die Bilder von im Müll liegenden Frauen, Männern und Kindern unter der damals sengenden Sonne gingen um die Welt. Budapester Bürger räumten ihre Kühlschränke leer und brachten alles hierher; Journalisten kauften zwischen ihren Liveschaltungen Lebensmittel und Wasserflaschen. Denn der ungarische Staat tat absolut nichts für die Versorgung der Gestrandeten; private Helfer mussten sich über Facebook erst finden, sich erst organisieren; mussten Spenden, Decken und Zelte einsammeln und mussten drängen, dass die Stadt wenigstens Toiletten aufstellte. Acht Stück stellte sie schließlich. Acht Stück – mehr wurden es nicht. So ging das, bis die Flüchtlinge revoltierten, sich zu Fuß auf den Weg über die Autobahn machten, um nach Österreich zu gelangen – bis Ungarn schließlich Busse schickte und sie kurz vor der Grenze aussetzte.

Eine Rasur – ein Moment der RUHE auf der Flucht. Die Stadt stellt die Wasserstelle und Toiletten. Mehr tut sie für die Flüchtlinge nicht

Eine Rasur – ein Moment der Ruhe auf der Flucht. Die Stadt stellt die Wasserstelle und Toiletten. Mehr tut sie für die Flüchtlinge nicht.

Jetzt ist alles deutlich entspannter: Über Nacht kommen die meist erschöpften Flüchtlinge aus Serbien an, werden weiterhin nur von privaten Helfern versorgt und verpflegt, übernachten und drängen sich am nächsten Morgen in die Regionalzüge Richtung Österreich. Und am nächsten Tag wiederholt sich alles.

Für den jungen Ungarn neben mir ist das alles ein vertrauter Anblick, ich sehe es das erste Mal. Er hält ein kleines Paket in der Hand: Kuchenstücke, in Klarsichtfolie eingewickelt. „Ich bin zwar gerade arbeitslos, habe selbst nicht viel, aber das hier möchte ich den Flüchtlingen bringen“, sagt er. Er fragt mich, woher ich komme, was ich in Budapest vorhabe, und ich erzähle ihm, dass ich für ein Straßenmagazin in Hamburg schreibe, das vor allem Obdachlose verkaufen. Er legt den Kopf schief, grinst mich an und sagt: „Erzähl keinen Quatsch! Es gibt in Deutschland doch keine Obdachlosen!“

In Budapest gibt es 13.000 Menschen, die keine eigene Wohnung haben. Schätzungsweise. Man sieht sie in den Unterführungen übernachten, man sieht sie an den Zugängen zur Metro. Und man sieht sie jetzt am Keleti unter den Flüchtlingen. Wie sie zwischen den Flüchtlingen ihre Decken ausrollen oder ihre Pappen auslegen; wie sie sich bei der Lebensmittelausgabe anstellen, wo man sie ein wenig irritiert anschaut: Sind das Flüchtlinge? Aber sie werden natürlich trotzdem versorgt. Und sie ziehen sich wieder in ihre Nischen zurück. Sie bleiben, während die Flüchtlinge bald weiterziehen.

Diese Budapester Friseurin gibt ihren freien Freitag, um Flüchtlingen die Haare zu schneiden

Diese Budapester Friseurin gibt ihren freien Freitag, um Flüchtlingen die Haare zu schneiden

Ansonsten können sie bei „Menhely Alapívány“ (zu Deutsch: „Stiftung Obdach“) unterkommen, eine Stiftung, die mehrere Unterkünfte unterhält. Ich treffe in deren Tagestreff Zoltán Gurály, Soziologe und Sozialarbeiter. Er kümmert sich auch um Budapests Straßenzeitung „Fedél Nélkül“ („Kein Dach mehr über dem Kopf“): Zwölf Seiten, dünnes Papier. Die meisten Artikel werden von Obdachlosen geschrieben: Gedichte, Erzählungen, Lebensberichte. Manchmal werden auch Interviews mit Prominenten veröffentlicht. Die Zeitung hat keinen festen Verkaufspreis. Man gibt, was man geben will. „In Ungarn gibt es nicht viele Leute, die für eine soziale Sache Geld ausgeben“, begründet das Zoltán Gurály. „Viele unserer Leute halten ein Exemplar unserer Zeitung auch einfach nur hoch, während sie betteln; wir sind darüber nicht glücklich, aber wir haben es akzeptiert.“

Ich frage ihn nach dem Gesetz gegen Obdachlose, von dem ich gelesen habe. Ja, das sei eine merkwürdige Sache: Nach Amtsantritt der Orbán-Regierung 2010 habe die Stadt Budapest eine Verordnung erlassen, dass in besonders attraktiven Vierteln der Stadt das Lagern und Übernachten auf der Straße verboten sei. Als dann das oberste Gericht diese Verordnung als rechtswidrig kassierte, habe Orbán mit seiner komfortablen Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament einfach ein neues Gesetz beschlossen – so mache man das heutzutage in seinem Land.

Und – wird es angewandt? „Es wird nicht angewandt, das ist es ja: Wir wissen nicht, warum nicht.“ So, wie auch in diesem Moment nicht klar sei, wie hart und konsequent die Regierung ihr Dutzend Eilgesetze gegen die Flüchtlinge, aber auch die Helfer anwenden wird – oder nur teilweise oder vielleicht auch nicht. Es sind Gesetze, die die ein- und durchreisenden Flüchtlinge kriminalisieren. Und die, die ihnen helfen. Das Kaufen von Zugtickets oder das Aufsammeln erschöpfter Flüchtlinge am Straßenrand könnten dann als Schleppertätigkeit bewertet werden – das Verteilen von Lebensmittelspenden soll als gewerbsmäßige Tätigkeit verstanden werden und wäre anzumelden und ebenfalls zu bezahlen. Aber so sei es: Machtausübung beginne damit, dass man offen ließe, ob man seine Macht einsetzen wird. Wenn man unberechenbar bliebe. „Das Klima, in dem wir alle hier arbeiten, ist sehr schlecht“, sagt Zoltán Gurály. Und er schüttelt den Kopf: „Ungarn ist so ein komisches Land.“

Eine Familie aus Syrien hat es bis nach Budapest geschafft. Nun erklärt ihnen eine Helferin, wo es Fahrkarten für die Weiterreise gibt.

Eine Familie aus Syrien hat es bis nach Budapest geschafft. Nun erklärt ihnen eine Helferin, wo es Fahrkarten für die Weiterreise gibt.

Die zweite große Einrichtung neben „Menhely Alapívány“ ist das Obdachlosenzentrum „Fütött utca“ („Beheizte Straße“) der methodistischen Kirche Ungarns. Es wird geleitet von Gábor Iványi. Er ist eine Art Ikone der ungarischen Oppositionsbewegung, dabei hat er Viktor Orbán vor vielen Jahren getraut und seine ersten Kinder getauft. Doch als dessen rechtskonservative Regierung immer offener gegen sozial Schwache und Obdachlose vorging, etwa die Sozialhilfe kürzte, erhob Iványi seine Stimme. Im Gegenzug fiel er in Ungnade. Orbán ließ sich von seiner Parlamentsmehrheit gar im Sommer 2011 eigens ein neues Kirchengesetz zimmern: Demnach sollen nur noch die Religionsgemeinschaften staatliche Gelder für ihre sozialen und karitativen Tätigkeiten bekommen, wenn sie mehr als 30.000 Mitglieder zählen.

Es gibt aber keine 30.000 Methodisten in Ungarn. Also sind in den vergangenen Jahren eine Menge Leute in die methodistische Kirche eingetreten, die es sonst mit Gott nicht so haben – die aber Gábor Iványi und seine Mitarbeiter schätzen. So kann er mittlerweile seine Arbeit wieder fortsetzen.

Ich habe Glück, es lässt sich einrichten, dass er mich empfängt: in seinem Büro mit einer gepolsterten Tür. An der Wand hängt ein handsigniertes Porträt von Elisabeth der Zweiten, sie hat es ihm persönlich überreicht. „Fragen Sie, fragen Sie!“, sagt er, verschränkt die Hände über seinem sehr imposanten Bauch und lächelt gütig. Und er erzählt, wie er als junger Mann Anfang der 70er-Jahre Theologie studierte, wie er sich immer mehr für die verarmten und ausgegrenzten Roma Ungarns interessierte, wie er als Armenpastor aufs Land ging (er wählt das schöne Wort „Gesellschaftspastor“), dann Mitglied der oppositionellen Helsinki-Gruppe wurde und dafür fast im Gefängnis gelandet wäre. Und wie er nach dem Systemwechsel 1990 eine der ersten Schulen für Sozialarbeit gründete: „Wissen Sie, es gab vorher keine Sozialarbeiter, weil es ja im Sozialismus keine sozialen Probleme geben durfte.“ Er lacht in sich hinein: „Es gab auch erst nach der Wende ein Wort für ,ohne Obdach sein‘ – hajléktalan“. Und er bestätigt, was mir schon Zoltán Gurály erzählt hatte: In Ungarn werden Armut, Elend und Not wie etwas Ansteckendes wahrgenommen, und also sei es am besten, wenn man Not, Elend und Armut einfach nicht zeige, weil es sie dann nicht mehr gibt.

Auch die Geschichte des Hauses, in dem wir gerade sitzen, erzählt einiges: Es ist ein ehemaliger staatlicher Schlachthof mit Schlachterei sowie den Kühl- und Lagerräumen, den man nicht mehr brauchte, als ab 1990 die westlichen Wurstund Fleischwaren, vertrieben über die neuen Supermärkte, den heimischen Markt in kürzester Zeit zusammenbrechen ließen. „Wir haben das Gebäude für 99 Jahre gepachtet, und wir haben es aus eigenen Mitteln umgebaut.“ Aber nun hat er leider den nächsten Termin, aber sei ich mal wieder in der Stadt, ich könne mich gerne wieder melden. Und jetzt werde mir einer seiner Sozialarbeiter alles zeigen. Und der führt mich nun durch das Haus, zeigt mir die Krankenstation, den Tagesraum, die Suppenküche. Und die Räume im Keller, in denen etwa 30 blanke Metallbetten stehen und ebenso viele schäbige Matratzen an der Wand lehnen: Man kann hier übernachten, morgens muss man gehen.

Ich bin hin- und hergerissen: Einerseits gibt es anrührend liebevoll ausgestattete Abteilungen wie ein kleines Hospiz; andererseits schockiert mich der pragmatische Umgang mit den hier Lebenden: Der Sozialarbeiter klopft nicht einmal an, wenn wir einen nächsten Raum betreten, in dem ärmlich gekleidete Menschen Fernsehen schauen oder auf einem zerwühlten Bett liegen; ich werde nicht einmal vorgestellt. Ich halte meine Kamera in der Hand, aber mir will es einfach nicht gelingen, Fotos zu machen. Es ist, als würde ich in eine ganz eigene Welt abtauchen.

Wir stehen schließlich in einem langgestreckten Raum, in dem sich die Wohnungslosen tagsüber aufhalten können. In einer Abseite hinter Maschendraht stehen ein paar Betten: In einem liegt ein älterer Mann. Er liegt da und schaut mich aus großen Augen an und ich weiß nicht, wie ich zurückblicken soll, während der Sozialarbeiter mir sachlich erzählt, dass oben im ersten Stock die, die einen Job gefunden haben, kleine Zimmerchen hätten und nicht morgens um sechs Uhr geweckt würden wie alle anderen. Als ich wieder nach dem Mann schaue, hat er die Augen geschlossen und scheint zu schlafen.

Es gibt in dem verwinkelten Bau auch einige Zimmer für Flüchtlinge. „Wollen sie in Ungarn bleiben oder wollen sie irgendwann weiterziehen?“, frage ich. „Man weiß es nicht“, sagt der Sozialarbeiter. In der Gemeinschaftsküche, die zu diesen Zimmern gehört, steht ein Mann, ich vermute aus Afrika. Er steht einfach da, starrt an die Wand, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück und redet leise vor sich hin.

„Wir haben in Budapest große Obdachlosenunterkünfte, aber diese arbeiten rein karitativ und nicht politisch“, sagt Balog Gyula, Urgestein der ungarischen Obdachlosenbewegung und Mitbegründer von

„A Város Mindenkié“ – übersetzt: „Die Stadt gehört allen“. Ihm zur Seite steht Tompa István, der gerade mit seiner jungen Frau und dem gemeinsamen Baby zur Untermiete untergekommen ist. Er hat als Kind viel österreichisches Fernsehen geschaut – und sich so mit der deutschen Sprache vertraut gemacht. Er übersetzt für uns.

Und es folgt ein spannender Exkurs in die junge Geschichte des Landes aus Sicht der Obdachlosen: Wie im Staatssozialismus ein sogenannter Asozialenparagraf dafür sorgte, dass etwa Männer, die eine Scheidung aus der Bahn warf, in Wohnheime mit Mehrbettzimmern eingewiesen wurden und sie nicht einfach ihrer Wege gehen durften. Wie nach der Wende im Schwung der Euphorie ganze Wohnsiedlungen privatisiert, also verscherbelt wurden. Und der Staat nicht daran dachte, einen gewissen Grundbestand an bezahlbaren Wohnungen zu halten. Mit heute verheerenden Folgen: Es gibt keinen sozialen Wohnungsbau; nur drei Prozent aller Mietwohnungen in Ungarn sind überhaupt in kommunalem Besitz. Sodass, wer einmal seine Wohnung verliert, eigentlich keine Chance hat, je wieder eine zu bekommen.

Zugleich steht massenhaft Wohnraum leer; schon in der Innenstadt sieht man halbe Straßenzüge leer stehen, während prächtige Bauten aus der K.-u.-k.-Monarchie in Hotels für westliche Touristen umgewandelt wurden. Es gäbe also viel Platz, um die Obdachlosen unterzubringen. Und es gäbe auch viel Platz für die Flüchtlinge. Überhaupt die Flüchtlinge: Mitstreiter von „A Város Mindenkié“ waren Anfang September dabei, als sie sich auf eigene Faust aufmachten, um Budapest zu verlassen. „Heute helfen einige von unseren Unterstützern am Bahnhof Keleti mit“, sagt Balog Gyula.

„Die Stadt gehört allen“ ist nicht die einzige Organisation, die sich neben ihren eigenen Belangen für die der Flüchtlinge einsetzt. Auch die jüdische Community Ungarns hat unter ihrem neuen Sprecher Rabbi Zoltán Radnóti in einem offenen Brief Viktor Orbáns Flüchtlingspolitik kritisiert und sie unumwunden „unmenschlich“ und „beschämend“ genannt. Das mag für unsere Ohren nicht allzu rebellisch klingen – in Ungarn erfordert so etwas viel Mut.

Ich habe wieder Glück, und Rabbi Radnóti trifft sich mit mir auf einen schnellen Kaffee im „Café Tel Aviv“. Er entschuldigt sich zunächst für sein mageres Englisch – das nicht schlechter sein wird als meins. „Also, die …“, er stockt. Er sucht nach einem Wort. Er holt sein Handy hervor, öffnet eine App für ein Englischwörterbuch, er tippt Buchstaben ein, wird nicht fündig. Er schaut mich fragend an: „Wie sagt man zu diesen Leuten, die jetzt alle kommen, aus Syrien, aus Afghanistan?“ – „Refugees? Flüchtlinge?“, versuche ich es. „Refugees!“, ruft er erleichtert aus. „Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich dieses Wort benutze. Ich muss es mir unbedingt merken.“ Und wir beide lachen herzhaft.

Und dann erzählt er: Ja, sie sammeln Spenden. Lebensmittel, Kleidung, Hygieneartikel und auch Geld. Wobei es nicht einfach gewesen sei, diese Aktion zu starten: „Es gibt auch bei uns in der Community viele Vorbehalte gegenüber den Flüchtlingen. Und wieder andere hatten schlicht Angst, sich mit der Regierung anzulegen, denn die mag es ja gar nicht, dass man diesen Menschen hilft.“ Doch am Ende hätten sie beschlossen, ihren Weg zu gehen, sich notfalls gegen die Regierung zu stellen und eben zu helfen. Das Gespendete ginge unmittelbar an die Südgrenze nach Röszke. Dort, wo die Zustände für die Menschen so unhaltbar seien und gleichfalls nur zivile Helfer vor Ort wären.

Wie wird es weitergehen? In den nächsten Tagen, Wochen, Monaten? Wie alle, die ich das gefragt habe, sackt er kurz zusammen, schüttelt ratlos den Kopf: „Ich weiß es nicht; wirklich nicht. Ich habe keine Idee.“ Er richtet sich wieder auf: „Wir Ungarn kennen das nicht: fremde Menschen. Wir kennen das nicht, dass Menschen an unserer Grenze stehen und zu uns hereinwollen. Wir müssen das erst lernen, damit umzugehen, und ich hoffe, dass wir das lernen.“

Die Antwort auf sein Engagement kam übrigens postwendend: Orbán schickte Grüße zu Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrstag, ergänzt um einige Ausführungen: dass Ungarn weiterhin und ganz entschieden seine Grenzen schützen werde und dass in Ungarn nur Platz für Ungarn sei. Ein deutlicher Hinweis, dass die Juden, die in Ungarn leben, es sich genau überlegen sollten, ob sie dazugehören wollen.

Und wo ich gerade in die jüdische Welt Budapests eintauche, schaue ich noch im „Aurora“ vorbei – ein Club, der maßgeblich von der jüdischen Jugendorganisation „Marom“ getragen wird und in dem einige NGOs ihren Sitz haben; auch „Die Stadt gehört allen“ ist regelmäßig zu Gast.

Es sind meist junge Leute, die hier aktiv sind; viele sind jetzt vor Ort am Keleti, um die Flüchtlinge zu versorgen. Aron übernimmt es, mir die Geschichte des Clubs zu erzählen: wie sie drüben im jüdischen Viertel einen ersten Treffpunkt eröffneten; wie die Polizei den Treff stürmte, unter dem Vorwand, das Gebäude sei baufällig. Und wie sie jetzt im Roma-Viertel von Budapest einen Neuanfang wagen wollen. „Wir möchten, dass sozial interessierte Leute hier in der Bar einen Kaffee oder ein Bier trinken, sich wohlfühlen, vielleicht mal abends eine unserer politischen Veranstaltungen besuchen und die sich vielleicht langfristig einer unserer NGOs anschließen“, sagt er.

„Woher nimmst du die Kraft, diese Arbeit zu tun?“, frage ich. Er lacht verlegen, schaut an mir vorbei: „Also, ich selbst werde in zwei Tagen Ungarn verlassen; ich gehe nach London, um dort zu arbeiten.“ Ja, es tue ihm leid, aber er gehe. „In diesem Land sehe ich für mich keine Zukunft mehr.“ Damit ist er nicht allein: 600.000 Ungarn haben seit 2010 ihr Land verlassen. Vor allem Leute wie Aron. Gut ausgebildet, motiviert, jung. Und wo ging es oft hin? Nach Deutschland.

Soll ich damit schließen? In der Redaktion sprechen wir oft darüber, ob man nicht am Ende einer Geschichte etwas Positives aufzeigen sollte oder ob das nicht im Gegenteil nur billiger Trost sei.

Ich gehe gedanklich noch mal zum Bahnhof zurück. Stehe da an meinem letzten Abend inmitten der Flüchtlinge und der Helfer, vor mir eine Frau im Schneidersitz. Sie trägt einen Hidschab, hält ein schlafendes Kind auf dem Arm, ein zweites steht neben ihr, reibt sich müde die Augen, während der Familienvater dünne Matratzen und Decken, von Ikea gespendet, heranschleppt. Sie sind gerade frisch angekommen. Haben es geschafft, nach Keleti zu gelangen, statt in einem der völlig überfüllten Auffanglager an der Grenze auf nicht absehbare Zeit festgehalten zu werden.

Hier bedanken sich muslimische Flüchtlinge bei den Ungarn, die ihnen zur Seite stehen

Hier bedanken sich muslimische Flüchtlinge bei den Ungarn, die ihnen zur Seite stehen

Eine Frau tritt hinzu, keine der Helferinnen, sondern eine Budapesterin mit schmalem Rucksack und in einer geringelten Strickjacke. Sie grüßt die vor ihr Sitzende, reicht Babywindeln und eine Papiertüte mit Lebensmitteln. Sie führt ihre rechte Hand an ihren Mund und macht heftige Kaubewegungen. Die beiden Frauen fangen plötzlich laut an zu lachen, denn was soll man mit Keksen und Bananen und Äpfeln schon anderes machen, als sie zu essen? Dann verabschieden sie sich voneinander – und lächeln sich dabei an.

P.S.: Kurz nach der Rückkehr unseres Autors hat Ungarn seine Grenzen gegen Flüchtlinge abgeriegelt. Bei Redaktionsschluss war zumindest ein Grenzübergang nach Serbien wieder geöffnet. Wenn Sie diese Geschichte lesen, kann die Situation schon wieder völlig verändert sein.

In Budapest hat Frank Keil ein Online-Tagebuch geführt:
www.huklink.de/budapest

Text und Bilder von Frank Keil. Mit freundlicher Genehmigung des INSP Nachrichtendiensts www.INSP.ngo / Hinz&Kunzt, Hamburg.

#32 GETEVIERTEL

EDITORIAL: HINTER DEN TÜREN

Wer mal Gäste hat, die nicht wissen, was ein Altbremer Haus ist, sollte mit ihnen einen Spaziergang durchs Geteviertel machen. In ganzen Straßenzügen steht dort nichts anderes als diese prächtigen Altbauten. Sehr schön, aber ein Problem für die Recherche dieser Ausgabe: Geschichten liegen hier nicht einfach auf der Straße. Das Leben im Geteviertel spielt sich eher in seinen schönen Wohnhäusern ab.

Unsere Autorinnen – in diesem Heft zufälligerweise ausschließlich Frauen – mussten also etwas Geduld aufbringen und genau hinsehen, um interessante Themen zu entdecken. Wir finden, es ist ihnen gelungen:

In einer Schrebergartenkolonie knüpft ein Gastronom, der eigentlich eine Szenebar im Steintorviertel aufmachen wollte, Freundschaften mit der größtenteils älteren Stammkundschaft. Es geht weniger um Sehen und Gesehenwerden, dafür oft um Männerthemen (S. 20).

Im Geburtshaus Schwachhausen kämpfen Hebammen um ihre Existenz. Durch rasant steigende Versicherungsbeiträge können sie es sich kaum noch leisten, Kindern ans Licht der Welt zu verhelfen (S. 12).

Finanzielle Probleme kennt man bei den Freimaurern an der Kurfürstenallee, wo sich zwei Logenhäuser direkt gegenüberstehen, nur vom Hörensagen. So weit das Klischee. Die sonst verschlossenen Männerbünde haben uns die Tür geöffnet. Was wir dabei erfahren haben, sehen und lesen Sie ab Seite 22.

Ganz offen, auch beim Thema Geld, waren die Anwohner der Straßburger Straße: Bei ihrem „Flohmarkt vor der Haustür“ verkauften sie Kurioses und ihre geheimen Schätze (S. 8).

Haben Sie Kritik oder Anregungen? Wir freuen uns über Leserbriefe an redaktion(ät)zeitschrift-der-strasse.de – oder auch klassisch per Post.

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

Aus dem Inhalt

08   EINE STRASSE VOLLER GESCHICHTEN

Auf dem Gete-Flohmarkt treten Schätze und Weisheiten zutage

12   TROTZ ALLEDEM

Der Beruf der Hebamme ist in Gefahr

14   NÄHE UND DISTANZ

Fotostrecke

20   IM STILLEN FRIEDEN

Ein Wirt. Sein Stammgast. Und eine Freundschaft unter Männern

22   UNTER BRÜDERN

Besuch bei den Freimaurern „Zum silbernen Schlüssel“

30   EIN SCHNACK MIT … UWE

… und nur online

@   UNTER BLINDEN (online lesen)

Ein sehender Lehrer hilft sehbehinderten Kindern, ihren Alltag zu meistern

Hintergrundfoto: Mirza Aiz Baig/flickr.com

IM HAUS DER WISSENSCHAFT

Die Zeitschrift der Straße ist seit heute (30. September) und noch bis Ende Januar 2016 in der Ausstellung „Wissen für die Zukunft“ im Bremer Haus der Wissenschaft vertreten. Die Schaufensterpuppe Heinz-Rüdiger im Outfit eines Straßenverkäufers hält für uns dort die Stellung und bietet Besucher:innen Hefte zum Mitnehmen an – aber nur als Dankeschön für ausgefüllte Fragebögen. Die sind Teil unserer Marktforschungsbemühungen.

Die Präsenz der Zeitschrift der Straße in dieser Ausstellung irritiert ein bisschen, und das ist gut so. Alle anderen Exponate zeigen die Leistungsfähigkeit der Hochschulen des Landes Bremen in den Bereichen Technologie und Design. Entsprechend groß war das Stirnrunzeln der anderen Aussteller, als wir Heinz-Rüdiger aufbauten. Aber das Thema der Ausstellung, „Wissen für die Zukunft“, schließt natürlich auch Wissen über Gesellschaft und ihre Veränderung ein. Hierfür sind wir – leider – die einzigen Repräsentanten.

Andere Straßenmagazine würden wohl nicht zur Teilnahme an einer Wissenschaftsausstellung eingeladen werden. Aber die Zeitschrift der Straße ist eben auch ein innovatives Lernprojekt wissenschaftlicher Einrichtungen. In diesem Fall ist die Teilnahme durch die Hochschule Bremerhaven ermöglicht worden, wo die Zeitschrift 2009 in einer studentischen Machbarkeitsstudie vorgedacht und initiiert wurde.

Heinz-Rüdiger und Michael Vogel. Wer ist wer?

Heinz-Rüdiger und Michael Vogel. Aber wer ist wer?

Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung versuchte sich ZdS-Mitbegründer Michael Vogel (Foto) als Straßenverkäufer und wollte zusammen mit Heinz-Rüdiger der Wissenschaftssenatorin Eva Quante-Brand einige Hefte andrehen. Das gelang den beiden leider nicht. Straßenverkäufer:innen sind vielen Menschen noch suspekt und verunsichern sie. Wir arbeiten daran, dass sich das ändert. Straßenmagazine sind gut für die Gesellschaft!

VERKÄUFER IM RAMPENLICHT: PANAYIOTIS VON SHEDIA, ATHEN

SHEDIA/Athen: Panayiotis Triantafillidis, 35 Jahre alt, ist ein griechisches Mitglied der Roma, dessen Leben sich verändert hat, indem er die Zeitung Shedia in Athen verkauft hat. In diesem Artikel erklärt er, wie er, erst nachdem er das Lesen gelernt hatte, wirklich verstand, was Shedia war. Jetzt kann er gar nicht mehr aufhören, das Magazin zu lesen, das er selber verkauft und das ihm geholfen hat eine Wohnung zu mieten.

Ich komme aus Istiataia (einer Stadt im Norden der griechischen Insel Evia), ich wurde in Athen geboren und lebte die meiste Zeit in der Gegend von Aspropyrgos. Ich bin ein griechischer „Gypsy“ und das hat mir viele Probleme bereitet im Leben. Mein Vater war ein Marktverkäufer und ich habe ihm bei vielen Arbeiten geholfen. Als er 2008 gestorben ist, brach es uns allen das Herz. Es ist so lange her und ich kann es immer noch nicht glauben.

Ich wollte unbedingt von Zuhause weg, aber ich konnte nicht, weil ich mich um meine Mutter kümmern musste. Sie war sehr streng. Sie wollte nicht, dass ich abends auf den Straßen herumlaufe, weil sie Angst hatte, ich könnte Ärger mit der Polizei bekommen. Es ist normal dass uns „Gypsys“ Rassismus entgegengebracht wird. Eines Tages hab ich dann  gesagt, ich laufe von Zuhause weg und komme nicht wieder. Seit ich ein Kind war, habe ich davon geträumt mein eigenes Zuhause zu haben, aber ich konnte es mir nie leisten, weil ich keine geregelte, stabile Arbeit hatte.

Als ich jung war, hatte ich einen Unfall und habe alle Zähne verloren. Das machte es für mich schwer einen Job zu finden, weil die Leute mich sahen und dachten, ich wäre ein Drogenabhängiger. Als ich zu einem Ort namens Renti ging (ein Arbeiterviertel), lernte ich die Nachbarschaft kennen und die Leute mochten mich. Ich habe mich um Hunde gekümmert, sie gefüttert und den Nachbarn geholfen. Eine Frau ließ mich in ihrem Haus bleiben und erlaubte mir ein Bad zu nehmen und dort zu schlafen.

Später zog ich ins Stadtzentrum. Ich hatte keine beständige Arbeit, aber ich hatte etwas Geld von einer Aushilfsstelle in einem Kiosk in Syntagma Square. Im Gegenzug gab mir der Besitzer Essen und ein bisschen Geld. Aber ich hatte keine Freunde, ich war sehr einsam.

Eines Tages fielen mir ein paar Leute mit roten Westen auf, die ein Magazin verkauften (die Straßenzeitung Shedia), aber ich wusste nicht richtig, was es war, weil ich nicht lesen konnte. Ich war nie in der Schule gewesen. Einmal hat mich meine Mutter hingeschickt, aber die anderen Kinder haben mich geschlagen und mir mein Geld gestohlen, so bin ich nie wieder hingegangen.

Ich fragte einen Verkäufer über die Straßenzeitung aus. Er erzählte mir was es war und wie es funktionierte, aber ich verstand die ganze Sache nicht ganz.

In der Zwischenzeit arbeitete ich auf einem Friedhof. Erst hatte ich Angst, doch nach einer Weile habe ich mich dran gewöhnt. Es gab eben nämlich Zeiten wo ich sehr hungrig war und keinen einzigen Cent für Essen hatte.

Einmal traf ich eine Gruppe von Polizisten, die mich mochten und mir halfen, aber ihre Haltungen waren ziemlich extrem. Sie haben mein Denken beeinflusst und bewirkten, dass ich mich feindlich gegen Asylsuchende und Migranten fühlte und mich rassistisch den Menschen gegenüber verhielt. Aber glücklicherweise verstand ich sehr schnell, dass das falsch war. Ich habe meine Aktionen bereut, war enttäuscht von mir selbst. Ich habe niemals von mir gedacht, dass ich so sein und denken könnte.

Eines Tages, als ich die Hauptstraße von Athen entlanglief, traf ich eine große Versammlung vor einem Gebäude (eine Hilfsstelle für Migranten). Ich fragte, ob ich auch mitmachen könne und sie sagten mir, dass sie alle Menschen akzeptieren. Das war der Zeitpunkt, wo ich meine Einstellung komplett änderte. Ich bemerkte, was ich falsch gemacht habe und wie viel Gutes dabei verloren geht. Mit der Hilfe eines privaten Lehrers lernte ich schnell lesen und schreiben.

Eines Tages sah ich wieder jemanden mit einer roten Weste auf der „Shedia“ stand. Ich fragte wieder nach. Ich habe in der Zwischenzeit gelernt und verstand jetzt besser. Ich besuchte die Büros, redete mit den Menschen und alles wurde mir im Detail erklärt. Diesmal war ich richtig heiß darauf, anzufangen. Kurz danach bekam ich einen Anruf und wurde ins Büro eingeladen. Mir wurde die rote Weste gegeben und meine ersten 10 kostenlosen Kopien. Am ersten Tag ging ich schnell zu meinem Platz und wartete bis es Zeit für mich war, meinen neuen Job zu beginnen. Es war ein unglücklicher Tag, meine Tasche wurde gestohlen, doch ich gab nicht auf.

Ich sah, dass die Dinge sich schnell begannen zu verändern und ich war sicher, dass ich es schaffen würde. In zwei Monaten hatte ich mir eine kleine Summe Geld gesammelt und habe mir sofort meine eigene kleine Wohnung gemietet. Kurz danach halfen mir die Leute vom Straßenmagazin, meine Zähne machen zu lassen. Ich war so glücklich und hatte die Energie noch mehr Zeitschriften zu verkaufen. .Als ich heimkam, dachte ich vor dem Einschlafen an Shedia und die Leute, die mir diese Möglichkeit gaben. Jetzt, wo ich lesen kann, kann ich nicht aufhören jede Seite des Magazins zu lesen.

Natürlich gibt es auch manche Leute, die das Magazin nicht mögen und viele schlechte Sachen über uns sagen. Das Schlimmste, was mal jemand zu mir sagte ist, dass wir betteln würden. Ich fühlte mich peinlich berührt, aber ich verstand dass nicht jeder verstehen konnte, wie wichtig es für mich ist – und wie es mir geholfen hat.

Die Leute lernen uns jetzt immer besser kennen und ich bin sehr froh darüber. Die Menschen können sehen, wie ich mich verändert habe. Sogar wenn ich es eines Tages schaffe, einen anderen Job zu finden, möchte ich Shedia nicht verlassen. Ich möchte sicher gehen, dass ich ein bisschen Zeit haben werde, die Zeitung zu verkaufen. Manchmal hab ich Probleme damit, meine Miete zu bezahlen, aber ich gebe nicht auf. Die Menschen fragen mich Dinge über die Leute von Shedia und was ich antworte ist, dass ich mit der Zeitung auch eine zweite Familie gefunden habe. Wir unternehmen viele Dinge zusammen und ich bin sehr froh, sehr stolz und glücklich dass ich Teil dieser Familie bin.

Wenn es Shedia nicht gegeben hätte, wäre ich ein Landstreicher. Durch Shedia habe ich all meine Träume wahr gemacht, die ich seit meiner Kindheit hatte. Und jetzt kann ich weiter träumen.

Text und Fotos: Shedia. Mit freundlicher Genehmigung des INSP Nachrichtendiensts www.INSP.ngo / Shedia. Übersetzung vom Englischen ins Deutsche von Anne Winterhager

#31 WESTERDEICH

EDITORIAL: ALLES IM FLUSS

Als unsere Redaktion sich für die kleine Straße Westerdeich links der Weser entschied, waren einige unserer Autoren unsicher: Kann man in einer so beschaulichen Ecke Bremens spannende Geschichten finden?

Ein wenig Recherche zeigte: Wie so oft täuschte der erste Eindruck. Allein die Historie dieses Ortes liest sich wie ein Roman. Der Westerdeich war bis in die 1960er-Jahre ein Anziehnungspunkt für Sonnenhungrige und Erholungssuchende aus der ganzen Stadt. Mit einem Sandstrand, der ganze sechs Kilometer lang war, konnte auch der Osterdeich nicht mithalten. Unser historisches Foto gibt einen Eindruck davon, was hier bei gutem Wetter im Sommer los war.

Doch die Zeiten änderten sich. Der Sand musste dem Neustädter Hafen weichen, die zahlreichen Kneipen, Wirtschaften und die Badeanstalt wurden vom expandierenden Holzhandel verschluckt. Zurück blieben eine kleine Straße am Deich mit schöner Aussicht auf die Weser – und ihre bunt gemischten Bewohner.

Wir trafen Alteingesessene wie den ehemaligen Matrosen Hermann Brandt, den die vorbeiziehenden Schiffe auf eine lukrative Geschäftsidee brachten (S. 20). Einen Wegeobmann im Kleingärtnerverein, der die meiste Zeit seines Lebens auf einer Parzelle verbrachte, die er nun dem Hochwasserschutz opfern muss (S. 24). Und eine junge Frau, die sich mit Kickboxen ihren Platz in der Welt erkämpft (S. 8). Diese und einige weitere Themen finden Sie in dieser Ausgabe.

Haben Sie Kritik oder Anregungen? Wir freuen uns über Leserbriefe unter redaktion(ät)zeitschrift-der-strasse.de.

Viel Vergnügen wünschen Tanja Krämer, Philipp Jarke
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

 

Aus dem Inhalt

08   WEITERKÄMPFEN

Sie kam als Fremde. Entdeckte das Kickboxen. Und fand eine neue Heimat

12   DER WILL NUR SPIELEN

Ein Mann. Ein Hund. Vier Begegnungen

14   AM WASSER

Fotostrecke

20   FUMMELARBEIT AM DEICH

Ein ehemaliger Matrose fertigt waschechte Seemänner aus Holz

24   REGELN HIN ODER HER

Unterwegs mit einem Wegeobmann im Kleingarten

30   EIN SCHNACK MIT … STEFAN (online lesen)

 

Hintergrundfoto: Antonio Ponte/flickr.com