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INKOGNITO AUF MALLE

Die #23 UNISEE gibt’s jetzt auch auf Malle, ein Exemplar jedenfalls. Hab ich dort bei Freunden in der Kneipe liegen lassen. Ansonsten hab ich einfach mal eine Woche Urlaub gemacht (war ein Geschenk zu meinem 50. Geburtstag): Jeden Tag Meeresrauschen!

Jetzt macht’s auch wieder voll Spaß, hier bei der Zeitschrift der Straße zu sein. Werde nun wieder richtig in den Verkauf einsteigen. Also wer noch ein Heft braucht: Ich stehe vorm Edeka Am Dobben, vor der Stadtbibliothek, gelegentlich auch vorm Rewe am Delmemarkt und vermutlich bald auch wieder im Schnoor beim Heini-Holtenbeen-Denkmal.

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

AUFREGENDE ZEITEN

Ich bin wieder draußen! Habe meinen Klinikaufenthalt gut überstanden; mir geht’s nun deutlich besser als zuvor. Und das Beste: Ende der Woche fahre ich für ein paar Tage in Urlaub – ein Geschenk zu meinem 50. Geburtstag. Dreimal habe ich in der Zwischenzeit versucht, die Zeitschrift der Straße zu verkaufen. Das läuft aber leider gerade nicht so gut. Ich vermute, dass viele die neue Ausgabe #23 UNISEE, in der auch ein Artikel von mir drin ist, schon haben. Oder es war einfach Ferienflaute.

Bis ich meine Tagestherapie beginnen kann, wird es noch ein paar Wochen dauern. Drei Dinge helfen mir, die gut zu überstehen. Erstens meine Freunde aus der WG, bei denen ich mich sehr gut aufgehoben fühle – ohne sie würde ich das gar nicht schaffen. Zweitens eine gute Freundin, die ich neulich per Zufall wieder getroffen habe und die mich nun immer wieder auf die richtige Spur setzt. Und drittens die Zeitschrift der Straße, die ich ab Oktober wieder regelmäßig verkaufen werde und für die ich bereits an meinem nächsten Artikel schreibe.

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

In der Klinik

Bin noch immer in der Klinik auf Entzug. Es läuft sehr gut, wenn auch die wirklich harten Tage noch bevorstehen. Ich erzähle natürlich allen hier von der Zeitschrift der Straße und alle sagen, ich soll da auf jeden Fall dranbleiben, weiter verkaufen und Artikel schreiben. An meinem nächsten sitze ich bereits und ab Anfang Oktober werde ich auch wieder Hefte verkaufen – das ist so ziemlich das einzige, was mir gerade fehlt.

SIE NENNEN IHN HODDEL

#22 SODENMATT – Er will mehr Miteinander und weniger Gegeneinander im Quartier. Und selbst immer was zu tun haben. Ein Besuch bei Horst Dressel

 

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„Würde man mir sagen, die nächsten Tage hätte ich nichts zu tun, dann würde ich durchdrehen.“ Er reißt die Hände in die Luft, das soll dem Gesagten noch mehr Ausdruck verleihen. „Ich würde mir das Telefon schnappen und mir eine Beschäftigung suchen. Egal welche. Ich brauche doch den Ausgleich.“ Horst Dressel, 64, hat nicht vor, sich so schnell zur Ruhe zu setzen. Er sprudelt vor Energie, sein Tonfall ist energisch, sein kurzes weißes Haar der einzige Indikator seines fortgeschrittenen Alters. Horst Dressel macht.

Eben noch wild in der Luft herumfuchtelnd, umfassen seine Hände nun den prall gefüllten, schwarzen Aktenordner vor ihm. Zeitungsausschnitte, Danksagungen, Fotos, alles fein säuberlich in Klarsichtfolien verpackt und abgeheftet. Sein Finger tippt auf die Artikel und Fotos: Überall geht es um Huchting, um den Sodenmatt, um Aktionen und Beschwerden, um Sitzungen und Initiativen, um Projekte und das Leben hier, und überall wird er erwähnt. Der Ordner ist eine dicke Sammlung all dessen, was er in den letzten Jahren gemacht hat. Horst Dressel zeigt sie gern.

Jeweils 24 Parteien wohnen in einem der Wohnblocks zwischen Heinrich-Plett-Allee und Sodenmattsee. Horst Dressel vermittelt, wenn es Streit um Lärm und Schmutz gibt, begrüßt neue Bewohner, organisiert Klönschnack und Mieterstammtisch. „Ein ganz schön umfangreiches Programm“, sagt er. Die „Gewoba“ hat ihn zum Nachbarschaftssprecher ernannt – und er nimmt seine Aufgabe ernst.

Ein Fest zum Gruß

Seine Finger klopfen unruhig auf den Ordner, fast, als würden sie die Regentropfen nachahmen, die an die Fensterscheibe prasseln. Das trübe Wetter und die mausgrauen Wohnblocks im Fenster hinter ihm stehen ganz im Kontrast zu dem bunten Treiben hinter den Betonfassaden. „Wir sind hier so ein Kultimulti: Deutsche, Muslime, Russen, Farbige“, sagt Nadja Altunç, eine Nachbarin und Dressels helfende Hand. Dann erzählt sie, wie es hier noch vor zwei Jahren war: Dass die Älteren immer gemeckert haben, wenn unten Kinder spielten. „Nicht mal gegrüßt haben sie.“ Bis Horst Dressel und sie dieses Fest veranstaltet haben, ein Fest für alle Nachbarn.

„Wir wollten zeigen, dass wir auch miteinander können“, sagt Nadja Altunç: „Wir sollen uns nicht immer aus dem Weg gehen.“ Sie hat sich warmgeredet jetzt, Horst Dressel aber unterbricht sie. „Um es zu verkürzen“, sagt er auf seine etwas schroffe Art: „Keiner wusste, wie dieses Fest zustande kommt und wie es verlaufen und enden würde.“ Horst Dresel aber macht. Er organisiert Pavillons, Torwandschießen für die Kinder und ein Glücksrad. „Die Pavillons stehen noch unten im Keller, die zeige ich Ihnen gerne, wenn Sie mir das nicht glauben!“

Sagt’s und wendet sich wieder seinem Sammelhefter zu. Die Bügel ächzen beim Blättern unter dem Gewicht der vielen Seiten. „Hier habe ich noch ein Bild.“ Das nächste Fest ist schon in Vorbereitung, unten im Keller stapeln sich bereits die Kartons. „Die halten mich hier alle für verrückt, aber was soll ich machen?“ Unschuldig zuckt er mit den Schultern. „Man braucht ja jemanden, der hier alles zusammenhält“, sagt eine Frau aus der Nachbarschaft.

„Hoddel“, wie sie ihn hier liebevoll nennen, kennt am Sodenmatt jeder. Und jeden, den man fragt, wen man hier kennen muss, antwortet: Hoddel. „Immer ein offenes Ohr und stets bemüht, dass alles seine Richtigkeit hat.“ Oder: „Wenn man mal in der Klemme steckt, weiß man, an wen man sich wenden kann.“ Und das nicht nur wegen seiner quietschgrünen Visitenkarten, die er überall verteilt. Darmkrebs, Gehirntumor, Herzinfarkt: Horst Dressel hat schon so einiges hinter sich. Aus der Schublade hinter seinem Stuhl kramt er etwas hervor und wirft es auf den Tisch. „Das ist mein Behindertenausweis: 100 Prozent, die kriegt man nicht einfach so!“ Ein gewisser Stolz schwingt in seiner Stimme mit – Stolz darüber, dass er trotz seiner Beeinträchtigung noch so viel macht. Einzelhandelskaufmann war er früher. Er habe ja immer wieder angefangen zu arbeiten, erzählt er. Nach dem Gehirntumor jedoch sei gar nichts mehr gegangen. Da habe er auch körperlich gemerkt, dass er das nicht mehr schaffe. Bloß: Ohne Arbeit und Aufgabe kann er auch nicht.

„Dieser Ausgleich, wenn man dann in Rente geht, der fehlte mir einfach, der fehlte mir total.“ Horst Dressel suchte sich was Neues. Nur manchmal, eher selten, gibt es Tage, wo ihm auch das alles zu viel wird. „Dann muss ich auch mal auf die Bremse treten“, sagt er und fügt sogleich hinzu: „Aber es ist das Schönste, was mir passieren kann, wenn ich was zu tun habe.“ Er lächelt zufrieden. Links und rechts und hinter ihm stapelt sich in Pappkartons sein aktuellstes Projekt: rote Weihnachtsmannzipfelmützen, Schokoladenkrokant, Spielzeug – Spenden für die Kinder in Wardamm. Seine Herzenssache. Wardamm: Ein Niemandsland am Nordrand von Huchting, zwischen Feuchtwiesen und Autolackierereien, noch hinter den Bahngleisen. Drei Baracken im U bilden das Übergangswohnheim für Asylbewerber, Nadja Altunç kannte es, weil eine Freundin dort wohnte.

Eines Tages, berichtet sie, habe Horst Dressel sie vorsichtig gefragt, wie es denn dort so sei. Sie erzählte. Horst Dressel kramt ein Bild aus seinem Ordner hervor und zeigt mit dem Finger energisch auf ein Foto. „Vier bis fünf Familien kochen da“, sagt er empört – in einer Küche, nicht größer als sein Esszimmer. Seit drei Jahren schon sammeln die beiden regelmäßig Spenden bei Nachbarn und Freunden für die Kinder in Wardamm. Sie gehen von Haus zu Haus, die Sammelbüchse in der Hand. Viele geben etwas, manche aber schimpfen auch bloß über „die Ausländer“. Horst Dressels Strategie ist dann, sich gar nicht erst einzulassen auf die Diskussionen. Ihm geht es um die Kinder. Was auch immer die Leute über deren Eltern zu lästern haben – „Dem Kind können Sie helfen.“ Und dann, berichtet Dressel, „ist die Falle zugeschnappt: Dann muss ich nur noch die Dose hinhalten und es macht klingelingeling!“

An Weihnachten und Ostern besorgt er dann Geschenke von dem Geld. Vom Übergangswohnheim bekommt er eine Liste mit den Namen und Geburtsdaten der Kinder. So kann er gezielt einkaufen. Oder besser: einkaufen lassen. Seine Frau nämlich habe zwar eigentlich mit der ganzen Sache nichts zu tun. „Wardamm ist mein Ding!“, sagt Horst Dressel. Doch manchmal muss auch sie mithelfen. „Könntest du bitte nach ‚Primark‘ fahren und eben mal 45 Handschuhe, 45 Schals und 45 Mützen holen?“ Er lacht herzlich. „Ich habe mir ja keinen Kopf darüber gemacht, wo ich das alles lagern soll. Das war so ein Sack voll!“ Seine Hand beschreibt einen ziemlich großen Berg. Die Namen der Kinder tippt er alle mit dem Computer ab, druckt und schneidet sie aus und klebt sie auf die Tüten. „Es muss ja auch seine Richtigkeit haben.“ Dann wird es erst richtig kompliziert: Die Einkäufe müssen sortiert werden: Welches Kind braucht welche Größe? „Das ist keine Sache von jetzt auf gleich. Aber es macht Spaß und das ist das A und O. Das ist für mich so, als würde ich noch richtig arbeiten.“

Mit einer hektischen Bewegung zieht er eine Zellophantüte aus einem der Pappkartons hinter sich. „Ich will Ihnen das mal genauer zeigen: Das ist wirklich kein Schrott, was wir den Kindern schenken.“ Die Schokoladenweihnachtsmänner etwa, er hält einen nach oben, seien „natürlich die originalen von ‚Lindt‘, wohlgemerkt“. Ein einziges Mal ist es ihm passiert, dass er ein Geschenk zu wenig besorgt hatte. Noch heute hat er daran zu knappsen, fügt sogleich entschuldigend hinzu: „Fehler machen wir alle.“

Weihnachten im Freien

Wardamm, 17. Dezember: Weil es drinnen keinen Raum gibt, wo alle reinpassen, findet die Weihnachtsfeier im Freien statt. Nur die Geschenke, die lagern in einem kleinen Zimmer mit Tür zum Hof. Das Wohnheim ist eigentlich für 160 Menschen ausgelegt, gerade wohnen 240 hier. Männer in Badelatschen, als würde ihnen die Kälte nichts anhaben können. Kinder ohne Jacken mit laufenden Nasen. Die Frauen haben zusammen Kuchen gebacken. Bevor die Bescherung beginnt, trommeln die Kinder auf ihren Bongos und singen lauthals „Wer hat die Kokosnuss geklaut?“. Horst Dressel steht in dem winzigen Raum bei seinen sorgfältig verpackten Präsenten, wacht mit Argusaugen über sie. Aus den bunt bedruckten Tüten mit den Tiermotiven ragen die roten Mützen der Schokoladenweihnachtsmänner. „Das sind aber schöne Tüten“, bemerkt eine der Helferinnen. „Jede Tüte hat auch einen Euro gekostet“, erwidert er. Auch ein „echter“ Weihnachsmann ist da und sitzt vor dem Tütenberg. Dann ruft ein Helfer die Kinder auf, eins nach dem anderen kommt, Horst Dressel reicht die Tüte vor, über den Weihnachtsmann hinweg. „Die Leute sind dankbar für das, was Horst macht, und die Kinder lieben ihn hier“, sagt Nadja Altunç und nickt ihm anerkennend zu. Er winkt bescheiden ab. „Ich hatte halt schon immer diesen sozialen Touch im Kopf.“

Text: Carolin Pertsch
Bild: Jaeuk Lee

PROST, IHR HELDEN

#22 SODENMATT – Sie fühlen sich ein bisschen rausgefallen aus der Zeit. „Filippos“ aber hat geöffnet, so lange sie bleiben. Ein Kneipenvormittag

 

ZdS SodenmattNur zwei Kneipen sind übriggeblieben. „Als wir hier anfingen, gab’s sieben in der Ecke. ‚Ach, der Grieche, der macht in zwei Wochen wieder zu!‘, ham se gesagt. Aber wir sind geblieben, alle anderen sind weg.“ Der Grieche, dessen schwarzes Haar sich lichtet, heißt Paul. Mit seiner Frau Regina führt er „Filippos“, seit 1982, an jedem Tag der Woche. Die beiden 3-D-Bilder an den vertäfelten Wänden müssen auch aus der Zeit sein. Ein roter Sportwagen flitzt durch die Nacht, um ihn herum ein Glitzerrelief. Nebendran rauscht romantisch ein Wasserfall mit Glitter durch das nachtblaue Bild. Draußen an der Tür steht „Geöffnet von 11 Uhr bis 23 Uhr“, aber, winkt Regina ab, „wir schließen, wenn der Letzte geht“. Meistens ist das gegen eins, manchmal auch erst um drei. Für Paul war diese Art von Kundenorientierung „der Trick“, sich gegen die anderen Kneipen durchzusetzen: niemanden rausschmeißen.

Paul und Reginas Wohnung ist oben, die Grenze zwischen Privat- und Berufsleben längst verschwommen. Als ihre Töchter noch klein waren, tingelten sie im Kneipenraum rum, an einer Leine, damit sie im Sommer nicht durch die offene Tür auf die Straße raus rannten. Außerdem hat da Pauls griechische Mutter die Familie noch unterstützt. Jetzt lebt sie wieder in Griechenland. Die Töchter sind groß, die eine studiert in Hamburg, die andere hofft auf einen Ausbildungsplatz, am liebsten im Justizvollzug, aber vielleicht findet sie auch bei „Kellogg’s“ was, einer der Stammgäste hat da Kontakte. Jeden Morgen um elf frühstückt die Familie am mittleren der drei Kneipentische. So können sie nebenher schon Gäste bedienen und müssen sich mit dem Frühstück nicht so hetzen.

Schweigen am Tresen

„Filippos“ ist ein Ort, an den sich selten Fremde verirren. Spagettigardinen in den Fenstern versperren den Blick hinein. Tagsüber bleiben die Lichter über dem Tresen aus, man kann daher nicht sehen, ob überhaupt geöffnet ist oder Gäste da sind. Die meisten der Stammkunden sind Männer, ab Mitte 50, alleinstehend. Männer, deren kahlen Kopf meist nur noch ein weißer Haarkranz umrahmt und die fast alle schwarze Jacke, schwarze Schuhe und Flanellhemd unter farbigem Pullover tragen. Vor allem am Tresen, wo die Älteren sitzen, wird viel geschwiegen. „Man weiß ja sowieso alles vom andern, da muss man nicht pausenlos reden.“

Um fünf nach zwölf hört man das erste Bier am hinteren Tisch ploppen, ab halb eins sind die vier Barhocker und drei Tische belegt. Alle behalten ihre Jacken an; es ist kühl. Ein Mann kommt rein, zahlt wortlos seine Zeche, Regina streicht den Deckel durch, dann verschwindet der Gast wieder. Zechpreller gebe es hier nicht, sagt Regina, „die kommen ja alle wieder, und ich weiß ja auch, wo die wohnen“. Die meisten ihrer Gäste hat sie oder ihr Mann schon mal nach Hause gebracht. Fast alle tragen auch ihr Leergut selbst zurück zum Tresen.

Die Digitalanzeige des Zigarettenautomaten wechselt von „Guten Morgen“ zu „Guten Tag“. In der Auslage leisten kleine Jägermeister und Schnäpschen den Capri-Sonnen und Schokoriegeln Gesellschaft, der Kaffee ist löslich. Um eins schmeißt Regina die drei Spielautomaten an und der erste Kurze geht über den Tresen. Draußen vor dem Fenster radeln Kinder von der Schule heim. „Da kannst’e sagen, wat de willst, aber das war alles verlässlicher früher. Heute – ach Mensch, hör auf!“ Herbert, der immer mit seinem irischen Setter Leo kommt, winkt ab. „Wir passen“, er macht eine Pause, setzt neu an, „wir passen alle in diese Zeit nicht mehr rein, da kannst’e sagen, was de willst.“

Mit 14 hat er Landwirt gelernt, dann Schlachter, ist zur See gefahren und hat schließlich bei „Beck’s“ angefangen, nochmal studiert, sich dort hochgearbeitet, am Ende war er Betriebsrat. Dann wurde die „Beck’s“ von der belgischen „Interbrew“ aufgekauft und mit der brasilianischen „AmBev“ zum weltgrößten Brauereikonzern fusioniert, der schließlich noch die US-Großbrauerei Anheuser-Busch mit dazunahm. „Wenn ich das schon höre: ‚global player‘!“, poltert Herbert mit hölzernem Englisch. Zustimmendes Nicken und Gemurmel. Er gibt der Tresenriege einen Schnaps aus. Zwei wählen Ouzo, das ist der günstigste – man will ja niemanden ausnehmen. Alle erheben die Gläser. „Prost, ihr Helden“, ertönt Herberts Stimme. Schweigen.

Unter der Woche lohne es sich nicht, die Fritteuse und den Bratspieß anzuschmeißen, sagt Regina. Essen gibt es bei „Filippos“ daher nur am Wochenende. „Aber erst ab vier – dann dürfen wir hier nicht mehr rauchen, sondern müssen uns dafür in den Nebenraum verziehen“, verrät Werner und schaut verschmitzt, als würde er eine verrückte Neuigkeit verkünden. Er kratzt immer wieder um die drei kleinen, eintätowierten Punkte an seinem rechten Daumen. Der Nebenraum gehört seit 1996 mit zur Kneipe. Ein Billardtisch steht darin, man kann dort feiern und einmal im Monat wird geknobelt. Bis vor kurzem liefen hier auch „Werder“-Spiele live über die Leinwand, aber seit „Sky“ die Preise fast verdoppelt hat, geht das nicht mehr. Die Fußballbegeisterten unter den Stammkunden sitzen an Spieltagen seitdem 90 Minuten um ein Radio und lauschen dem Reporter.

Paul hält eine „Werder“-Uhr in die Höhe. „Die wird ihm gefallen, oder? So was hat er doch noch nicht!“ Er und ein Stammkunde feiern morgen zusammen Geburtstag. DJ Wolle, ebenfalls ein Stammgast, wird auflegen. Gerade waren sie bei „Metro“ und karren jetzt die Getränke rein. Wenn Paul dort Bier holt, gucken die Leute immer auf seinen dicken Bauch. „Die denken, dass ich das alles selbst trinke“, glaubt Paul. Dabei mag er gar kein Bier.

Rolf hält ein kleines Gerät an den Hals, das seiner Stimme Klang verleiht. Jeden Tag kommt er eigens aus der Vahr hierhergefahren. Wenn er vom Tresen aufsteht, um einem Gespräch irgendwo im Raum etwas hinzuzufügen, oder jemandem auf die Schulter klopft, huscht ein kleines Strahlen über sein Gesicht. Sonst schaut er ins Leere, hustet viel und drückt dann immer auf sein Kehlkopfpflaster. „Wir fühlen uns hier alle wohl“, sagt nicht nur er. „Du erlebst hier alles“, fügt Regina vom Tresen leise hinzu. „Ob ’ne Frau ’nen Kinderwagen hier reinschiebt und sagt ‚Tschüss!‘ und der Ehemann sitzt dann da. Oder ob eine ihrem Mann hier gleich die Koffer reinstellt – das ist der Wahnsinn!“ Paul quetscht sich an ihr vorbei und gibt ihr einen liebevollen Klapps.

Pflegestufe eins

Als Tor über den Bürgersteig auf die Kneipentür zustakst, schauen alle auf. „Siehst’, da kommt er.“ Er kommt langsam auf seinen stelzenartigen, langen Beinen hereingeschritten, setzt sich mühsam auf den Barhocker. Sein Gesicht ist grau, die Hände fahrig. Alleine schafft er es gar nicht mehr bis zur Kneipe, seine Frau muss ihn mit dem Auto holen und bringen. Er bekommt ein Bier und einen Braunen, dann bittet er Paul, einen Zehner klein zu machen – für Zigaretten. Paul schiebt sich hinterm Tresen vor. „Bleib sitzen, ich mach das schon.“ Tor mit der Seemannsmütze, den hier alle nur den „Kapitän“ nennen, erzählt Werner, dass er gestern seine Patientenverfügung gemacht und seine Grabrede besprochen habe, „das dauert 15 Minuten“. Immer wieder unterbricht er sein Reden, schnappt nach Luft und setzt zum nächsten Satz an. Er hat Lungenkrebs und muss bald sterben, alle hier wissen das. „Bei mir ist nichts mehr los. Die Ärzte sagen: ‚Mach, was de willst‘“, erzählt er. Und dass, bei „Filippos“, „wir alle richtig miteinander reden dürfen. Wenn ich Werner sage, dass er ein Armleuchter ist, dann glaubt der das.“ Seit 25 Jahren ist er in Huchting. „Vielleicht bin ich nächste Woche noch hier, vielleicht nich’“, sagt er. Gerade habe er noch eine höhere Pflegestufe bewilligt bekommen.

Sie hätten hier doch alle mindestens Pflegestufe eins, wirft Werner, zwei Tresenstühle weiter, forsch scherzend ein. „Alles, was ich früher mal konnte …“ Tor ringt nach Luft und schimpft: „Nicht mal mehr scheiß angeln kann ich!“ Nachdem er wieder gegangen ist, bleibt er noch eine Weile Gesprächsthema. „Soll er doch rauchen und trinken, Mensch, ist doch richtig so!“, sagt einer. Und dass es Klaus, was die Wohnung und das Altwerden angehe, besser gemacht habe, weil bei dem zu Hause alles ebenerdig sei.

Vom Spielautomaten verkündet Eddi: „Vier Spiele!“ „Bist’e wieder am Zocken?“, ruft Uwe zurück. „Du weißt doch, is’ verlorenes Geld.“ Das findet Eddi nicht. Er hat schon ab und an 200 Euro gewonnen. Der höchste Gewinn, der ausgezahlt werden musste, liegt schon einige Jahre zurück: 860 Euro – aber nicht für Eddie. Zwischen seinen Spielen kommt er zum Tresen, um bei Regina Geld für die nächsten zu wechseln.

„Moin“, tönt es aus einem dichten Oberlippenbart. Ein Mann in weißer Malerhose steht in der Tür. „Moin“, schallt es sechsmal zurück. „Es war einmal ein Maler, der hatte keinen Taler“, flachst Herbert, der sonst gern Klassiker zitiert, Goethe, Schiller, Eugen Roth, Shakespeare, „man hat ja auch ’n bisschen wat gelesen“. „Hör auf“, protestiert Tor dann. „Wir sind hier nicht in der Schule.“ Die drei Haushaltskühlschränke hinterm Tresen brummen.

Text: Kim-Nikoline Kraul
Foto: Franziska von den Driesch