Gastbeitrag von Hinz&Kunzt, Hamburg: Freunde fragen mich manchmal, ob es mich frustriert, wenn sie oder andere sich jetzt intensiv für Flüchtlinge engagieren – und die Obdachlosen so ins Hintertreffen geraten.
Nein, dass sich so viele um die Neuankömmlinge kümmern und offen für sie sind, finde ich richtig toll. Das macht mir Mut für die Zukunft. Das geht übrigens nicht nur mir so, sondern auch anderen in unserem Team von Hinz&Kunzt. Ein Kollege ist ganz aktiv als Flüchtlingshelfer, auch viele Obdachlose und Ex-Obdachlose engagieren sich.
Und die Obdachlosen sind dadurch nicht ins Hintertreffen geraten. Sie waren es schon, bevor die Flüchtlinge kamen. Nur wird jetzt erst so richtig deutlich, was alles möglich ist, wenn eine ganze Stadt sich anstrengt. Hamburg hat, wie Bremen viele Tausende Menschen untergebracht. Mehr schlecht als recht, aber immerhin. Politiker, Behördenmitarbeiter, Mitarbeiter der Unterkünfte, Freiwillige – sie arbeiten bis an den Rand der Erschöpfung.
Diese Meisterleistung unserer Städte begeistert mich. Und machen mich gleichzeitig ein bisschen neidisch. Warum wird das Thema Obdachlosigkeit nicht mit derselben Power angepackt?
Ich komme mir schon vor wie der letzte Jammerlappen, wenn wir Mitarbeiter der Obdachlosenhilfe gebetsmühlenartig wiederholen, dass es keine bezahlbaren Wohnungen oder Unterkünfte mehr gibt. Und mit den Jahren jammern wir auf immer niedrigerem Niveau. Früher forderten wir bezahlbaren Wohnraum für Obdachlose, dann wenigstens Einzelzimmer in Unterkünften, jetzt: dass sie überhaupt ein Bett bekommen. Und neulich, der Tiefpunkt: dass sie in einer verdreckten Ecke in der City liegen bleiben dürfen, weil die immerhin überdacht ist.
Aber den politischen Willen, Obdachlose unterzubringen, den gibt es eben nicht. Trotz aller Sympathiebekundungen. Das schürt den Verteilungskampf, und so wird eine Gruppe von Menschen in Not gegen die andere ausgespielt. Das macht sich natürlich auch bei uns im Projekt bemerkbar.
Neulich mussten wir einen Hinz&Künztler für einen Tag rausschmeißen. „Pack“, hatte der gebrüllt, mit allem Hass, den er gerade zur Verfügung hatte. Die Flüchtlinge seien „ein PACK“. Konflikte dieser Art sind wir gewohnt. Hinz&Kunzt ist ein Kooperationsprojekt – zwischen Menschen, die schon als Kinder Rückhalt hatten, und solchen, die nie auf Rosen gebettet waren. Je weniger einer vom Leben bekommen hat, desto weniger hat er oft auch zu geben. Binsenweisheit: Je weiter unten einer steht, desto größer der Wunsch, dass unter ihm noch einer stehen müsse. Das mag ihm Sicherheit geben. Das alles können wir verstehen, aber nicht tolerieren.
Entsprechend berührt sind wir, wenn Menschen aus unseren Reihen sich eben nicht ausspielen lassen und sich sogar noch für andere engagieren. Das erleben wir derzeit eben auch.
Denn Fakt ist: Allen geht es schlecht. Den Flüchtlingen und den Obdachlosen – und den EU-Wanderarbeitern, von denen gerade niemand mehr spricht. Alle brauchen ein Dach über dem Kopf – menschenwürdig und ohne Wenn und Aber.
Text: Birgit Müller. Sie ist Chefredakteurin des Hamburger Straßenmagazins Hinz&Kunzt. Dieser Beitrag ist in ähnlicher Form in der Ausgabe 10/2015 erschienen. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung von Hinz&Kunzt.
Beitragsbild: Per Gosche/flickr.com