Leseprobe

„DIE ARMUT WIRD IMMER GRÖSSER“

#50 DIE STRASSE – Stefan Gehring arbeitet seit über zwei Jahren bei der Zeitschrift der Straße. Und er malt auch: Die Zeichnung unten ist von ihm. Täglich steht er am Nordausgang des Bahnhofs, an der Bürgerweide. Hinter dem Bahnhof arbeiten insgesamt fünf VerkäuferInnen der Zeitschrift der Straße – er und sein Freund Bommel, durch den er zu dieser Arbeit gekommen ist, sind jeden Tag da. Mit seinem Dreitagebart wirkt der 33-Jährige jung, seine Haut ist gebräunt.

 

[Wir haben Stefan Gehring gebeten, mit einer Einwegkamera seine eigene Sicht auf Bremen einzufangen. Das folgende Protokoll entstand während eines Gesprächs mit ihm über seine Fotos, von denen einige in der Ausgabe #50 abgebildet sind.]

„Ich hab viele Baustellen fotografiert. Mit den Bildern sollen wir ja unseren Blick auf die Straße zeigen – oder unsere Perspektive. Mir kommt es so vor, als wären überall nur Baustellen. Ich bin ja Bremer und egal, an welche Zeit ich mich zurück erinnere: Überall wird gebaut. Dazu kann man ein kleines Experiment machen. Man kann mehrere Leute fragen: „Nenn’ mir mal drei Straßennamen in Bremen?“ Und ich wette, in einer von diesen drei Straßen wird gerade gebaut! Also ich hab zumindest das Gefühl. Ich hab schon ein paar Leute gefragt und da waren immer Straßen dabei, in denen derzeit gebaut wird.

Und ich hab das Walle-Center fotografiert, weil das ist immer gleich der erste Konsumtempel, dem ich morgens so begegne. Wenn ich morgens so losgehe, dann komm ich dort immer vorbei und bringe meinen Pfand dahin. Da steht auch schon einer von den anderen Verkäufern, er hat sich aber leider weggedreht, als ich das Bild gemacht habe. Das finde ich eigentlich schade. Auf dem Weg zum Bahnhof, wo ich täglich die Zeitschrift der Straße verkaufe, sind mir einige Bilder begegnet, Graffitis. Da ich ja selber male, fällt mir das besonders auf, dass unsere Stadt immer bunter wird. Deshalb hab ich diese Bilder fotografiert. Diese Graffitis sind in Findorff, bei der Plantage.

Zeichnung von Stefan Gehring

Und ich habe Bilder von der Armut in Bremen gemacht. Das ist ein Bett, vor dem CinemaxX am Bahnhof hier. So mitten im öffentlichen Raum! Ich frage mich, ob das niemanden stört – oder ob es niemand sehen will. Ich weiß es nicht.

Mir ist aufgefallen, dass in Bremen die Armut immer größer wird. Deshalb hab ich Bilder von der Facebook-Gruppe „Facebook hilft der Straße“ gemacht, die treffen sich immer dienstags und verteilen Essen. Und Bilder von den Suppenengeln: Die Schlangen, an denen sich Menschen Lebensmittel abholen können, werden immer länger. Dann hab ich aber auch andere Bilder von Anlaufstellen gemacht, an denen man sich Hilfe holen kann. Zum Beispiel die Bahnhofsmission. Da gehe ich auch manchmal hin, zum Kaffeetrinken zum Beispiel. Auch um Informationen zu bekommen kann man da gut hin. Die haben aber leider zurzeit geschlossen, weil sie einen Trauerfall hatten, da ist auch jemand gestorben. Und natürlich habe ich den Bahnhof von innen fotografiert. Weil ich da ich weiß nicht wie oft am Tag durchrenne.

Hier am Bahnhof ist mein Stammplatz, den hab ich natürlich auch fotografiert. Und den Sicherheitsmann, Michi, mit dem verstehe ich mich ganz gut. Mit einigen von den Verkäuferinnen aus der Bäckerei auch. Schade, dass die hier dicht machen.“

Protokoll: Frauke Kuffel
Portraitfoto: Norbert Schmacke