Leseprobe

Drei Ecken, ein Elfer

#73 GERHARD ROHLFS STRASSE – Als durch die Gerhard-Rohlfs-Straße noch der Fernverkehr rauschte und auch die Sedaneiche noch stand: Erinnerungen eines Straßenfußballers aus den Nachkriegsjahren

Wir spielten noch in der Dämmerung. Hätten wir nicht zum Abendessen zu Hause sein müssen, wir hätten noch gespielt, bis es ganz dunkel wurde, bis man den Wasserturm nicht mehr sehen konnte. Und wir hätten wahrscheinlich in der Dunkelheit noch das Tor getroffen. Das Tor war kein richtiges Fußballtor, die Pfosten waren der Baum in der Mitte des Sedanplatzes und ein Haufen von Jacken und Pullovern. Wir waren in der Volksschule, die dank der amerikanischen Besatzer damals sechs Jahre dauerte. Der Begriff Straßenfußballer war noch nicht gebräuchlich, aber das waren wir, Straßenfußballer. Unser Leben fand in der Nachkriegszeit sowieso auf der Straße statt. Meine besten Freunde waren Arbeiterkinder, die waren die besten Fußballer. Die wurden immer zuerst gewählt, wenn die Mannschaften verteilt wurden. Ich nur ganz zum Schluss. Dabei trainierte ich Dribbeln im Keller, weil ich im Dribbeln so gut wie Stanley Matthews oder als Verteidiger so gut wie „Sense“ Ackerschott von Werder Bremen sein wollte.

Am Wochenende nahm mich mein Vater mit nach Bremen zum BSV, bei dem er vor dem Krieg mal in einer Amateurmannschaft gespielt hatte. Als die trotz ihres hervorragenden Torhüters Hans Stephan abstiegen, gingen wir zu Werder ins Weserstadion, die mit Dragomir Ilic einen noch besseren Torwart hatten. Aber in der Woche hieß unsere Welt Sedanplatz, auf dem damals noch keine Autos parkten. Echte Spielfeldgrenzen gab es nicht, doch die Regel „Drei Ecken, ein Elfer“ galt immer. Der Baum in der Mitte des Platzes war kein einfacher Baum. Es war eine deutsche Eiche aus Bismarcks Sachsenwald, die die Sedaneiche hieß. Sedan war ein Wort, das großartig klang, das für meinen Opa etwas bedeutete. Obgleich er erst elf Jahre nach der Schlacht geboren wurde, klang der Deutsch-Französische Krieg in seinen Erzählungen immer so, als sei er dabei gewesen. Und sein ewiges Metz, Toul und Verdun habe ich heute immer noch im Kopf. Der Krieg, bei dem er dabei gewesen war, kam erst später. In der ersten Flandernschlacht erhielt der Hauptmann der Reserve aus Vegesack sein Eisernes Kreuz. Eine Sedaneiche gibt es in manchen deutschen Städten heute immer noch. Und man kann sie im Baumarkt kaufen, da bezeichnet Sedaneiche allerdings einen Laminatfußboden.

Im Gegensatz zu der angeblichen Großartigkeit der Schlacht machte der Platz nichts her. Einmal in der Woche Wochenmarkt, einmal im Jahr Vegesacker Markt. Vorne war die Gerhard-Rohlfs-Straße, die damals noch die Bundestraße 75 war. Der Fernverkehr rauschte ungehindert durch den Ort. Ampeln gab es nicht, nur bei Többens war ein Zebrastreifen. Dass Walter Caspar Többens ein (später als „Mitläufer“ eingestufter) Kriegsverbrecher war, wussten wir damals nicht. Gegenüber dem Geburtshaus von Gerhard Rohlfs war eine Bushaltestelle der BVG. Daneben war Scheffels Würstchenbude, deren Bratwurst gut war, aber nie so gut wie die bei Könecke in Bremen. Neben Scheffel war ein kleiner Kiosk, wo man Zeitungen und „Prickel Pit“ kaufen konnte, da holte ich immer für Opa seine Stumpen und die Jerry-Cotton-Hefte, die er im Alter leidenschaftlich gerne las. Weshalb weiß ich nicht. Als Kind versteht man die Erwachsenen sowieso nicht.

Am Ende des Platzes war die Reeperbahn der Seilerei Georg Gleistein. Ein trister grauer Bau, der sich beinahe vierhundert Meter lang bis zum Fährgrund hinunterzog. Dahinter lag Aumund, das war ein anderer Ort. Vegesacker gingen nie nach Aumund, wir Kinder erst recht nicht. Die Straße mit der grauen Mauer der Reepschlägerbahn taucht manchmal noch in meinen Träumen auf, je älter man wird, desto mehr träumt man von der Kindheit. Ich bekam vor Wochen ein Foto vom Sedanplatz zugeschickt, wie er heute aussieht. Ich weiß schon, wie wahr der Romantitel „You Can’t Go Home Again“ von Thomas Wolfe ist, ich hätte das Bild nicht gebraucht.

Text: Jens Peter Becker
Foto: Verlag Neegenbargs Heide