Leseprobe

EIN FAST VERGESSENES LAGER

#48 WARTURMER PLATZ – Die Siedlung am Wartumer Platz war einst ein „Familien-KZ“. Heute erinnert dort nichts mehr an die dunkle Vergangenheit

 

Wie ein dörfliches Idyll mutet sie heute an, die Siedlung am Warturmer Platz. Lauter kleine Reihenhäuser mit schmucken Vorgärten, dazwischen eine Wiese, und alles ist umringt von Bäumen und Sträuchern. Auf einem kleinen Platz spielen die Kinder einer Kindertagesstätte. Gebaut wurde diese Siedlung in der Zeit des Nationalsozialismus. Als „Wohnungsfürsorgeanstalt“.

Initiiert vom damaligen Wohlfahrtssenator Hans Haltermann entstand 1936 eine Unterbringung für die von den Nazis als „asozial“ und „minderwertig“ klassifizierten Familien Bremens. Sie wurde zwangsweise einquartiert und sollten im Sinne des Regimes umerzogen werden. Bis 1940 wurden etwa 160 Erwachsene und rund 400 Kinder eingewiesen. Heute deutet hier kaum mehr etwas auf die Schicksale hin, die Menschen an diesem Ort erlitten haben. Wieder leben Familien in den Häusern. Ob sie die Geschichte der Siedlung noch kennen?

Die Anfänge dieses „Familien-KZ“, wie es die Bewohner nannten, reichen bis ins Jahr 1935 zurück. Damals veröffentlichte der Heidelberger Bürgermeister Otto Wetzel zwei Aufsätze in einem Blatt der NSDAP für Kommunalpolitik. Seine Frage: „Wohin mit den Asozialen?“ Seine Antwort: Sie sollen in ein eigene „Kolonie“. Detailliert schildert Wetzel seine rassistische Einstellung: „Asoziale“ Familien stellten für ihn „menschlichen Ausschuss“ dar und waren aus seiner Sicht eine Gefahr für die Gesellschaft. Also wollte er mithilfe einer restriktiven Einrichtung gegen sie vorgehen. Um der Stadtverwaltung zudem Kosten zu ersparen, sollten die Familien gemeinsam untergebracht werden. Der Bremer „Senator für das Bauwesen“, Hans Haltermann, ein überzeugter Nationalsozialist, orientierte sich an den Plänen Wetzels und begann mit den Planungen einer solchen Institution im Osten Woltmershausens, umgeben von Industrie und einem Schuttplatz.

„Asozial ist ein Begriff, der so verwendet und ausgelegt wurde, wie man es brauchte, um Menschen zu stigmatisieren – bis hin zur tödlichen Vernichtung“, sagt Elke Steinhöfel, die eine Dissertation und ein Buch über die Wohnungsfürsorgeanstalt und damit verbundene „Asozialenpolitik“ der Nationalsozialisten geschrieben hat. Zudem verhinderten die Nazis durch Sterilisation, dass als „asozial“ eingestufte Menschen Nachwuchs bekamen. Wie viele BremerInnen bei den Sterilisierungen ums Leben kamen, ist nicht dokumentiert.

Am damaligen Heimweg entstanden zunächst 30 größere Gebäude, die zusammen mit den 54 kleineren Häusern ein „L“ bildeten. Dieser Aufbau sollte eine permanente Überwachung der Bewohner gewährleisten: Die Häuser waren so angeordnet, dass die Bewacher aus einem Glasvorbau alle Hauseingänge und sämtliche Bewegungen auf dem Gelände kontrollieren konnten. Um die Siedlung herum verlief ein hoher Zaun, zwei Mauern umschlossen sie, Lampen leuchteten das Gelände aus, ein eisernes Haupttor wurde nach 22 Uhr geschlossen.

Zugleich war die „Wohnungsfürsorgeanstalt“ keine Barackensiedlung, der Bremer Senat investierte immerhin rund 600.000 Reichsmark, um „sozialschädliche Elemente“ unter ständiger Aufsicht hier einzuweisen. Innerhalb eines Jahres sollte eine Familie die Einrichtung aber durchlaufen und „Besserungsstufen“ absolviert haben. Dazu unterteilten die Verantwortlichen die internierten Menschen in „Erziehbare“ und „Nicht Erziehbare“. Erstere sollten sich aus eigener Kraft hocharbeiten und einen Willen zum sozialen Aufstieg beweisen. Wenn sie sich zudem positiv auf den Nationalsozialismus bezogen, winkte als Privileg der schnellstmögliche Auszug und eine eigene Wohnung. Die „Nicht Erziehbaren“ hingegen, die als „grundsätzlich arbeitsscheu“, „gesellschaftsfeindlich“ oder „moralisch minderwertig“ eingeordnet wurden, sah das Regime für die „Volksgemeinschaft“ als „verloren“ an. Diese Familien wurden aufgelöst: Die Kinder wurden in Fürsorgeeinrichtungen eingewiesen, die Eltern asyliert. Laut Haltermanns perfider Argumentation hätten die Protagonisten so selbst die Chance, über ihren weiteren Lebensweg zu bestimmen.

Der Aufenthalt in Hashude war von permanenter Überwachung und Unterdrückung bestimmt. Die Männer, die weiterhin arbeiten gehen sollten, galten als Hauptverantwortliche für die „Asozialität“. Sie mussten täglich eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn im Hof antreten, um von dort in Marschformation zu ihren Arbeitsplätzen geführt zu werden. Kamen sie abends zu spät nach Hause, wurden sie verprügelt oder in einem Keller eingesperrt. Der Lagerleiter konnte eigenmächtig Strafen verhängen und die Bewohner schikanieren. Jeder nachbarschaftliche Kontakt zwischen den Familien war untersagt, die Grünflächen vor den Häusern durften nicht betreten werden, Frauen durften nicht zu einer Unterhaltung stehen bleiben, die Kinder wurden morgens in Kolonnen zur Grundschule gebracht. Nicht einmal Haustiere waren den Familien erlaubt. Um sie unter Kontrolle zu halten, war der Lagerleiter auch befugt, die Post zu öffnen, Insassen in Jobs seines Ermessens einzusetzen und über die Lohnhöhe zu entscheiden. Im Falle von „Arbeitsverweigerung“ oder „Arbeitsvernachlässigung“ gab es die Möglichkeit, die Insassen in das Zwangsarbeitslager im Teufelsmoor zu deportieren. Wer illegal „Feindradio“ hörte oder Alkohol konsumierte, dessen Familie drohte körperliche Gewalt.

Sobald alle „asozialen“ Bremer Familien die Hashude durchlaufen haben würden, wollte der Bremer Senat in den Häusern, „normale“ Volksdeutsche unterbringen, um der zunehmenden Wohnungsnot Herr zu werden. Allerdings wurde die Wohnungsfürsorgeanstalt 1940 auf Anordnung des Reichsfinanzministeriums wieder geschlossen, weil der gewünschte „erbbiologischen Erfolg“ ausgeblieben war, so die Begründung. Nach dem Krieg zog etwa die Hälfte der Familien fort. Die Täter mussten sich zwar den Entnazifizierungsverfahren stellen. 1953 wurden aber alle als „Mitläufer“ eingestuft – oder ganz begnadigt.

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Text: Frauke Kuffel & Manuel Kretschmar
Foto: Staatsarchiv Bremen