Leseprobe

„Der Wurm muss dem Fisch und dem Angler schmecken“

#75 BROMMYPLATZ – Bertold Reetz (oben links) und Michael Vogel haben 2010 zusammen die Zeitschrift der Straße gegründet – jetzt geben sie die Leitung des Projektes ab. Ein Gespräch über Konzepte und Lernerfolge, Krisen und die Zukunft    

.

Warum habt ihr überhaupt eine Straßenzeitung gegründet?

Michael Vogel: Das Ganze hat als Lernprojekt für Studierende begonnen – und nicht in erster Linie als Straßenmagazin. Dass es dann doch so gekommen ist, lag daran, dass es in Bremen bis 2011 noch kein eigenes Straßenmagazin gab.  

Bertold Reetz: Wir hatten bei der Inneren Mission ja schon mal eine Straßenzeitung entworfen, der Vorstand hat dann aber entschieden, dass das finanzielle Risiko zu groß ist. Damit war das für mich erst einmal gegessen – bis Michaels Studierende aus Bremerhaven vorbeikamen.

Michael Vogel: Das wesentliche Argument war, dass das Projekt erst einmal kein eigenes Personal benötigen würde. Die Studierenden sollten das einbringen, was sie in ihrem Studium lernen und dabei etwas machen, was sie sonst nur für ihre ProfessorInnen getan hätten. Damit war zugleich ein viel geringer wirtschaftlicher Aufwand für die Inneren Mission verbunden. In den ersten Jahren haben wir es zudem immer wieder geschafft, eine Finanzierung von außen zu bekommen, wenn ein Defizit da war. So haben wir quasi spielerisch begonnen.

Was wolltet ihr denn mit der Zeitschrift der Straße erreichen?

Bertold Reetz: Für mich stand das Lernprojekt nicht so sehr im Vordergrund – ich wollte den Wohnungslosen eine Perspektive geben. Sie sollten etwas verkaufen können und dabei auf Augenhöhe sein, statt nur am Boden zu sitzen und zu betteln. Und alle VerkäuferInnen sollten selbst regeln können, wann sie wie viel verkaufen. Das war der Reiz: Ein Straßenmagazin als niedrigschwellige Möglichkeit, wieder in eine Tagesstruktur zu kommen.   

Wie war die Reaktion in der Szene?

Bertold Reetz: Ganz schlecht! Wir haben zunächst kaum VerkäuferInnen gefunden – da war die Zeitschrift der Straße auch für mich ein Lernprojekt. Die ersten VerkäuferInnen waren drogenkranke Menschen, die Geld beschaffen mussten, um ihre Sucht zu finanzieren. Viele haben sich aber geschämt, das Magazin zu verkaufen. Da musste ich mir häufig anhören: „Dann weiß ja jeder, dass ich wohnungslos bin.“ Die Zeitschrift der Straße war einfach noch nicht etabliert – heute ist das anders, viele können sich jetzt eher mit dem Projekt identifizieren.           

Michael Vogel: Das rein typografische und sehr markante Design des Heftes war auch zunächst so, dass man gar nicht erkennen konnte, dass das eine Zeitschrift war. Aus der Entfernung wurde sie oft für ein Theaterprogramm gehalten.

War das Projekt also zunächst am Markt vorbei geplant?

Michael Vogel: Wir gingen von anderen Nutzen-Vorstellungen aus. Wenn der Verkauf bei einem mal besonders gut lief, dann ist er nicht etwa länger am Standort geblieben, um noch mehr zu verkaufen – sondern er hat umso früher damit aufgehört! Das war für mich als Ökonomen ein interessanter Lerneffekt, denn es widerspricht vielen Marketing-Lehrbüchern. Wir dachten: Wenn man mit einem Produkt der Monopolist ist in der Stadt: Wie kann man es dann nicht verkaufen wollen? Und wenn es gut läuft: Warum sollte man dann nicht weiter machen, um noch mehr zu verdienen? Das Argument der VerkäuferInnen war: Ich habe für heute genug verdient. Das ist verständlich, aber damit hatten wir nicht gerechnet.

Bertold Reetz: Wir haben am Anfang auch Promi-Verkäufe gemacht, unter anderem mit Bürgermeister Jens Böhrnsen von der SPD und Bürgermeisterin Karoline Linnert von den Grünen. Irgendwann gab es dann aber einen Stamm von VerkäuferInnen, die erkannt haben, dass sie so zusätzlich Geld verdienen und sich das eine oder andere extra leisten können.           

Ex-Bürgermeister Jens Böhrnsen und Verkäuferin Kati mit der Ausgabe #1 SIELWALL im Februar 2011

Ex-Bürgermeister Jens Böhrnsen und Verkäuferin Kati mit der Ausgabe #1 SIELWALL im Februar 2011 (Foto: M. Vogel)

Michael Vogel: Wie viele Start-Ups mussten auch wir erst einmal vieles ausprobieren, um zu verstehen, was funktioniert. Das war nicht vorhersehbar. So haben wir bis 2015 auch richtig Geld verbrannt – über 80.000 Euro. Das waren Verluste, die wir durch gewonnene Wettbewerbe und Förderpreise kompensieren mussten. Erst nach vier Jahren hat die Zeitschrift der Straße ihre eigenen Kosten gedeckt – das ging einher mit einem neuen Design und einer Verschlankung von Prozessen. Heute ist die Zeitschrift der Straße ein Lern- und Sozialprojekt mit einem Geschäftsmodell, das sich selbst trägt. Das macht sie besonders. Zugleich spielt Werbung nur eine sehr untergeordnete Rolle im Heft, und es gibt auch keinerlei Advertorials – sondern eine ganz klare redaktionelle Unabhängigkeit.    

Die Zeitschrift der Straße funktioniert anders als andere Straßenzeitungen, die ohne Studierende arbeiten, sich inhaltlich vor allem sozialen Probleme widmen und dabei eine politische Lobby für die Menschen auf der Straße sein wollen. Warum?              

Michael Vogel: Wir sind zu spät gekommen. Die anderen Straßenzeitungen gab es da ja alle schon seit 15 Jahren! Sie entstanden in einer Zeit, in der das gesellschaftliche Miteinander noch verbreiteter war. Lobby der Wohnungslosen zu sein war verkaufsfördernd.

Bertold Reetz: Als wir anfingen, gingen die Absatzzahlen etwa bei „Asphalt“ aus Hannover schon runter. Das war bei anderen Straßenzeitungen auch so. Es gibt durch den Verkauf auf der Straße eine Verbindung zu all den sozialen Themen, ohne dass man sie permanent thematisieren muss. Wir wollten ein modernes Magazin in einem besonderen Format aufbauen, das zeitlos, aber auch kulturell wertvoll ist und die einzelne Straße beschreibt, in der die jeweilige Ausgabe eben spielt. Wir haben damit eine Lücke in der Bremer Medienlandschaft gefüllt – und man das Magazin auch sammeln! Indirekt sind wir natürlich aber trotzdem auch Fürsprecher für jene, die sonst keine Stimme haben. 

Michael Vogel: Wenn die Leserschaft in jeder Ausgabe überwiegend unangenehme Themen findet, ist das auf die Dauer zu viel. Wir sind da leichtgängiger, aber auch authentischer, weil wir die Probleme dann thematisieren, wenn sie zu dem jeweiligen Ort passen.

Wann ist eine Straßenzeitung erfolgreich?

Bertold Reetz: Wenn sie sich finanziert und dabei unabhängig ist, wenn sie eine gewisse Auflage erreicht und die Menschen, die sie verkaufen, sich damit identifizieren können.       

Michael Vogel: Eine Straßenzeitung muss von den VerkäuferInnen angenommen werden, aber auch von den LeserInnen. Und deren Präferenzen können jeweils ganz unterschiedlich sein. In unserem Fall muss also der Wurm nicht nur dem Fisch, sondern auch dem Angler schmecken. Das ist ein Spagat, der uns am Anfang viel Kopfzerbrechen bereitet hat. Die Gestaltung etwa war anfangs vor allem für den Angler gedacht. Jetzt haben wir da eine Balance gefunden und können trotzdem noch Sehgewohnheiten herausfordern.

Inzwischen hat die Zeitschrift der Straße mehrere Preise gewonnen.

Michael Vogel: Preise haben wir sogar schon gewonnen, als die Zeitschrift noch tief in den roten Zahlen steckte! Manche waren Designpreise, andere hatten mit der Geschichte des Magazins zu tun und mit der Kooperation von Studierenden und Wohnungslosen.

Habt ihr je überlegt, aufzuhören?

Bertold Reetz: Ja! Gleich zwei Mal.

Michael Vogel: Nach der sechsten Ausgabe hatten wir kein Geld mehr. Wir saßen dann zusammen und haben überlegt: Wie kommen wir jetzt mit Anstand aus diesem Projekt raus? Dann bekamen wir eine Auszeichnung mit Preisgeld und es ging weiter. Das war aber echt auf Kante genäht! 2014 zog sich dann die Hochschule für Künste aus dem Projekt zurück, zugleich hatten wir beschlossen, zehn statt nur sechs Ausgaben im Jahr zu machen, damit die VerkäuferInnen öfter ein neues Produkt anzubieten haben. Dazu kam, dass unser damaliger Chefredakteur nach Karlsruhe zog. Wir standen also auf einmal ohne Design, ohne Layouter, ohne Fotografen und ohne Redaktionsleitung da – und hatten nur noch den Vertrieb. Das war ein Moment, indem wir mehrere Nächte lang gebrütet haben, ob es überhaupt Sinn hat, weiter zu machen.  

Bertold Reetz: Der Hochschule für Künste ging es auch gar nicht darum, dass Bedürftige die Zeitschrift verkaufen, das war nur ein Nebeneffekt ihres Designs. Als ich gemerkt habe, dass das nicht zusammen passt, dachte ich: Das Projekt ist gestorben.     

Das macht die Zeitschrift der Straße ja aus: Sehr viele ganz verschiedene Akteure finden einen gemeinsamen Weg. Wie schafft man das?

Bertold Reetz: Man muss kompromissbereit sein und kooperativ, man muss sich trauen, auch verrückte Ideen einzubringen, zu gucken, ob sie ankommen und auch damit leben können, wenn sie sich am Ende nicht durchsetzen, obwohl man selbst sehr überzeugt davon war. Man braucht eine hohe soziale Kompetenz, damit das ein zuverlässiges Projekt ist – denn am Ende leben Menschen davon, die VerkäuferInnen verlassen sich darauf, dass immer wieder eine neue Ausgabe erscheint. Bei dem Gedanken: ‚Was machen all diese Leute ohne uns?‘ hatte ich manchmal schlaflose Nächte.

Michael Vogel: Ein anderer Erfolgsfaktor, den ich nicht hätte vorhersagen können: Wir hatten nie einen Vertrag miteinander! So etwas gibt es ansonsten sehr selten. Die Zeitschrift war immer schon ein loses, nicht institutionalisiertes Netzwerk, das auf Freiwilligkeit basiert und auf dem gemeinsamen Willen zum Erfolg.

Bertold Reetz: Die Innere Mission hat zwar einen geschützten Rahmen geboten und das Know-how und die Räume zur Verfügung gestellt, die Kontakte zu den StreetworkerInnen und VerkäuferInnen – aber inhaltlich nie Einfluss genommen. Mittlerweile ist es uns gelungen, eine Mitarbeiterin über die Zeitschrift der Straße zu finanzieren, zusätzlich zur Redaktionsleitung – das war immer unser Traum!

Je loser die Organisation ist, desto mehr hängt das Projekt aber von einzelnen Individuen ab, oder?

Michael Vogel: Ja! 

Bertold Reetz: Wir beobachten das!

Welche Aufgaben stehen jetzt für das Projekt an?

Michael Vogel: Eine der Herausforderungen wird sein, einen größeren Verkäuferstamm aufzubauen, gerade in den Stadtteilen, in denen die Zeitschrift der Straße bisher gar nicht vertreten ist. Da gibt es noch viel Potenzial in Bremen – zugleich möchten wir gerade dazu beitragen, dass weniger Menschen eine Straßenzeitung verkaufen müssen. Da schlagen zwei Herzen in unserer Brust.    

Bertold Reetz: Ich habe ja davon geträumt, dass es bei uns nicht allein um Wohnungs- und Obdachlose geht, sondern auch um andere Menschen, die nicht viel Geld haben, RentnerInnen etwa. Aber eine Straßenzeitung zu verkaufen ist noch immer sehr mit Scham besetzt.

Michael Vogel (links) und Studierende im Jahr 2013 mit Ausgaben der Zeitschrift der Straße. Das damalige Design wurde 2015 abgelöst. (Foto: privat)

Michael Vogel: Über 1.200 Menschen haben die Zeitschrift der Straße verkauft, weit über 600 Studierende aus mindestens neun Studiengängen und fünf Hochschulen haben daran mitgearbeitet. Zudem ist die Uni der Straße als Bildungsprogramm aus der Zeitschrift hervor gegangen, dazu die soziale Stadtführung „Perspektivwechsel“. Das hätten wir uns am Anfang nie vorstellen können!    

Wo seht ihr das Projekt in fünf Jahren?

Michael Vogel: Die Uni der Straße wird es dann immer noch geben, die Stadtführungen auch. Es werden sich weitere solcher Projekte aus der Zeitschrift entwickeln, sie selbst wird aber aus sich heraus nicht so stark wachsen. So ist eher eine Triebfeder für neue sozial-unternehmerische Initiativen.   

Bertold Reetz: Ich lege mich darauf fest, dass wir in fünf Jahren mehr als 10.000 Hefte pro Ausgabe drucken und absetzen.

Braucht es angesichts der Digitalisierung noch eine gedruckte Straßenzeitung?    

Bertold Reetz: Natürlich – das ist die einzige Möglichkeit für die VerkäuferInnen. Und das Heft in der Hand zu haben ist auch einfach ein gutes Gefühl! Ich glaube, dass die Digitalisierung auch an ihre Grenzen kommt – und wir dann mehr Hefte verkaufen.   

Michael Vogel: Das sind wir etwas unterschiedlicher Auffassung. Ich glaube, dass alle gedruckte Zeitungen und Magazine schweren Zeiten entgegen gehen. Es gibt ja in anderen Ländern schon Experimente mit digitalisierten Straßenzeitungen – bisher aber mit mäßigen Erfolg. Da ist noch keine echte, gute Innovation erkennbar. Wir sollten aber nicht die letzten sein, die noch auf Papier verkaufen, wenn die ganze Welt digital funktioniert.

Bertold Reetz, 65, arbeitete seit 1993 in der Wohnungslosenhilfe der Inneren Mission in Bremen. Von 1996 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand war er ihr Bereichsleiter. Seine Aufgabe übernimmt Katharina Kähler, die wir in der kommenden Ausgabe vorstellen.  

Michael Vogel, 52, ist Professor für Entrepreneurship Education an der Hochschule Bremerhaven, wo er seit 2003 lehrt. Sein zehn Jahre währendes ehrenamtliches Engagement als Anzeigenleiter, Fundraiser und Online-Redakteur der Zeitschrift der Straße setzt er weiter fort.

Interview: Tanja Krämer und Jan Zier
Beitragsbild: Jan Zier