Leseprobe

„WER SIND WIR, ZU URTEILEN?“

#76 GRÖPELINGER HEERSTRASSE – Katharina Kähler ist die neue Leiterin der Wohnungslosenhilfe des Vereins für Innere Mission in Bremen. Ein Gespräch über die Probleme von Menschen ohne Obdach, neue politische Konzepte und erfüllende Erlebnisse

Frau Kähler, Sie sind seit Dezember bei der Inneren Mission mit der Wohnungslosenhilfe betraut. Was wollen Sie erreichen?

Es ist unheimlich viel Gutes gewachsen in diesem Bereich, ein beeindruckendes Netzwerk in Bremen, in der Trägerlandschaft, im Kontakt mit denjenigen, die wir erreichen wollen. Davon möchte ich vieles erhalten. Gleichzeitig müssen wir uns mit neuen Herausforderungen beschäftigen, dem Bundesteilhabegesetz etwa oder dem Thema „Housing First“.

Der rot-grün-rote Senat hat sich „Housing First“ in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wie stehen Sie dazu?

Erst einmal muss man das Schlagwort „Housing First“ inhaltlich füllen. Der Ansatz ist, unbürokratisch Wohnraum für Menschen zur Verfügung zu stellen. Wohnen ist ein Menschenrecht, deshalb finde ich den Ansatz grundsätzlich gut. Die Frage ist, wie wir das umsetzen wollen, auch auf sozialpolitischer Ebene. In Bremen ist die soziale Wohnbau-Politik ja sehr im Rückstand. Es ist kein ausreichender Wohnraum vorhanden. Was wir uns auch klarmachen müssen: Der Schritt in den Wohnraum wird durch „Housing First“ zwar hoffentlich erleichtert, aber es wird weiter die Situation geben, dass Menschen unterschiedliche Arten von Unterstützung brauchen, um diesen Wohnraum auch halten zu können. Und dazu braucht es ein System, das solche  Unterstützungsangebote vorhält.

Sehen Sie die Gefahr, dass die Landesregierung die Gelder dafür kürzt, wenn sie „Housing First“ etabliert?

Genau davor möchte ich sehr warnen. Wir müssen etwas Gutes konstruieren, das sowohl den Wohnraumbedarf abdeckt, aber eben auch das Hilfesystem, das es braucht, um diejenigen dabei zu begleiten, die dann hoffentlich schneller an Wohnraum kommen. Es wird auch immer eine Gruppe von Menschen geben, die sagt: „Ich fühle mich dort eingeengt“ oder „Das sind mir zu viele Zwänge“. Eine Geschosswohnung, eine Mietergemeinschaft mit vielen unterschiedlichen Menschen in räumlich möglicherweise etwas beengteren Verhältnissen: Das ist nicht für jeden die geeignete Lebensform. Auch hier muss man schauen: Was wollen diese Menschen? Was brauchen sie?

Früher gab es für solche Menschen zum Beispiel Schlichtwohnungen, die primitive Standards hatten, bisweilen als „menschenunwürdig“ kritisiert wurden – aber Häuschen boten, die auch mit kleiner Rente bewohnt werden konnten.

Natürlich sollte das auch nicht der Standard des Wohnens sein, an dem wir uns orientieren. Aber ich finde, es muss durchaus auch Insellösungen geben für Menschen, die etwas andere Vorstellungen haben. Deren Bedürfnisse und Bedarfe müssen wir eben auch mitberücksichtigen.

Statt von Schlichtwohnungen spricht man heute gern von „Tiny Houses“.

Das ist eine Modeerscheinung, die medial sehr gehypet wird, ein schwieriges Thema. Denn es geht hier um kleine, schnell aufbaubare Wohnhäuschen, die in der Regel nicht einmal Sanitäranlagen haben. Das ist für mich kein wirklich menschenwürdiges Wohnen. Ich würde daher eher „Housing First“ verfolgen und „Tiny Houses“ als kleine, kreative Ergänzung an der einen oder anderen Stelle sehen.

Das Gegenargument ist: Alles ist besser, als auf der Straße zu wohnen.

Solange jemand auf der Straße wohnen möchte, finde ich, ist – in einem gewissen Umfang – auch diese Entscheidung zu respektieren und zu akzeptieren. Wer sind wir, darüber zu urteilen? Aber es ist natürlich wichtig, die Menschenwürde zu erhalten, etwa indem man die Zugänge in die Versorgung offen hält.

Tut Bremen genügend gegen Wohnungslosigkeit?

Wohnungslosigkeit ist eine komplexe Problemlage, die sich aus sozialen und baulichen Problemen, aus Verdichtungsproblemen und auch aus gesellschaftlichem Wandel speist. Das kann man nicht mit einem Ansatz lösen. Es braucht ein Puzzle mit ganz vielen Teilen, die auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Wir haben in Bremen auf jeden Fall ein großes Augenmerk auf diese Thematik und ein sehr ausdifferenziertes Hilfsangebot. Ich glaube aber trotzdem, dass man nie genug tun kann und dass wir alle gefordert sind, die Politik zum Handeln aufzufordern. Da verschieben sich die Schwerpunkte über die Jahre. Aktuell ist das Thema sozialer Wohnungsbau und der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum zentral.

Wer soll diesen Wohnraum schaffen?

Ich denke, dass wir gut damit fahren, unsere soziale Verantwortung in der Stadt auch über sozialen Wohnungsbau abzubilden und mit einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft wie der Gewoba die Hand drauf zu halten. Ich habe wenig Hoffnung in die Investoren.

Gehört zu einer besseren Versorgung der Wohnungslosen nicht auch eine andere Drogenpolitik?

Wir haben gerade im Bereich der illegalen Suchtmittel eine so große Diskrepanz zwischen der Realität, den gesetzlichen Regelungen und dem Umgang mit dem Spannungsfeld dazwischen, dass wir bislang kaum zu konstruktiven Lösungen kommen konnten. Bremen beschäftigt sich aber inzwischen mit dem Thema „Druckraum“, also einem geschützten Raum, in dem auch illegale Drogen konsumiert werden können. Ich finde, das ist ein erster Schritt. Aber ich glaube, dass es insgesamt noch mehr Verzahnung zwischen den Systemen braucht.

Viele Wohnungslose beklagen sich über eine Politik der Vertreibung, insbesondere rund um den Hauptbahnhof und den alten Güterbahnhof.

Ja, es gab wohl zahlreiche Platzverweise und Beschwerden über Ordnungswidrigkeiten. Dieses Verdrängung ist in meinen Augen ein schwieriges Thema, denn das ist öffentlicher Raum. Ich verstehe auf der einen Seite, dass es an manchen Stellen Berührungsängste gibt. Ich finde aber, dass wir die Aufgabe haben, diesen öffentlichen Raum für alle Menschen zur Verfügung zu stellen. Daher hat der Verein für Innere Mission lange für den heutigen Szenetreff an der Ostseite des Hauptbahnhofs gekämpft.

Der aber war zunächst umstritten: Er ist etwas ab vom Schuss und wirkt durch seine Abgrenzung mit einem Zaun eher wie ein Käfig.

Tatsächlich sähe ich den Szenetreff lieber mittendrin im Bahnhofsumfeld, und den Zaun finde ich auch nicht schön. Wir hätten den Ort ohne Zaun aber aus Sicherheitsgründen nicht schaffen dürfen. Leider müssen wir ihn außerhalb der Öffnungszeiten auch abschließen. Es gab massive Vandalismus-Schäden, als wir es offener angehen wollten, auch bei der Toilette. Dennoch wird der Treff inzwischen gut angenommen. Insgesamt hatte ich aber bei der Diskussion um diesen Szenetreff doch das Gefühl, dass uns als Verein für Innere Mission – die wir ja als Interessensvertreter der Wohnungslosen und Menschen in prekären Lebenslagen auftreten – zugehört wurde. Es gibt eine große Bereitschaft zum Dialog, das nehme ich auch bei den Kontaktpolizisten wahr. Es geht den Behörden eben auch darum, den Haltestellenbereich freier zu halten von Menschen, die sich dort tagsüber aufhalten, aber nicht den Bus- und Bahnverkehr nutzen. Es ist aber auch wichtig, genau diese Gruppe von Menschen mit einzubeziehen, weil das  Bahnhofsumfeld öffentlicher Raum für alle ist.

Ein großer Teil der Obdach- und Wohnungslosen kommt ja aus Osteuropa. Gibt es für sie genügend Angebote?

Das ist eine Gruppe, die es ohnehin sehr schwer hat, sich hier durchzukämpfen. Sie arbeiten oft in sehr prekären Arbeitsverhältnissen, die deutlich unter dem Toleranzbereich der Legalität liegen, man spricht auch vom „Arbeiterstrich“. Rechtlich gesehen haben sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen, solange sie keine sozialversicherungspflichtige Anstellung haben. Damit habe sie auch keinen Anspruch auf die Angebote der Wohnungslosenhilfe. Im Moment erhalten sie jedoch im Rahmen der Kälteregelung für den Winter einen Schlafplatz. Es gibt spezielle Beratungsangebote für diese Menschen in Bremen, aber dennoch leben sie oft in sehr prekären Verhältnissen.

Und wenden sich nur sehr zögerlich an Beratungsstellen?

Grundsätzlich dürfen sie ja im Rahmen der Freizügigkeit der EU bei uns arbeiten. Aber die Arbeit, die sie aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse oft nur finden, ist nicht selten illegal. Und da entsteht dann natürlich Angst, sich zu offenbaren. Deshalb ist es wichtig, nicht-staatliche Hilfsangebote zu haben: Beratung ist dort auch anonym möglich.

Viele Wohnungslose haben es sehr schwer, wieder in ein geregeltes Leben zurückzufinden. Ist das frustrierend für Sie, dass es so wenige Erfolgsgeschichten gibt?

Nein. Es gibt zwar große Hürden auf dem Weg zurück in geregelte Wohn- und Lebensverhältnisse. Aber wir sehen oft, dass ganz viele kleine Schritte für die Menschen auch schon ein Erfolg sind, die ihre Lebenssituation akut verbessern. Ich nehme so viel Positives wahr, ich erlebe so viele engagierte Menschen, dass ich überhaupt nicht sagen kann, dass es frustrierend ist. Ich habe sehr viel Respekt vor Menschen, die in so eine schwierige Lebenssituation geraten sind und sich da raus kämpfen wollen. Ich habe genauso viel Respekt vor all denjenigen, die mitarbeiten, dass das gelingt. Ich empfinde das als sehr erfüllend!

Katharina Kähler, 40, leitet seit Dezember 2019 den Bereich der „Wohnungslosenhilfe“ bei der Inneren Mission. Zudem verantwortet sie seit mehreren Jahren die Kinder- und Jugendhilfe dort. Angefangen hat sie vor knapp 20 Jahren als Studentin in der Notunterkunft für Frauen. Später arbeitete sie in der Zentralen Fachstelle Wohnen sowie als Beraterin von Opfern von Menschenhandel und Zwangsprostitution.

Text und Foto: Jan Zier