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MISSION: BAGEL

#97 JÜDISCHE GEMEINDE – Zu den Aufgaben von Rabbinern wie Natanael Teitelbaum gehört, die Einhaltung der Regeln in der koscheren Küche zu kontrollieren. Wir begleiten ihn zu Bäckermeister Holger Groth – mitten in der Nacht

Drei Uhr, das ist eine unwirkliche Zeit. Zwischen gestern und morgen, wache ich wie gerädert nach wenigen Stunden Schlaf auf. Zwei Wecker klingeln im Fünf-Minuten-Takt, die Snooze-Taste hat keine Chance. Auf keinen Fall will ich mein Date mit dem Rabbi verpassen: Um Viertel vor vier sind wir verabredet an diesem unwirtlichen Freitag- morgen im April.

Überpünktlich stehe ich schließlich in der Kälte vor der Bäckerei am Sielwall, es schneit sachte, in der Ferne grölen Besoffene am Eck, von denen man hofft, sie blieben, wo sie sind. Dann, nach endlosen Minuten in der Kälte, blitzen zwei Scheinwerfer auf, ein Mercedes-Bus nimmt Kurs auf die Bäckerei. „Sie haben ja Arbeitszeiten“, sage ich matt, als Rabbiner Natanel Teitelbaum aus dem Auto steigt. Er lacht freundlich und zuckt mit den Schultern. Was muss, das muss.

Die Hintertür steht offen an diesem dunklen Freitagmorgen, wir treten ein in eine arbeitsame, aber warme Welt: Holger Groth, der Bäckermeister, glasiert gerade Backwaren mit einem Pinsel auf einem großen Blech.

Die Begrüßung ist freundlich, fast nebensächlich, wie selbstverständlich. Überraschung jedenfalls ist Groth nicht anzumerken. „Ich hab’ nix zu verbergen“, sagt er. Er macht seinen Job. Die Bagels sind schon fertig und kühlen gerade ab. Die Challot sind geflochten und mit Mohn bestreut: Die Hefezöpfe warten auf den Ofen, sie werden für Schabbat gebraucht. Der Rabbi nimmt einen Rundum-Blick. Begutachtet die Challot. Schaut auf den Ofen. Scheint zufrieden. Sie kennen sich schon lange, der Rabbiner und der Bäcker. „Wir sind nicht nur Partner, sondern auch Freunde geworden“, sagt der Rabbi. „Oder?“ – „Na logo!“, ruft Holger Groth, der unterdessen schon das nächste Blech für den Ofen vorbereitet hat. Es ist ein ungleiches Freundespaar: Hier der ehrwürdige Rabbiner mit seiner Kippa, dort der tätowierte Norddeutsche mit seinem Schnack, nicht minder standesbewusst: „Bäckermeister der Zunft!“, sagt er, „nicht, dass Sie aus mir noch einen Friseur machen!“

Backt koscher für die jüdische Gemeinde: Bäckermeister Holger Groth.

Ursprünglich hatte Groth zwei Filialen, eine ganz in der Nähe der jüdischen Gemeinde in der Schwachhauser Heerstraße. Seit ein Bäcker ge- kündigt hat, lohnte das nicht mehr: „Wir sind jetzt nur noch zwei Bäcker, damit kannst du keine zwei Filialen betreiben“, sagt er. Also konzentriert er sich jetzt ganz auf seine Bäckerei im Viertel. Auch wenn die Wege nun weiter sind, sind die jüdische Gemeinde und ihre Mitglieder weiterhin treue Kunden.

„Koscher, das hat nicht nur mit den Zutaten zu tun. Das hat auch mit Vertrauen zu tun“, sagt Rabbiner Natanel Teitelbaum. Groth’s Backstube verkauft koschere Waren, er ist hier, um alles zu kontrollieren. Seit wann sie zusammenarbeiten? „Ich hab’ mir das nicht aufgeschrieben“, sagt Holger Groth, der Pragmatiker, während er das nächste Blech in den Ofen schiebt.

Die jüdische Gemeinde ist auf ihn zugekom- men, vor einigen Jahren. Groth begann zunächst mit Brot und Brötchen, dann habe sich das Sorti- ment sukzessive erweitert. Gemeindemitglieder bestellen dort Backwaren für Schabbat, aber auch für Geburtstage oder andere Feierlichkeiten. Die Gemeinde selbst bestellt belegte Brötchen oder Kuchen für Veranstaltungen.

Wer es ernst meint mit den jüdischen Speisevorschriften, hat es hier in der Diaspora nicht so leicht. Vieles kann man online bestellen, sicher. Aber frische Backwaren etwa sind schwer zu bekommen, auch wenn es inzwischen weitere Interessenten für die Koscher-Zertifizierung in Bremen gibt.

Und koscher zu essen, das ist für viele der ortho- doxen Mitglieder essenziell. Koscher, das bedeutet in diesem Zusammenhang vor allem: Parve, ohne Milch. Denn Milch und Fleisch vertragen sich nicht in der koscheren Küche. Wird ein Fleischge- richt serviert und soll danach ein süßer Nachtisch gereicht werden, muss er ohne Milch sein. Zum Beispiel ein Berliner: Der Teig muss ohne Milch sein, und auch das Fett in der Fritteuse muss im Zweifel getauscht werden: pflanzliches Fett statt tierischem.

Für Groth bedeutet das alles in der Praxis: Ein Extrafach im Ofen, Extrableche, keine Milch in Teig und Glasur und bestimmte Farbstoffe und Emulgatoren auch nicht. Und: Eine Zeitschaltuhr. Denn eigentlich muss – streng genommen – ein Jude den Ofen an- und ausschalten. Weil der Rabbiner verständlicherweise nicht ständig in der Backstube sein kann, ist dieses Hilfsmittel unerlässlich.

Auch bestimmte Farbstoffe sind tabu: Karmin etwa, das aus Läuseblut gewonnen wird. Denn Läuse sind nicht koscher. „Und selbst, wenn sie koscher wären, würde ich sie nicht essen“, sagt der Rabbiner: „Ich meine: Läuse!“ Er schüttelt sich und lacht.

Sie sind ein eingespieltes Team, der Rabbi und der Bäcker. Zu Pessach, während dem die Juden kein gesäuertes Brot essen, sagt Groth scherzhaft: „Da hab’ ich eine Woche Ruhe vor Euch!“ In Wahrheit ist die Situation eine gute für beide Seiten: Die Gemeindemitglieder haben eine zertifizierte Anlaufstelle mit koscheren Backwaren, in der sie bedenkenlos einkaufen und bestellen können, der Bäcker garantierte Abnahmen für seine Produkte. Beide Seiten: zufrieden miteinander.

Koscher hat nicht nur mit den Zutaten zu tun, sagt der Rabbiner – sondern auch mit Vertrauen.

Auch Sonderbestellungen sind kein Problem für Bäcker Groth. Vor einiger Zeit etwa brauchte Rabbiner Teitelbaum Challot ohne Mohn: „Ich wollte jemanden im Gefängnis besuchen“, erzählt er, und dem Inhaftierten – kein Bremer Gemeindemitglied, wie er betont – zum Schabbat Challot mitbringen. Allerdings ist Mohn im Gefängnis nicht erlaubt, wie er auf Nachfrage erstaunt erfuhr. So buk Bäcker Groth einen Hefezopf ohne Mohn fürs Gefängnis – und der Häftling hatte dank Groth und Teitelbaum einen Hauch von Schabbat in seiner mutmaßlichen Tristesse.

Aber woher weiß man eigentlich als Rabbiner, auf was man alles achten muss? Immerhin ist ein Rabbiner ein Religionsgelehrter und kein Ernährungswissenschaftler, und trotz fundierter Ausbildung bleiben vielleicht praktische Fragen offen. Teitelbaum hat seine Mentoren zu solchen Besuchen begleitet: „Ein verantwortlicher Rabbiner wird nie allein entscheiden“, sagt er. Manche Menschen dächten, ein Rabbiner, der um Rat frage, sei schwach: „Das Gegenteil ist der Fall.“

Inzwischen weiß er längst, worauf es bei den Kontrollen ankommt. Wie oft er sie durchführt, will er nicht sagen: „Sonst weiß er Bescheid.“ Er, Bäcker Groth, scheint sich indessen recht wenig um die Kontrollen zu scheren. Sein Gewissen ist rein, er backt, wie es sich gehört, für die reguläre Kundschaft ebenso wie für jene, die auf koschere Backwaren Wert legen. Als vorerst alles im Ofen und für den Moment nichts weiter zu tun ist, atmet er kurz durch: „Jetzt ist Zeit für eine Zigarette!“ Der Rabbiner begleitet ihn nach draußen, vor der Backstube reden sie im Morgengrauen über dies und das.

Nach der kurzen Pause geht es für Holger Groth weiter, die Challots sind dran: Am Freitagabend, also in wenigen Stunden, beginnt der Schabbat. Der Rabbiner hat seine Kontrolle beendet, er wird später wiederkommen und einige Hefezöpfe abholen. „Willst jetzt noch was mitnehmen?“, fragt der Bäcker. Rabbiner Teitelbaum lehnt ab und verweist scherzhaft auf seinen Bauch. „Ach was“, sagt Bäcker Groth, „das ist die Wohlfühlzone! Frauen lieben das!“ Der Rabbiner ist nicht überzeugt. „Ich bringe das nächste Mal meine Frau mit, dann kannst du ihr das noch mal sagen“, sagt er und lacht.

Text und Fotos: Karolina Meyer-Schilf