HINZ&KUNZT/Hamburg: Aufmucken lohnt sich! Nach unseren Berichten und den Protesten unserer Leser ist Flaschensammeln am Hamburger Flughafen nicht mehr verboten. Noch besser: Ab sofort arbeiten drei Hinz&Künztler dort als professionelle Leergutbeauftragte.
Mein Bild von Flaschensammlern hat sich um 180 Grad gewendet“, sagt Mercedes Lazar-Heubel. Die 33-Jährige betreut am Flughafen Hamburg das Projekt „Spende dein Pfand“, bei dem seit September Fluggäste vor dem Abflug ihre ausgetrunkenen Pfandflaschen spenden statt wegwerfen können. Heute ist die Projektleiterin voller Verständnis für die Menschen, die sich meistens unauffällig durch die Terminals bewegen und in den Mülleimern nach Pfandflaschen suchen: „Eigentlich spricht gar nichts dagegen“, sagt sie. „Ich habe gemerkt, dass diese Menschen einfach darauf angewiesen sind.“
Noch vor einem halben Jahr sah sie das ganz anders: „Ich habe mich wirklich gestört gefühlt, wenn ich das gesehen habe“, räumt Lazar-Heubel ein. Sie habe wie so viele das Elend nicht sehen wollen und hätte die schwierige Situation der Flaschensammler nicht verstanden. Damals war am Flughafen das Sammeln auch noch verboten. Das sollte einen „ungestörten Betrieb“ gewährleisten und den Fluggästen einen „angenehmen Aufenthalt“ ermöglichen, hieß es. Wer wiederholt gegen das Verbot verstieß, musste mit einer Anzeige rechnen. 97-mal zeigte die Flughafenverwaltung im Jahr 2014 Flaschensammler an.
Online-Petition mit überwältigender Beteiligung
Ein Unding, fanden wir bei Hinz&Kunzt. Unser Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer startete eine Onlinepetition gegen dieses Vorgehen. 57.000 Menschen unterzeichneten innerhalb von nur drei Tagen. Das hätten selbst wir nicht erwartet – und die Verantwortlichen am Flughafen erst recht nicht. „Erst durch die Petition ist uns bewusst geworden, dass wir ein Problem haben“, sagt Lazar-Heubel. Aber dann war klar, dass etwas geschehen musste.
Die Petition war der Anfang einer Erfolgsgeschichte. Das Flaschensammelverbot hob der Flughafen danach rasch auf. Zunächst für eine Testphase, dann dauerhaft. „Es gibt von ein paar Ausnahmen abgesehen eigentlich keine Probleme“, sagte uns Johannes Scharnberg vom Flughafenmanagement im April. Inzwischen hat seine Mitarbeiterin Lazar-Heubel im Ankunftsbereich Pfandregale aufhängen lassen, damit die Sammler nicht mehr im Dreck wühlen müssen. Zwischen Hinz&Kunzt und dem Airport haben viele Gespräche stattgefunden. Zunächst waren wir skeptisch, doch schnell wurde uns klar, dass alle Beteiligten an einer sinnvollen Lösung des Konflikts interessiert waren. Mercedes Lazar-Heubel hatte längst den Kontakt zu anderen Flughäfen gesucht, die bereits Konzepte im Umgang mit Flaschensammlern ausprobiert haben.
Im Mai flogen wir nach Stuttgart, um uns das Projekt „Spende dein Pfand“ anzusehen. Vor den Eingängen zu den Sicherheitskontrollen stehen dort große Sammelbehälter aus Plexiglas, in die die Passagiere ihre Flaschen werfen können. Mit in den Abflugbereich dürfen sie die ja ohnehin nicht nehmen. 302.000 Flaschen und Dosen landeten 2014 in diesen Behältern. Pfand im Wert von 61.500 Euro. Bilanz steigend: „Bislang liegen wir 2015 deutlich über den Vorjahreszahlen“, sagt der Stuttgarter Flughafensprecher Johannes Schumm zufrieden.
Das diene zum einen dem Umweltschutz, erklärt Alexis Hanke von der Uni Hohenheim. Schließlich können die Flaschen so recycelt werden und landen nicht auf der Müllkippe. Hanke hat sich das Konzept zusammen mit seinen Studenten ausgedacht. Doch was tun mit dem gesammelten Pfandgeld? Erst hat sein Seminar überlegt, es an wohltätige Organisationen zu spenden. Doch dann kam den Studenten eine bessere Idee: Langzeitarbeitslose sollten für die Leerung der Pfandbehälter und die Sortierung der Flaschen eingestellt werden. Ihr Gehalt könnte durch das gesammelte Pfand finanziert werden.
Vorbild Stuttgart
Ausgedacht, umgesetzt: Seit Herbst 2013 läuft das Projekt in Stuttgart erfolgreich in Zusammenarbeit mit der örtlichen Straßenzeitung Trott-war. Auch in Köln wird seit Mai so Pfand gespendet. Vier Menschen sind in Stuttgart fest als professionelle Flaschensammler angestellt. „Wir schaffen die Chance für jemanden, auf dem Arbeitsmarkt wieder Fuß zu fassen“, sagt Hanke sichtlich stolz. „Das ist eine tolle Symbiose.“
Im Flugzeug zurück war uns schnell klar, dass wir uns das auch für Hamburg wünschen. Langzeitarbeitslose, die unbedingt wieder einen festen Job haben wollen, kennen wir schließlich eine Menge. Und auch beim Hamburger Flughafen kam die Idee gut an. „Spende dein Pfand“ heißt es seit September auch hier. „Wir freuen uns riesig, dass wir zusammen mit Hinz&Kunzt ein sinnvolles Projekt umsetzen können“, sagt Lazar-Heubel. Auch Stephan Karrenbauer ist begeistert: „Für uns ist es die schönste Geschichte des Jahres: dass ein so schwieriger Konflikt beendet wird – und drei Menschen einen Arbeitsplatz bekommen. Das motiviert auch unser ganzes Team.“ Die Stimmung ist gekippt – ins Positive.
Hinz&Künztler als Leergutbeauftragte eingestellt
Am meisten freut das die Drei, die nun endlich wieder einen festen Job haben. Da ist Jaroslaw, der bis vor kurzem noch in einer Hütte direkt neben S-Bahn-Gleisen gewohnt hat. Geld verdiente er mit dem Verkauf von Hinz&Kunzt und Flaschensammeln. „Ich bin ein Profi“, sagt er grinsend und zeigt den Greifarm, mit dem er sammelt. Für ihn ist die Anstellung der Beginn des geregelten Lebens, das er sich lange gewünscht hat. Und die Eintrittskarte in eine eigene Wohnung. „Ich hasse das Leben auf der Straße“, sagt er. Seine Fröhlichkeit schlägt um in Melancholie, wenn er darüber spricht. Umso größer ist die Vorfreude auf die eigenen vier Wände: „Ein Zimmer, Küche, Bad. Was brauche ich mehr?“
Dann ist da „Opa“ Georgi Nikolov, den wir im Sommer 2013 unter der Kennedy-Brücke getroffen haben. Der heute 50-Jährige zeltete dort mit seiner Frau, seiner Tochter, dem Schwiegersohn und seinen zwei Enkeln. Die bulgarische Roma-Familie kam auf der Suche nach Arbeit nach Hamburg. Seit zwei Jahren lebt sie nun in zwei kleinen Kirchenkaten, die Hinz&Kunzt organisiert hat. Die Kinder gehen in die Schule. Nach mehreren Minijobs werden Georgi und seine Frau nun endlich eine Krankenversicherung haben.
Der Dritte im Bunde ist Uwe. Er hat Angst davor, einen Job in der freien Wirtschaft nicht zu schaffen. „Ich brauche diesen Schutz, den mir Hinz&Kunzt bietet“, sagt er. Dass er mal am Airport arbeiten würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Er, der panische Flugangst hat. „Ich denke die ganze Zeit: Geil, ich steig da nicht ein! Ich bleib hier“, sagt er schelmisch. „Ich muss ja arbeiten.“
Wir sind alle zufrieden: Uwe, Georgi, Jaroslaw, Stephan und Mercedes. „Ich habe mal wieder gemerkt, dass Reden das A und O ist“, sagt Lazar-Heubel. „Wenn man vernünftig über etwas spricht, gibt es immer Lösungen.“
Nachtrag und Kommentar
Flaschensammlern helfen ist eine gute Sache. Wir dürfen aber nicht vergessen, was das eigentliche Problem ist: Die immer größer werdende Armut.
Wir haben in den vergangenen Monaten viel für Flaschensammler bewegt. Nachdem wir beklagten, dass sie nicht in die neuen Big-Belly-Mülleimer in der Innenstadt hineingreifen können, hat der Senat 100.000 Euro für Pfandregale bereitgestellt, die nach und nach installiert werden. Nach unseren Berichten über Strafanzeigen gegen Flaschensammler am Flughafen und der anschließenden Onlinepetition wurden die Anzeigen zurückgenommen. Pfandsammeln ist dort in der Folge jetzt erlaubt, auch am Flughafen gibt es Pfandringe.
Unterm Strich haben wir das Leben für die Flaschensammler in Hamburg etwas leichter machen können. Darüber freuen wir uns, und auch von unseren Lesern bekommen wir dafür viel Zuspruch. Und trotzdem dürfen wir damit nicht zufrieden sein.
Dass es immer mehr Flaschensammler gibt, daran haben wir uns gewöhnt. Viele von ihnen haben wir in den vergangenen Monaten kennen gelernt. Da war der Rentner, der am Flughafen schon als Arbeiter die Rolltreppen mit gebaut hat und jetzt jeden Tag aus Wedel mit der S-Bahn kommt, um am Airport im Müll zu wühlen. Da war der Softwareentwickler, der seit zehn Jahren keine Gehaltserhöhung mehr bekommen hat und deshalb nach Feierabend regelmäßig einmal die Mülleimer in der Mönckebergstraße abklappert. Da war der Koch, der in der Nebensaison keine Anstellung fand und täglich sechs Stunden die Innenstadt nach Pfandgut durchkämmte. Die Obdachlosen oder psychisch Kranken, die kaum eine andere Möglichkeit haben, Geld zu verdienen.
Das eigentliche Problem ist, dass all diese fleißigen Menschen gezwungen sind, für ihr Auskommen im Müll zu wühlen. Dass regelmäßig Studien mit dem Ergebnis veröffentlicht werden, die Kluft zwischen Arm und Reich in diesem Land werde immer größer. Dass wir uns daran gewöhnt haben, dass es so ist. Dass wir daran nichts ändern konnten, obwohl wir es seit Jahren anprangern.
Klar ist es ein Skandal, dass den Pfandsammlern das Leben mit Strafanzeigen und Hausverboten auch noch schwerer gemacht wird. Und wir müssen weiter dafür streiten, dass sie nicht kriminalisiert und vertrieben werden – zum Beispiel an den Bahnhöfen der Deutschen Bahn. Unser Ziel muss aber eine Gesellschaft sein, in der niemand darauf angewiesen ist, im Müll zu wühlen.
Die verantwortlichen Politiker dürfen wir nicht damit davon kommen lassen, ein paar Pfandregale aufzuhängen und so die Symptome ihrer eigenen Politik abzumildern. Nachhaltige Maßnahmen gegen Armut müssen her. Packen wir’s an!
Text: Benjamin Laufer. Fotos: Mauricio Bustamante. Mit freundlicher Genehmigung des INSP Nachrichtendiensts www.INSP.ngo / Hinz&Kunzt, Hamburg.