Leseprobe

WOLLE, BABY UND OPA

#56 GÜTERBAHNHOF: Wer das Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof besucht, trifft dort auf viele Geschichten. Nicht jeder hier nimmt Hilfe in Anspruch

 

Wenn „Baby“ vom Nachtlager der Obdachlosen am Güterbahnhof spricht, wird er sentimental. „Es ist eine Gemeinschaft“ sagt er. „Am Tag passt immer jemand auf deine Sachen auf.“ Und alle achten sie auf die Arzt- und Ämtertermine der anderen, sagt Baby. Er hat den seinen heute trotzdem verpasst. Stattdessen sitzt er jetzt, wie immer morgens um zehn, mit einem Kaffee bei den Streetworkern der Inneren Mission, vor dem Hauptbahnhof. Es ist beißend kalt. Baby, – mittlerweile Anfang 40 – kleckert wieder und wieder auf seine schwarze Hose, ärgert sich, um im nächsten Moment wieder neckisch zu grinsen. Und einen seiner Freunde aufzuziehen.

Zwei Jahre lebte Baby am Güterbahnhof, zwei Mal fiel er ins Koma. Mittlerweile sitzt er im Rollstuhl. Er braucht eine Hüft-Operation, doch wegen einer starken Entzündung im Körper wollen ihn die Ärzte nicht operieren. „Sie haben gesagt, er soll sich auskurieren und haben ihn einfach wieder auf Straße gesetzt“, erzählt der Streetworker Jonas Pot d’Or von der Inneren Mission. Immerhin schläft Baby jetzt in einer Notunterkunft, nicht mehr am Güterbahnhof. Dennoch soll er heute mein Türöffner zum Nachtlager am Güterbahnhof sein.

Baby schaut mich nicht an. Stattdessen unterbricht er seinen redseligen Freund „Opa“, 59, den er auch vom Güterbahnhof kennt, mit Sticheleien oder einem liebevollen „Halt die Fresse“. Baby ist fürsorglich, vielleicht weil er lange Punk war und zwei Kinder hat. Kaum krame ich nach einem neuen Kugelschreiber, zückt er schon einen.

„Wir müssen los“, sagt er schließlich und rollt mit kurzen und kräftigen Armbewegungen voran. Der Schnürsenkel seines Sneakers schleift er hinter sich her. Er kämpft kurz mit der Fußgängerführung an den Schienen, dann rollt er über den Bahnübergang, durch den Schlamm, auf die Platte zu.

Etwa 13 Leute wohnen hier derzeit, aber gerade sind nur vier von ihnen da. Einer werkelt an einem Kocher, um ihn herum ein Ring aus Plastikresten. Baby kennt ihn, spricht sanft mit ihm, und lange. Obwohl er die wichtigste Regel hier bricht: Kein Müll! Die hat Baby noch mit den Künstlern vom Güterbahnhof ausgehandelt. Der Hinterausgang der Flamenco-Schule soll immer frei sein, aber auch dort hat nun jemand sein Lager aufgeschlagen. „Wenn jemand Ärger macht, habe ich ihn weggeschickt“, sagt Baby. Jetzt wollen die Künstler die Obdachlosen weg haben, sagt er.

Wir treffen „Wolle“ (Foto oben), der in seiner Sitzecke gerade ein junges Pärchen zu Gast hat. „In zwei Tagen müssen wir aus unserer Wohnung raus. Vielleicht kommen wir dann hier her“, sagt die Frau, sie mag vielleicht Anfang 20 sein. Sie ist heroinabhängig, er auch, und beide warten sie auf einen Platz im Substitutions-Programm.

Auch Wolle ist suchtkrank. Seit fünf Monaten macht er Platte. Für Streetworker und Beratungsstellen ist er nur schwer erreichbar. Jonas Pot D´Or sieht ihn nur gelegentlich, wenn er kostenloses Frühstück ausgibt. Dass Wolle mal eine Wohnung gesucht hätte, daran können sich weder der Streetworker noch Baby erinnern. Wolle selbst sagt, er hätte mal nach einer geschaut. „Aber die Wohnungen sind draußen in Blumenthal“, sagt er. Also zu weit weg vom Hauptbahnhof. Seinem Lebensmittelpunkt.

Auch die Streetworker der Inneren Mission und die CDU-Sozialpolitikerin Sigrid Grönert klagen über den Mangel an bezahlbarem Wohnungraum in der Innenstadt. „Es muss mehr Wohnungen geben – quer durch die Stadt verstreut“, sagt Grönert.

Habseligkeiten und Nachtlager am Bremer Güterbahnhof

Warum Wolle unbedingt am Hauptbahnhof bleiben will, erfahre ich, als ich ihn eine Woche später wieder treffe. Die Sonne scheint und Wolle ist gerade im Substitutions-Programm, also im Heroinentzug. „Das ist für mich stressfreier. Eine Dosis am Morgen, dann habe ich Ruhe“, sagt er. Er sitzt allein, im Schaukelstuhl, vor einem selbstgebauten Zelt aus Filzdecken. Am Hauptbahnhof will er weiter schnorren. Selbst wenn er eine Wohnung hätte. Das Geld braucht er, zusätzlich zu Hartz IV, für seine Drogen. Denn auf Kokain und Marihuana will er nicht verzichten.

Für jemand wie Sigrid Grönert ist das schwer verständlich. Doch für Wolle sind Drogen ein ständiger Begleiter, eine Konstante in seinem Leben. Schon mit zwölf hat er angefangen zu kiffen. Damals war er schon drei Jahre im Kinderheim, nach der Schule musste er Torf stechen, abends fiel er todmüde ins Bett. Aber mit den Drogen lief es erstmal richtig gut für Wolle. Er machte seinen Schulabschluss, danach eine Ausbildung zum Schweißer. Er arbeitete, zog mit seiner Freundin zusammen und bekam mit ihr zwei Söhne.

Dann kam das, was in der Forschung zur Obdachlosigkeit ein „Auslöser“ genannt wird: Wolles Frau stirbt. Unerwartet. Er ertränkt seinen Schmerz im Alkohol, auch wenn er Auto fährt. Am Ende muss er für dreieinhalb Jahre in den Knast. Als er wieder frei kommt, will er nicht in die alte, gemeinsame Wohnung zurück.

Also wurde Wolle obdachlos. Heute ist er 47 Jahre alt und sieht seine Söhne regelmäßig, sie sind beide Anfang 20. Der Ältere bekommt gerade sein erstes Kind. Unterkommen will Wolle bei ihnen nicht, obwohl sie es ihrem Vater schon mehrmals angeboten haben. „Die haben mit sich selbst zu tun“, sagt Wolle. Dafür unterstützt er sie. 200 Euro gebe er ihnen monatlich, behauptet Wolle. Er bekomme 1.000 Euro Arbeitslosengeld, sagt er. Für Jonas Pot d´Or ist das schwer vorstellbar. In der Regel bekämen Obdachlose nur den Hartz IV-Satz, also knapp 400 Euro monatlich.

Während Wolle erzählt, schläft nur einen Meter weiter ein junger Pole vor der Flamenco-Schule. Er rührt sich kein einziges Mal in seinem dünnen grünen Schlafsack. „Er kann kein Deutsch. Meistens schimpft er auf Polnisch und provoziert“, sagt Wolle. Manchmal werde der junge Pole auch aggressiv. Keiner kennt die Geschichte des Polen, weil niemand ihn versteht.

Wie für den Polen ist der Güterbahnhof für viele Obdachlose der erste Anlaufpunkt, manchmal auch nur für eine Nacht. In dem gesamten Areal schlafen schätzungsweise 90 Personen, sagt Bernd Schneider, der Sprecher des Sozialressorts, aber nicht alle auf dem alten Bahnsteig, so wie Wolle. Baby beispielsweise zeltete zunächst neben dem Gärtnereibetrieb, für den er damals arbeitete. Mittlerweile übernachten auch viele Rumänen am Güterbahnhof, sagt Baby. Aber auf dem Bahnsteig „wollte die keiner haben“. Sie hätten alles geklaut und Probleme gemacht. Und so endet bei den Rumänen auch die beschworene Solidarität.

Stimmen die Schätzungen des Sozialressorts, dann schlafen knapp 18% der rund 500 Wohnungslosen in Bremen hier am Güterbahnhof. Dabei hat jede, jeder mit einem deutschen Pass hierzulande auch einen Anspruch auf ein Dach über dem Kopf. Und der wird meistens auch gewährt: Die Menschen kommen dann in Notunterkünften, angemieteten Hotels oder Pensionen unter. Doch erschwingliche Wohnungen sind knapp. Jonas Pot D´Or sagt, dass es heute schon mal zwei Jahre dauern könne, bis er zusammen mit einem Obdachlosen eine Wohnung finde.

Lösen will die Stadt das Problem mit einer Quote: Wird neues Baurecht geschaffen, so darf ein Viertel der Wohnungen maximal 6,50 Euro pro Quadratmeter kosten – jedenfalls wenn in einem mehrgeschossigen Haus mehr als 20 Wohneinheiten entstehen. Ein Fünftel dieser Wohnungen wiederum soll Obdachlosen zur Verfügung stehen. 2016 und 2017 waren das  Schneider zufolge rund 120.

Baby findet ja, die leeren Container – in denen einst Geflüchtete unterkamen – könnten schnelle Abhilfe schaffen. Peter Erlanson, Sozialpolitiker der Linkspartei, findet das auch. „So hätten Wohnungslose einen sicheren Rückzugsort“, sagt Erlanson. Darüber hinaus hält er Reformen des Arbeitsmarkts für nötig, um Obdachlosigkeit, die durch prekäre Arbeitsverhältnisse ausgelöst wird, zu verhindern. „Man müsste gerade im Niedriglohnsektor viel mehr Regulierungen schaffen“, sagt Erlanson. Beispielsweise sollten Unternehmen stärker kontrolliert werden. Baby und Opa hätte das vielleicht geholfen: Beide wurden ohne Vorankündigung entlassen, sagen sie – und landeten hernach am Güterbahnhof. Beide versuchen, wieder eine Wohnung zu bekommen, mit Hilfe der Streetworker.

Wolle sucht solche Unterstützung nicht. Zwei Wochen nach unserem ersten Gespräch ist er nicht mehr aufzufinden. Vor dem Hauptbahnhof treffe ich Baby. Ihm geht es schlecht. „Das Bein muss ab“, hat er heute von den Ärzten erfahren. Die Entzündung sei zu weit fortgeschritten. „Ich hatte das Gleiche“, meldet sich ein Bekannter von Baby zu Wort. Er sitzt auch im Rollstuhl und hat keine Beine mehr.

Auch Baby wartet auf Wolle. Der soll für ihn etwas vom Aldi mitbringen. Nach ein paar Sprüchen wird er ernst: „Seit Wolle da ist, ist es scheiße auf der Platte“, sagt Baby. Wolle kümmere sich nicht um seinen Müll. Darüber, dass Wolle im Substitutions-Programm sein soll, lacht Baby nur hämisch: „Ich bin da auch – und gesehen habe ich ihn da noch nie“. Wer rückfällig werde, habe keine ernstzunehmenden Konsequenzen zu befürchten, sagt Baby. „Vielleicht gibts mal einen Tag kein Substitut.“

Um uns herum hat sich derweil eine Menschentraube gebildet. Ein Typ mit polnischem Akzent zeigt mir seine Zugtickets nach Lübeck, eine Frau mit winzigem Hund fragt, was ich kaufen wolle. Eine vielleicht 16-jährige mit schwarzer Kleidung und Wunden auf der Nase sagt: „Hab heute keinen Bock zu schnorren“. Schließlich verschwindet Baby im Getümmel der Bahnhofshalle. „Die letzten Tage ist Wolle nur weg mit seinen scheiß Drogen“, sagt einer der anderen Männer, „und ich sag ihm noch: Wolle, Du gibst dich selber auf“. Er schüttelt den Kopf. Jonas Pot d`Or kennt das Problem: „Die Rückfallgefahr ist sehr hoch bei Leuten, die auf der Straße bleiben.“ Parallel zur Substitution müsse meistens schon die Wohnungssuche ins Rollen gebracht werden, sonst seien die Erfolgsaussichten sehr schlecht.

Wolle ist an diesem Tag nicht wiedergekommen. Baby schon. Plötzlich erscheint er wieder und stellt sich in einiger Entfernung von mir auf. Er wartet, vielleicht zögert er. Dann rollt Baby zügig in Richtung Güterbahnhof. Opa folgt ihm.

Text: Eva Przybyla
Foto: Hartmuth Bendig