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„KAFFEE? MILCH? ZUCKER?“

#50 DIE STRASSE. Eine Runde durch die Bahnhofsvorstadt mit [Martin], der durch einen Ein-Euro-Job zum Streetworker wurde

Der letzte Dienstag im Mai 2017, ein sonniger Morgen. Menschen hasten auf dem Vorplatz des Bremer Hauptbahnhofs zur Arbeit. Mitten unter ihnen ist [Martin], 44. Sein Gang ist fest, aber nicht überaus schnell. Sowieso ist er etwas ruhiger und in sich gekehrt. Alleinunterhalter wird er in diesem Leben nicht mehr, das steht fest.

Sein Ziel ist das Café Papagei, unweit der Bremer Discomeile. Kurz nach neun Uhr steht er an der Theke und bestellt wie jeden Tag eine kleine Cola.

Danach ein kurzer Schnack mit Gästen des Cafés und seinen Kollegen [Jörg] und [Jonas]. Dabei dreht er sich eine Zigarette. [Martin] erfährt, dass er heute allein „seine Runde machen“ muss. Er gehört seit zehn Monaten zum Team der Streetworker der Inneren Mission. Als Ein-Euro-Jobber ist er, wie schon sein Kollege [Jörg], zum Team gestoßen.

Um halb zehn wird er unruhig, sein Dienst auf dem Bahnhofsvorplatz beginnt. Er stopft vier Thermoskannen Kaffee in den Rucksack. Kurze Kontrolle, ob er auch an alles gedacht hat, dann macht er sich auf den Weg. Sein erster Kunde lässt nicht allzu lange auf sich warten, [Martin] schenkt den ersten Kaffee aus. Da [Martin] bis vor ein paar Monaten sehr zurückgezogen gelebt hatte, musste er erst lernen, wie man sich auf der Straße verhält. Vor dem Hauptbahnhof wird er das erste Mal von einem Mann erkannt, der auf der Straße lebt. Bei einem kurzen Plausch werden die Neuigkeiten des Tages ausgetauscht: Ein Obdachloser ist am Vorabend ins Krankenhaus gekommen. [Martin] kennt ihn, er fragt: „Was ist mit seinem Hund?“ „Der ist bei einer Freundin“, die Antwort beruhigt ihn. [Martin] hat selbst einen Hund: Spike, ein Husky.

Auf dem Weg durch den Bahnhof zur Bürgerweide geht [Martin] das Schicksal des Obdachlosen nicht aus dem Kopf. Vermutlich muss er das Krankenhaus nach drei Tagen schon wieder verlassen:

„Der ist nämlich nicht krankenversichert. Dann werden die ihn nicht so lange dabehalten. Ich denke ja manchmal, mir geht es beschissen, aber wenn ich das hier dann alles sehe … Auch wenn ich so meine Probleme habe, dagegen geht es mir richtig gut.“ Auf der Straße gelebt hat er nie, aber durch Schicksalsschläge vor vielen Jahren ist sein Leben nicht gerade ideal verlaufen. „Zwar habe ich keinen Job gelernt, aber damals immer gearbeitet. Gabelstapler bin ich viel gefahren und im Lager habe ich gearbeitet, hatte ein Auto und alles!“ Genauer möchte [Martin] seine Geschichte nicht erzählen.

Auf der Bürgerweide angekommen, schallt es ihm aus einer kleinen Gruppe schon entgegen: „Moin Maddin! Wie immer, pünktlich auf die Minute, da kannst du die Uhr nach stellen.“ Die sechs Männer sind fast immer hier, sie fiebern dem kostenlosen Kaffee entgegen. Martins erste Thermoskanne ist leer, und etwa zehn Minuten später geht es weiter durch den Nelson-Mandela-Park. Eigentlich wollte [Martin] den Job gar nicht. „Aber Jonas (Streetworker der Inneren Mission, Anmerkung der Redaktion) hat immer genervt, und irgendwann habe ich dann zugestimmt. Der Job gibt meinem Tag Struktur und ich habe was zu tun.“ [Martins] Job umfasst die tägliche „Kaffeerunde“ und Helfertätigkeiten. Aber er ist auch nicht selten erste Anlaufstelle bei Problemen, gerade wenn er wie heute allein und nicht mit [Jonas] unterwegs ist.

Im Park ist nicht viel los. Beim Elefanten sitzen zwei Frauen auf einer Parkbank. Die jüngere der beiden ist von zu Hause ausgerissen.

Einen Kaffee möchten sie nicht, aber einen Rat: „Mit meinem Vater gibt es Stress zu Hause und ich will nicht wieder dahin zurück. Wo kann ich mich melden, wer kann mir helfen?“ „In deiner Situation: Geh mal am Besten ins Café Papagei. Da sind Menschen, die dir helfen können, die haben Ahnung.“

[Martin] ist nun eine Stunde unterwegs und gönnt sich eine Zigarette auf einer der Bänke. Eine kurze Pause. Danach geht es durch den Bahnhof zurück in die Stadt. Auf den Wegen in der Bahnhofsvorstadt leert sich die zweite Kanne. Auch in den Wallanlagen wird er schon erwartet. Die Gespräche an den Treffpunkten scheinen sich zu wiederholen, so wie die immer gleichen Fragen:

„Kaffee? Milch? Zucker?“ [Martin] ist einfach kein Mann der vielen Worte und eigentlich kennt er die Gewohnheiten seiner Stammkunden. „Schwarz wie die Nacht, schwarz wie meine Seele! Das weißt du doch, Maddin!“, sagt ein komplett schwarz gekleideter Mann nahe der Mühle.

Die anschließende Runde durch die Sögestraße, über den Domshof und zurück durch die Obernstraße ist heute schnell erledigt. Es ist wenig los, und inzwischen ist es warm geworden. Die letzte Kanne ist fast leer.

[Martin] wohnt in Gröpelingen und wenn er heute Abend zu seinem Hund nach Hause kommt, beginnt die andere Hälfte seines Alltages. Die ruhigen Abende und Wochenenden verbringt er dann mit Spike. Seine Fotos haben deshalb nichts mit seinem Job als Streetworker zu tun. „Ich liebe Schiffe, den Hafen, das Maritime. Meine Mutter war lange mit einem Seemann liiert, daher kommt das wohl.“ Angeln gehört dabei zu seinen liebsten Hobbys, stundenlang gibt er dann keinen Ton von sich. Denn eigentlich ist er ja nicht gerne unter Menschen. Trotzdem wird er auch morgen früh wieder pünktlich um neun Uhr seine Cola im Café Papagei bestellen.

Text: Sebastian Voss
ist derzeit selbst von Wohnungslosigkeit betroffen und hält den „Fidget Spinner“ für eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit

Fotos: Martin
ursprünglich veröffentlicht im
Juli 2017