#90 KLEIN MEXIKO – Gernot Riedl ist eine der markanten Persönlichkeiten von Klein Mexiko. Inmitten der Großstadt wirkt er als Überzeugungstäter in Sachen Bio-Landwirtschaft
Ein Tumult der Farben und Formen auf 13,5 Quadratmetern: Vorm Fenster wuchern aus den Kästen gelbe Husarenknöpfe, tiefblaue Hängelobelien und Myrte. Dazu gesellen sich knallroter Riesenziertabak und weiß-rosa Edelpelargonien. Neben der meist offenstehenden Eingangstür räkeln sich Hängeampeln und -geranien. Im Topf darunter geben sich Sonnenblumen, Steinkraut und prächtig orangerote Thitonien die Ehre. Bepflanzt sind einige Kübel mit der lachsrosa Dahlie „Berliner Klene“, weißem Ziertabak und einer tiefblauen Clematis. Über den Blumenbogen am Eingang klettern Damaszener Rosen mit betörendem Duft, angehimmelt von gelben und violetten Dahlien, Staudenphlox, leuchtend gelben Nachtkerzen, roten Stockmalven, Staudensauerampfer …
Gernot Riedl lädt alles, was fliegt oder krabbelt, zum Getümmel in sein wild wucherndes Vorgarten-Paradies. Als Ode an das (Klein) Mexiko schaut das Konterfei Frida Kahlos von der Fassade dem bunten Treiben zu – in aufrechter Haltung, mit ernstem Blick, der strengen, blumengeschmückten Frisur und grundiert von der frohen Farbigkeit ihrer Bilder. Dass die mexikanische Malerin als leidenschaftlich linke Revolutionärin für die Einheit von Leben und Werk steht, für Kampfgeist und Selbstbehauptungswillen, lässt Rückschlüsse auf ihren Fan Riedl zu. „Ich gehörte nie der Marxistischen Gruppe oder dem KBW an, war nie ein DKPisser, aber immer Linker, ein zu spät geborener 68er“, sagt der heute 70-Jährige in seiner pfundigen Art. Ein Bär von einem Mann – mit glühenden Fuchsaugen.
Für ihn waren Berufe immer auch Berufung: Weil seine Mutter das wollte, ließ Riedl sich zwar einst zum Chemiefacharbeiter ausbilden, „ich war ja nur Volksschüler“, engagierte sich aber schon bald als Erzieher für Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, sowie schwer erziehbare Jugendliche. In einer Hildesheimer Einrichtung kämpfte er gegen ihr Wegsperren und Haldolisieren, hatte dabei aber „mit ehemaligen Reicharbeitserziehern zu tun“. Da konnte er mit seinen Ideen von Psychiatriereform und Auflösung der Heimerziehung nicht landen. „Die haben mich dann rausgeschmissen“, so Riedl. Er wechselte schließlich nach Bremen ins Jugendzentrum Blockdiek.
Aber Riedl wollte auch etwas tun gegen den Niedergang der Lebensmittelqualität und dass immer mehr Naturprodukten vom Markt verschwinden. Sein Vater war Gärtner im Sudetenland, nach dem Krieg hatte er wie viele Flüchtlinge einen riesigen Garten, „um nicht zu sagen einen Mini-Bauernhof, ich bin sozusagen auf dem Acker geboren, dort bauten wir alles an, was man zur Selbstversorgung braucht. Aber mein Vater hat E 605 gespritzt, auch noch welches besorgt und eingelagert, als das längst verboten war. Und wenn ich einen Wurm fand, hieß es immer: gleich totmachen.“
„Zum Glück ist das Haus abbezahlt.“
Noch heute trägt Riedl das ausgeleierte Slow-Food-Shirt mit seinem Namen drauf. Hat er doch die Bremer Sektion der Feinschmecker-Organisation mitbegründet – schon lange vorher aber begonnen, sich selbst der ökologischen Landwirtschaft zu widmen. Seine Kern-Leidenschaft: Bio-Gemüse. Riedl bildete abgehängte Jugendliche zu Öko-Gärtnern aus und vermarktete die selbst gezogenen Produkte durch sein Unternehmen Ökokiste, das Kunden mit individuell zusammengestellten Gemüsekisten versorgte.
„Zur Geschäftseröffnung hatten wir einen Artikel in einer Tageszeitung und am nächsten Tag schon 250 Kunden, bald waren es doppelt so viele“, erinnert sich der gewiefte Riedl. „Zwölf Stunden pro Tag habe ich damals gearbeitet, nachmittags in der Gärtnerei getopft und geerntet, was dann zu unserem Komplettangebot fehlte, kaufte ich morgens um 3 Uhr auf dem Großmarkt, dann ging es bis 14 Uhr auf den Domshof-Markt, anschließend mussten die Bestellungen für den nächsten Tag vorbereitet werden.“ Jetzt ist Riedl in Rente, der Verein Rhizom übernahm die Ausbildungsgärtnerei und kaufte für 40.000 Euro auch die Ökokiste.
Vor 22 Jahren zog der multifunktionale Aktivist nach Klein Mexiko. „Ich fand das Viertel hier total toll, auch wegen der politischen Geschichte, bis in die 1935er-Jahre kam ja auch kein Nazi rein, sonst gab es was auf die Omme.“ Heute lebt der Ökobauer von knapp 1.000 Euro Rente. „Zum Glück ist das Haus abbezahlt.“ Dort frönt er nun verstärkt dem Musikmachen. Riedl spielt Konzerttuba, früher in der Band Lauter Blech, jetzt täglich daheim ein bis zwei Stunden. Nicht alle Nachbarn goutieren das mit Freude. Denn nicht Wummtatäterä-Gebläse erklingt, eher zeitgenössische Musik. Riedl schätzt Werke wie Mauricio Kagels anspruchsvolle Satire „10 Märsche um den Sieg zu verfehlen“.
Wer Gernot Riedls prallvolle Wohnkochstube in den kleinen Garten verlässt, gelangt in einen nicht mehr aufgeräumten Dschungel. Brombeeren überwuchern alles, der Sonne und dem Ökobau- Morgenrot entgegen recken sich Kartoffeln, Kräuter, Tomaten, Sonnenblumen, Auberginen, Paprika, durchs botanische Idyll bewegen sich Marienkäfer, Schmetterlinge, Nacktschnecken und, und, und …
Text: Jens Fischer
Foto: Judith Kreuzberg