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#98 BISCHOFSNADEL – Die Bischofsnadel ist Tunnel, Durchgangsweg sowie Park- und Stadteingang. Und manchmal vergisst man bei all diesen Übergängen fast, dass sie auch selbst ein Ort ist. Nur eben einer dazwischen.

Ein leichter Wind weht durch die Bäume in den Wallanlagen: ein angenehmer Wind an einem der ersten milden Frühlingstage in diesem Jahr. Die Sonne wirft ihre Strahlen auf die Wasserflächen und sorgt für ein stimmungsvolles Glitzern. An den Bäumen sind erste Knospen zu erkennen, die zusehends das winterliche Grau verdrängen. Dazu sorgen die singenden Vögel für eine liebliche Idylle mitten im Herzen der Stadt. Auf dem Weg entlang der Bischofsnadel begegnen mir viele Men­schen, die genau diese Entspannung von der Hektik des Alltags zu suchen schei­nen: Spaziergänger:innen, die Hand in Hand am Wasser schlendern, spie­lende Kinder, oder die vielen Fahrräder – sie alle scheinen in Ruhe das Wetter zu genießen. Auch unter den großen roten Sonnenschirmen an der Unterführung am Wall haben viele Menschen Platz genommen und genießen, in Gespräche vertieft, Kaffee, Pizza oder andere Kleinigkeiten, die dort angeboten werden. Es dauert nicht lange an diesem Ort und auch ich verfalle in eine entspannte Grundstimmung. Bis auf wenige vorbeifahrende Autos und gelegentliche Polizeisirenen könnte man fast vergessen, sich mitten in Bremen nahe Hauptbahnhof und Altstadt zu befinden.

Zwischen Café und Pizzeria offenbart sich eine kurze Unterführung, die eine schnelle Verbindung in die Innenstadt schafft, ohne die Straße am Wall überqueren zu müssen. Nach dem hellen Tageslicht in den Wallanlagen wirkt der Tunnel dun­kel. Gelbes, spärliches Licht beleuchtet die kleinen Geschäfte, die sich dicht an dicht reihen. Viele Menschen sind hier unterwegs. Einige besuchen Kiosk, Schnei­derei oder Schuster, die meisten aber nutzen die Unterführung nur als schnellen Durchgang. Die Verweilstimmung in dem engen, hallenden Tunnel ist verflogen. Kaum jemand hält sich hier länger auf. Am Ende führen 15 Stufen wieder aus der Unterführung heraus.

Tunnel, Park und Häuserschlucht: Die Bischofsnadel ist alles zugleich.

Zurück im Tageslicht stehe ich in einer kurzen Gasse, die zur Innenstadt führt. Durch die fünfstöckigen Gebäude auf beiden Seiten ist der Weg größtenteils in Schatten gehüllt. Rechts von mir wartet eine kurze Schlange darauf, eine kleine Bäckerei betreten zu können. Davor stehen einige Menschen an Stehtischen und trinken Kaffee. Gegenüber tritt eine Person aus einem Laden für Fischspezialitäten und verlässt die Gasse in Richtung Altstadt. Es herrscht reges Treiben. Der Blick fällt geradeaus direkt auf den Dom, der jedoch teilweise von Büro- und Geschäfts­gebäuden verdeckt wird. Manche Gebäude wirken wie verblichen, verlassen und wenig einladend. Mit ihren sandsteinfarbenen und grauen Fassaden verschmelzen sie fast nahtlos mit den Straßen und Wegen ringsherum. Kaum jemand schenkt diesen Gebäuden echte Aufmerksamkeit. Sie wirken belanglos und das Flair der Altstadt weit entfernt.

Anders sieht es gleich daneben aus. Hier erstrecken sich viele bunte Wagen des Woche­nmarktes mit ihren verschiedenen Angeboten. Das Ensemble wirkt mit den Menschen dazwischen auf eine sympathische Weise unaufgeräumt. Davor befindet sich ein kleiner Platz mit eckigem Glasquader, in dem sich Café und Bar befinden. Überspannt wird das Ganze von einem riesigen

Glasdach. Mit dem historischen Rathausgebäude und Dom im Hintergrund könnte der Kontrast kaum größer sein. Während ich auf die Menschen auf dem Wochen­markt oder im Café blicke, fahren im Minutentakt Busse und Bahnen an mir vorbei. Schnell eilen einige noch zur Haltestelle, um ihre Bahn zu bekommen, bevor sich die Türen mit lautem Piepen schließen. Der Alltag scheint die Menschen hier zu bestimmen: Erledigungen machen oder von einem Ort zum anderen gelangen. Obwohl sich auch hier Menschen treffen und miteinander reden, strahlt dieser Ort für mich Anonymität aus. Genauso schnell, wie viele gekommen sind, sind sie auch wieder verschwunden – einige in die Unterführung in Richtung Wall, andere weiter in Richtung Innenstadt.

Text: Joshua Köhler
Foto: Beate C. Köhler