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#38 HORNER KIRCHE

Geduld ist eine Tugend

Alle Themen dieser Ausgabe haben einen gemeinsamen roten Faden: die Langmut, oder, moderner gesprochen, die Geduld. Geduld etwa hatten die Gründer der Horner Kirche, als sie im Nichts ein Gotteshaus planten. Geduldig ertrug auch die Linde, die hier einst gepflanzt wurde, alle Zeitläufte –und mauserte sich zu Bremens ältestem lebenden Baum. Womöglich haben ihre drei Stämme etwas dazu beigetragen.

Über Geduld verfügen aber auch die Menschen in unseren Geschichten: Die ehemalige Ärztin Barbara Janssen-Frank etwa, die heute im Gemeindesaal der Horner Kirche Menschen in die japanische Kunst des Origami einweist – eine Leidenschaft, die sie vor 15 Jahren ausgerechnet in Italien entdeckte (Seite 24). Oder der Chinese Ping Fan, der nur wenige hundert Meter entfernt einen Asia-Laden betreibt. Einst wollte er in Deutschland als Chemiker Fuß fassen. Doch es kam anders, als gedacht (Seite 12).

Gleich zwei Themen in dieser Ausgabe drehen sich um die Sorgen und Nöte von Jugendlichen: In einem Gespräch geben zwei junge Männer Einblick in ihre Zeit im betreuten Jugendwohnen in der Sozialeinrichtung Alten Eichen, die sie nicht nur aufs Leben vorbereitet hat, sondern in der auch eine innige Beziehung zu ihrem Betreuer entstanden ist (Seite 20). Nicht weniger engagiert kümmern sich die Unterstützer einer Containersiedlung für jugendliche Geflüchtete um ihre Schützlinge. Eines der Kernthemen: Warum dauert es so lange, bis die jungen Leute hier zur Schule gehen können? (Seite 8).

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen
Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

 

Aus dem Inhalt

08    Wann darf ich zur Schule?

Jugendliche Geflüchtete im Dschungel der Bürokratie

12    Herr Fan hatte einen Plan (online lesen)

Wie ein Doktor der Chemie zum Krämer wurde

14    Lichtspiel

Fotostrecke

20    Gehen müssen die Jugendlichen

Ein Gespräch übers Erwachsenwerden im Betreuten Wohnen

24    Knicken und Falten (Video zum Artikel)

Im Urlaub entdeckte sie das Origami. Es ließ sie nicht mehr los

28    Uni der Straße: Es geht los!

Im Mai startet der Probebetrieb unseres Bildungsprogramms mit Seminaren für alle

… und nur online

@    DAS PHÄNOMEN LESTRA (online lesen)

Ein unabhängiger Supermarkt in Familienbesitz hält sich wacker im Konkurrenzkampf mit Lebensmittelketten und Discountern. Unser Autor schaut nach, wie das geht

Hintergrundfoto: James/flickr.com

ORIGAMI FALTEN: VIDEO-ANLEITUNG

#38 HORNER KIRCHE – Origami sind die günstigen China-Nudeln aus dem Bremer Hauptbahnhof? Nicht ganz: Origami ist die japanische Kunst des Papierfaltens.

Die Zeitschrift der Strasse stellt in ihrer aktuellen Ausgabe Barbara Janssen-Frank vor. Sie ist ein Urgestein in der Bremer Faltszene. In diesem Video erklärt sie, wie der klassische Kranich gefaltet wird. Ihre Geschichte ist in der aktuellen Zeitschrift der Straße zu lesen. Nachfalten: erwünscht!

 

Video:
André Beinke
Foto:
Wolfgang Everding

 

„ES IST EIN TEUFELSKREIS“

Neben deutschen Obdachlosen und von Armut Betroffenen verkaufen auch einige Rumänen und Bulgaren die Zeitschrift der Straße. Bernd Buhrdorf, Migrationsberater der AWO, kennt ihre Situation

 

Herr Buhrdorf, wie ist die rechtliche Lage von Rumänen und Bulgaren in Deutschland?

Wir sind ja eigentlich ein vereinigtes Europa. Und in der EU haben alle Bürger das Recht, in einem anderen EU-Land nach Arbeit zu suchen und zu diesem Zweck auch dort zu wohnen. Das nennt sich Freizügigkeit. Bis Ende 2013 galt für Rumänien und Bulgarien aber eine eingeschränkte Freizügigkeit – für Kroatien sogar bis Juli 2015. Personen aus diesen Ländern mussten eine gesonderte Arbeitserlaubnis beantragen, Deutsche wurden in den meisten Fällen vorrangig eingestellt. Diese Einschränkungen lockern sich jedoch allmählich.

Das klingt aufwendig.

In der Zeit bis 2014 habe ich persönlich kaum Rumänen oder Bulgaren getroffen, die die Chance hatten, mit Arbeitserlaubnis in Arbeit zu kommen. Heute, wo sie keiner Arbeitserlaubnis mehr bedürfen, ist der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt etwas erleichtert worden. Welche Schwierigkeiten haben diese Menschen auf dem Arbeitsmarkt? Zum einen natürlich die fehlenden Sprachkenntnisse. Dann haben viele der Leute zu Hause in Berufen gearbeitet, die war toll sind, die man hier aber nicht mehr braucht, etwa als Messerschleifer oder fahrende Landleute. Und zum dritten sind Rumänien und Bulgarien zwei Länder, aus denen viele Roma zu uns kommen – und diesem Personenkreis gegenüber haben Arbeitgeber sehr große Vorbehalte. Da gibt’s noch immer dieses Vorurteil: Wenn die Zigeuner kommen, dann müssen Sie die Wäsche in Sicherheit bringen.

Was passiert, wenn Menschen aus anderen EU-Ländern bei uns sind und keine Arbeit finden?

Erst einmal haben alle EU-Bürger sechs Monate Zeit, eine sozial­versicherungs­pflichtige Arbeit zu finden. Wenn ihnen das nicht gelingt, müssen sie eigentlich zurückgeschickt werden. Aber das habe ich ehrlich gesagt noch nicht erlebt. Die Grenzen sind ja auch offen, die Leute können hin- und herpendeln.

Haben die Menschen denn in dieser Zeit Anspruch auf staatliche Unterstützung?

Nein. Um Ansprüche zu erwerben nach dem Sozialgesetzbuch, muss man mindestens einen Tag versicherungs­pflichtig tätig gewesen sein. Dann bekommt man maximal ein halbes Jahr SGB-2-Leistungen, also Hartz IV. Eine weitere Hürde ist, dass man, um Hartz IV zu bekommen, ein Wohnung haben und einen Mietvertag vorweisen muss.

Aber eine Wohnung zu bekommen, wenn man keine Arbeit hat, ist schwer.

Ja, das ist ein Teufelskreis. Ich kenne einige Rumänen und Bulgaren, die dann bei Freunden und Bekannten unterkommen, mit mehreren Leuten in einer kleinen Zweizimmerwohnung zum Beispiel. Die kriegen dann irgendwann vom Vermieter die Räumungsklage, und dann war es das wieder. Selbst Roma, die sozial­versicherungs­pflichtig arbeiten, tun sich sehr schwer damit, eine Wohnung zu finden. Während es für Flüchtlinge zum Beispiel Wohnraum-Kontingente gibt und sogar manche Privatleute freiwillig Wohnungen anbieten, liegt die Chance für die Roma nahezu bei Null. So werden viele obdachlos.

Können die Menschen denn in Notunterkünften unterkommen?

Kurzfristig ja. Aber wenn sie keine Ansprüche auf Hartz IV erworben haben, weil sie noch nicht sozial­versicherungs­pflichtig gearbeitet haben, dürfen sie nicht länger in der Notunterkunft bleiben und müssen wieder auf die Straße. Ähnlich geht es diesen Menschen übrigens auch mit der Krankenversorgung.

Wie ist die geregelt?

Die Personen, die zu uns kommen, sind ja nicht über das Jobcenter kranken­versichert. Und das heißt meist: Die sind dann gar nicht kranken­versichert. Manche bringen zwar eine Reise­kranken­versicherung mit, die greift aber in den seltensten Fällen. Im Gesundheitsamt gibt es eine humanitäre Sprechstunde, da werden die Menschen teilweise erstversorgt. Und um Krankenhilfen zu erhalten, etwa einen Zahnersatz, muss man erst mal ein Jahr lang hier sein und Gelder vom Amt für Soziale Dienste beziehungs­weise vom Jobcenter bezogen haben – die man ja nur bekommt, wenn man schon mal sozial­versicherungs­pflichtig gearbeitet hat.

Was sind denn dann die Optionen dieser Menschen bei uns?

Manche finden Arbeit als Bauhelfer, andere als Putzkräfte. Oft nur für kurze Zeit. Einige machen sich auch selbstständig, etwa als Schrotthändler, die können dann aufstockende Leistungen nach dem sogenannten Hartz IV beantragen. Der Regelsatz bei Hartz IV liegt derzeit bei 404 Euro. Wenn also jemand durch die Selbstständigkeit Einnahmen von 300 Euro hat, werden nach Abzug eines Freibetrages in Höhe von 140 Euro die verbleibenden 160 Euro als Einkommen gegengerechnet, so dass er nur noch einen Anspruch auf ergänzende Leistungen von 244 Euro hat – und zusätzlich die Miete bezahlt bekommt.

Nicht wenige der Menschen kommen ja mit ihrer Familie. Haben sie denn Anspruch zum Beispiel auf Kindergeld?

Kindergeld bekommen die Menschen, wenn die Kinder hier sind und sie nachweisen können, dass die Kinder zu Hause auch Kindergeld­anspruch gehabt hätten. Leben die Kinder etwa in Rumänien bei den Großeltern, bekommen die Eltern, die hier arbeiten, nichts. Man muss auch bedenken: Alles, was die Leute zusätzlich bekommen, wird beim Jobcenter gegengerechnet. Das Kindergeld gilt dort nämlich als Einkommen. Damit wird man also nicht „reich“.

Sie erwähnten als eine große Hürde mangelnde Deutschkenntnisse. Gibt es denn Möglichkeiten, entsprechende Kurse zu besuchen?

Nein. Für diesen Personenkreis gibt es in Bremen derzeit keine Deutschkurse, es sei denn, sie sind in Arbeit und bekommen ergänzende Hilfen vom Jobcenter. Dann wird der Integrationskurs finanziert. Das war mal anders, aber derzeit hat Bremen einfach kein Geld für solche Kurse.

Die Hürden sind also sehr hoch.

Das kann man sagen. Die meisten laufen unter den Hürden durch. Viele, die ich kennengelernt habe, sammeln einfach Flaschen und leben von dem Pfand. Andere gehen schwarzarbeiten, wieder andere verkaufen zum Beispiel die Zeitschrift der Straße.

Wobei der Verkauf der Zeitschrift der Straße laut einem aktuellen Bescheid der Rentenversicherung nicht als sozial­versicherungs­pflichtiges Beschäftigungs­verhältnis gilt – und wegen der geringen Einkünfte auch nicht als selbstständige Tätigkeit funktioniert, sondern nur ein Zubrot sein kann.

In Bremen dürfen diese Menschen übrigens nicht einmal zur Bremer Tafel gehen. Denn wenn sie keine Leistungen vom Jobcenter beziehen, haben sie auch dort keinen Anspruch.

Sie erleben regelmäßig solche Schicksale. Wie ist das für Sie persönlich?

Die Roma sind ein Personenkreis, der mir leidtut.

Warum?

Weil wir hier in der Integrationsberatung zu wenig machen können. Natürlich gibt es auch immer wieder Fälle, bei denen ich mich ärgere. Weil sich manche der Roma auch schwer damit tun, sich an gewisse Regeln zu halten. Treffen klappen oft nicht, mangelnde Pünktlichkeit ist ein großes Thema. Andere lernen einfach die Sprache nicht, auch wenn sie es theoretisch könnten. Aber viele wollen sich gern integrieren. Sie bekommen nur von der Gesellschaft zu wenig Chancen hierzu – und werden ganz einfach ausgesiebt.

Wenn die Aussichten hier so schlecht sind: Warum bleiben die Leute hier?

Weil es ihnen da, wo sie herkommen, noch schlechter gehen würde. Als Roma werden sie in den Heimatländern diskriminiert und verfolgt.

Herr Buhrdorf, vielen Dank für das Gespräch.

 

Bernd Buhrdorf arbeitet bei der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bremen als Berater im Fachdienst für Migration und Integration.

Text: Tanja Krämer
Foto: Kimmo Räisänen/flickr.com

#37 OSTERFEUERBERG

EDITORIAL: ES TUT SICH WAS

Eingekeilt zwischen Autobahnzubringer und Bahngleisen ist das Osterfeuerberg-Viertel trotz seiner Nähe zum beliebten Stadtteil Findorff lange ein Underdog geblieben. Dabei war das Wohngebiet schon immer lebendig. In den Straßen begegnet man den unterschiedlichsten Menschen, viele Vorgärten der schmalen Altbremer Häuser sind – nun, man darf es wohl so ausdrücken – kreativ dekoriert. In Osterfeuerberg, so scheint es, darf man sein, wie man ist.

In den Seitenstraßen findet sich eine erstaunliche Dichte an kleinen Handwerkerläden und Eckkneipen. Eine davon ist der „Druide“. Hier sorgten Stammgäste dafür, dass der Betrieb nach dem Tod des Besitzers weiterghing – und ganz nebenbei der Blues nach Walle kam (Seite 13). Ungewöhnlich ist auch die Initiative des Bestattungsunternehmens Schomaker, das in Osterfeuerberg sein Büro hat. Es bietet Kabarettveranstaltungen zum Thema Tod an – und geht so auf Kundenakquise im Seniorenheim (Seite 8).

Seit einigen Jahren kommt im Stadtteil übrigens Bewegung auf: Der breite Osterfeuerbergring, der längst nicht mehr so viel befahren wird wie früher, soll zurückgebaut und begrünt werden. Neue Wohnungen sind in Planung und mit der Union-Brauerei hat ein großer Gastronomiebetrieb eröffnet. Gentrifizierung nennt man das anderswo. Neue Nutzungskonzepte bietet auch Gerald Höns, den wir in dieser Ausgabe portraitieren. Er kauft Weltkriegsbunker – und vermietet sie an Musiker, Rocker und Flüchtlingsinitiativen. Wie das mit seiner Arbeit als AfD-Politiker zusammenpasst, lesen Sie auf Seite 20.

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen
Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

 

Aus dem Inhalt

08    Akquise im Seniorenheim

Wie ein Bestattungsinstitut mit Humor um Kunden wirbt

12    Wie der Blues nach Walle kam

In einer Eckkneipe spielen Musiker aus aller Welt

14    Echt Walle

Fotostrecke

20    Geralds Welt

Walles AfD-Mann hat eine Leidenschaft: Er sammelt Bunker

25    Lummerland (online lesen)

Osterfeuerberg hat sich gemacht. Doch nicht alles läuft ideal

28    Es ist ein Teufelskreis

Bernd Buhrdorf, Migrationsberater der AWO, im Interview zu den Folgen der Freizügigkeit

 

Hintergrundfoto: Morten Wulff/flickr.com

LUMMERLAND

#37 OSTERFEUERBERG – Osterfeuerberg hat sich gewandelt. Doch nicht jede Veränderung gefällt den Bewohnern des Viertels

 

Eine Insel ohne Berge, ohne Strand
und ohne Meer,
mit viel Tunnels, vielen Straßen
und dem Eisenbahnverkehr …

So könnte es klingen, das Liebeslied der Bewohner:innen Osterfeuerbergs über ihr Lummerland. Das urbane Meeresrauschen kommt vom Autobahnzubringer Überseestadt und den Eisenbahngleisen nach Hamburg, Bremerhaven, Bremen-Nord. Jede Nacht bringt der Güterverkehr die Brandung in die Schlafzimmer der Menschen hier.

Für Nicht-Waller ist Osterfeuerberg noch immer der Underdog des Angesagtseins. Auch für viele Bremer Zugezogene hat sich der Charme des einstigen Nachtjackenviertels noch nicht erschlossen. Für sie schreibt das Stadtteilmagazin „Echt Walle“. Gleich in der ersten Ausgabe ist von „steigender Attraktivität für Familien“ die Rede. Beispiele hierfür: Das Kulturhaus Brodelpott, die Ganztagsschule am Pulverberg, die Kita Löwenzahn und darüber hinaus die Eröffnung der „Freien Brau Union Bremen“. Auch Jörg Tapking, Waller LINKEN-Fraktionssprecher, sieht besonders in der Brauerei und neueren, exklusiven Eigenheimen eine Aufwertung des Quartiers, die sich langfristig auswirken wird.

Was macht die Osterfeuerberger Zukunftswerkstatt so besonders für die Nachbarschaft?

Ähnlich empfinden es auch die Engagierten der Osterfeuerberger Zukunftswerkstatt. Die hat sich aktiv an der Gestaltung der Brauerei beteiligt. Den Initiatoren liegt ihr Viertel am Herzen. Jupp Heseding von Bündnis 90/Die Grünen, einer der gut fünftausend Einwohner Osterfeuerbergs, setzt sich sich seit der Geburtsstunde der Zukunftswerkstatt 2007 für seine kleine Insel ein. Er schätzt vor allem die Nachbarschaft: „Hier kann ich mein Haus auch in gemütlicher Kleidung verlassen. Und wenn ich nachts meinen Nachbarn im Morgenmantel treffe, dann stört das keinen.“

Erfolgreich bringt die Zukunftswerkstatt Anträge vor den Stadteilbeirat: Nach ersten Versuchen von 2007 wird nun, fast zehn Jahre später, der Osterfeuerberger Ring zurückgebaut. Die Straße, die jetzt noch an eine Autobahn erinnert und den Stadtteil entzweit, wird auf eine Spur für jede Richtung verkleinert. Die nun breiter werdenden Ränder werden mit Bäumen geschmückt und begrünt. Darüber hinaus sei der größte Erfolg der Zukunftswerkstatt die Bürgerbeteiligung im Ortsteil: Bis zu 150 Anwohner:innen haben sich bereits auf nur einer Veranstaltung versammelt.

Welche Folgen hat der Abriss der Obdachlosenunterkunft für die Nachbarschaft?

Doch ein Teil dieser Nachbarschaft ist jetzt bedroht. Wie der Weser-Kurier berichtete, möchte Deutschlands größtes Wohnungsunternehmen, Vonovia, die ehemals stadteigene Obdachlosenunterkunft in der Holsteiner Straße abreißen und an ihrer Stelle moderne Wohnungen bauen.

Jupp Heseding sagt dazu: „Um das Wohl der Bewohner geht es denen ganz bestimmt nicht.“ Ursprünglich seien viele über das Sozialamt an ihre Wohnungen gekommen, hätten im Lauf der Zeit aber herkömmliche Mietverträge erhalten.

Auch das Ortsamt West ist über die Pläne Vonovias nicht begeistert. Jörg Tapking befürchtet jedoch, dass das Wohnungsunternehmen auf derlei Skepsis keine Rücksicht nimmt. Wohin die Menschen können, wenn es so weit ist, weiß noch niemand. Vielleicht nimmt sich die Osterfeuerberger Zukunftswerkstatt dieser Sache an.

Eine Insel ohne Berge, ohne Strand
und ohne Meer,
mit viel Tunnels, vielen Straßen
und dem Eisenbahnverkehr …

Text:
Anne Tabeling
Foto:
Blutgretchen/Wikimedia Commons (CC BY-SA 3.0)

IM TURMZIMMER

#36 KORNSTRASSE – Die Zionsgemeinde gewährt Flüchtlingen Kirchenasyl und bewahrt sie vor der Abschiebung. Pastor Thomas Lieberum (Foto) erklärt, wie und warum das geht

 

Nehmen wir an, vor der Tür stehen eine Frau, ein Mann, zwei Kinder, die sagen: „Sie sind unsere letzte Hoffnung.“ Was tun Sie?

Eine Familie aus dem Kosovo stand genau so vor der Tür. Für eine Nacht können wir immer eine Matratze hinlegen und ein paar Lebensmittel kaufen. Dann versuchen wir, die Situation der Menschen zu klären. Die meisten sind tatsächlich von Abschiebung bedroht, vor allem in Erstaufnahmeländer wie Italien, Ungarn, Griechenland. Was nicht sinnvoll ist, weil sie dort niemanden kennen und schon länger in Deutschland leben. Daher helfen wir.

Wo bringen Sie die Menschen unter?

Wir haben Büros und ein Musikzimmer umfunktioniert. Unser Gemeindehaus hat zwei Küchen und – ein großes Glück! – sogar eine Dusche. Essen, das in unseren Kindergärten übrig bleibt, können sich die Leute aufwärmen und aus unserem Umsonstladen Kleidung und andere Dinge nehmen.

Können Sie den weiteren Ablauf am Beispiel der Familie aus dem Kosovo schildern?

Das Ehepaar hatte zwei Söhne, 14 und 24 Jahre alt. Die Familie hat eineinhalb Jahre bei uns gewohnt, zunächst im Turmzimmer, danach in zwei getrennten Räumen. Wir waren mit der Ausländerbehörde in Kontakt und haben mit einem Anwalt die rechtlichen Möglichkeiten geprüft. Der Vater – ein Bäcker – gehörte einer ethnischen Minderheit an. Seine Backstube war demoliert worden, die Söhne wurden in der Schule bedroht. Die Famillie war traumatisiert und deshalb in Behandlung. Dank der ärztlichen Atteste konnte man belegen, dass die Leute nicht reisefähig waren.

Sie sagen den Behörden also Bescheid, wenn sie jemanden aufnehmen?

Ja, aber nur, wenn es für die rechtliche Zukunft der Betroffenen hilfreich ist. Manchmal ist es besser, gewisse Fristen verstreichen zu lassen: Dann ist das Erstaufnahmeland nicht mehr verpflichtet, die Asylbewerber zurückzunehmen, und die deutschen Behörden werden zuständig. Die Menschen leben hier viele Monate, manchmal Jahre.

Gehen die Kinder zur Schule?

Das ist ganz wichtig. Der Junge aus dem Kosovo, der offiziell illegal in Bremen war, wurde von der Oberschule am Leibnizplatz abgewiesen. Aber als wir einen Gesetzestext vorlegten, wonach Bremer Schulen verpflichtet sind, jeden Jugendlichen zu beschulen, egal welchen Status er hat, wurde er doch aufgenommen. Die Familie ist mittlerweile legal hier und hat eine Wohnung. Der Vater backt regelmäßig Kuchen für unseren Seniorenkreis.

Ohne Hilfe wären die Menschen aufgeschmissen. Machen Sie das als Pastor allein?

Das würde ich gar nicht schaffen. Zu Beginn bin ich stark eingebunden, dann übernimmt ein freiwilliger Unterstützerkreis die Betreuung. Menschen, die sich rechtlich gut auskennen, aber auch lebenspraktische Dinge besorgen: einen Schrank, einen Computer, Internetanschluss. Zudem gibt es ein Spendenkonto, wo regelmäßig Geld eingeht: Dadurch haben die Menschen im Kirchenasyl wöchentlich etwa 50 Euro zur Verfügung.

Bewegen sich die Leute frei in der Stadt?

Ja, allerdings mit dem Risiko, abgeschoben zu werden, sollte die Polizei sie aufgreifen. Kirchenasyl hat zwar eine Tradition seit dem Mittelalter, aber es taucht in deutschen Gesetzbüchern nicht auf. Dennoch wird es meist akzeptiert. Selbst wenn bekannt ist, dass Menschen bei uns im Asyl sind, wird die Polizei hier nicht reingehen.

Was sie aber dürften.

Ja. Aber der öffentliche Aufschrei wäre groß.

Es ist also noch nie vorgekommen?

Doch, in den 1990er-Jahren. Mit sehr negativer Presseberichterstattung über die Polizei, als mein Vorgänger Günter Sanders das publik gemacht hat. Seither wird das Kirchenasyl respektiert.

Dennoch: Es wurden schon Pastoren mit Strafgeldern belegt.

Ja, aber meistens schützen einen die Landeskirchen und der Kirchenvorstand, der formal verantwortlich ist. Unser Vorstand trägt das mit. Das gibt uns Pastoren die Freiheit, schnell zu handeln, wenn wir glauben: Das ist für die Menschen gut. Denn als Pastor fühle ich mich Menschen in Not verpflichtet. Die Religion spielt dabei keine Rolle – die meisten, die wir aufnehmen, sind Moslems.

In einigen Bundesländern tolerieren die Behörden Kirchenasyl nur in Altarräumen.

Niedersachsen praktiziert das knallhart: Kirchenasyl gilt nur im Sakralgebäude. Als ich in Peine arbeitete, wurde in einer Nachbargemeinde eine Familie nachts um 11 aus dem Gemeindehaus geholt und abgeschoben. Da war nichts zu machen. Das wird hier zum Glück nicht so stark unterschieden.

Wo liegt Ihre Erfolgsquote?

Bei 100 Prozent. Alle, die im Kirchenasyl waren, bekamen eine Aufenthaltsgenehmigung. Das zeigt, wie sinnvoll die Sache ist. Aber man muss Geduld haben, und das ist zugleich das Schwierigste für die Menschen.

Wie viele haben Ihr Kirchenasyl durchlaufen?

Wir führen da nicht Buch, aber es wohnen ständig bis zu fünf Menschen hier. Wir freuen uns, wenn jemand das Haus verlassen und legal in Deutschland bleiben darf. Was aber immer ein schmerzlicher Abschied ist: Familien wohnen zwei Jahre lang hier – und auf einmal sind sie weg! Man gewöhnt sich so aneinander.

Text:
Philipp Jarke
Bild:
Sabrina Jenne

#36 KORNSTRASSE

EDITORIAL: LANGER MIKROKOSMOS

Wer denkt, der Buntentorsteinweg sei lang, der sollte sich die Kornstraße anschauen, die sich von der Südervorstadt bis zur Neuenlander Straße erstreckt: 2,7 Kilometer, drei Ortsteile, 648 Hausnummern. Wer bietet mehr?

Und das Schöne ist: Trotz ihrer immensen Länge hat die Kornstraße kleinstädtisches Flair, sie ist recht schmal, von Bäumen gesäumt und Heimat vieler Fachgeschäfte und Handwerksbetriebe. In diesem Kosmos hätten wir leicht Geschichten für drei Hefte aufschreiben können. Was natürlich nicht geht, daher haben wir uns auf den neustadtnahen Teil der Straße beschränkt. Aber wer weiß, vielleicht machen wir ja mal eine Ausgabe zur Kornstraße-Ost?

In diesem Heft lesen Sie, wie westafrikanische Migranten, die meist selbst wenig Geld haben, ihre Familien in der alten Heimat finanziell unterstützen. Diese moralische Pflicht setzt die westafrikanischen Bremer ganz schön unter Druck (S. 8). Der Friedhof Buntentor ist der älteste öffentliche Friedhof Bremens und ob seiner speziellen Lage zum Improvisieren gezwungen (S. 10). Zum Entspannen könnte man in der Kornstraße in ein Restaurant gehen, zum Konditor oder einem der vielen Friseursalons – eine Neustädterin geht dazu lieber in den Waschsalon und beobachtet die Menschen, die dort zusammenkommen (S. 12). Viele unterschiedliche Menschen haben sich zum Tauschring „Tauschwatt“ zusammengeschlossen – sie tauschen ihre Fertigkeiten und Arbeitszeit, ganz ohne Geld (S. 14). Das Isenbergheim hat eine bewegte Geschichte – heute ist es die letzte Heimat für Männer mit einem bewegten Leben (S. 22).

Viel Vergnügen beim Lesen wünschen
Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

 

Aus dem Inhalt

08   Alles geben

Westafrikaner schicken viel Geld in ihre alte Heimat. Sie tun es gern, doch der Druck ist groß

10   Klagemauer

Platzmangel auf dem Friedhof Buntentor

12   Mein wunderbarer Waschsalon

Andere machen Wellness. Sie schaut der Wäsche zu

14   Zeit gegen Zeit

Fotostrecke

20   Im Turmzimmer (online lesen)

Die Zionsgemeinde gewährt Flüchtlingen Kirchenasyl. Der Pastor erklärt, wie und warum das geht

22   Herrengedeck

Ein Berufspilot blickt auf seine Karriere zurück. Ein Gespräch

26   Heim mit Geschichte

Endstation Isenbergheim. Beginn eines letzten Kapitels

30   Ein Schnack mit … Radu

Hintergrundfoto: Stefan Bauckmeier/flickr.com

GEWONNEN!

Die Zeitschrift der Straße ist unter den Gewinnern der Google Impact Challenge 2016! Für ein Printmedium ist es eine besonderer Triumph, ausgerechnet im Wettbewerb des Internet-Riesen ausgezeichnet zu werden.

Im Sommer 2015 erhielten wir eine Anfrage einer Werbeagentur aus Hamburg. Sie wollte für einen nicht genannten Kunden Anzeigenwerbung in der Zeitschrift der Straße buchen. Wir bestanden jedoch darauf, den Kunden zu erfahren, da wir es uns vorbehalten, auch Anzeigenkunden abzulehnen. So erfuhren wir, dass es um Google ging, jenes Unternehmen, das mit seinen digitalen Werbeformaten weltweit Printmedien (wie auch uns) das Leben schwer macht. Und ausgerechnet dieser globale Internet-Riese wollte im Bremer Straßenmagazin eine Anzeige schalten?

Google Impact Challenge

Es stellte sich heraus, dass Google erstmals in Deutschland einen Wettbewerb für soziale Initiativen abhalten würde. In den USA, Indien, Brasilien, Großbritannien, Frankreich und Japan gab es diesen Wettbewerb bereits. Viele Millionen Dollar hatte Google in den letzten Jahren an gemeinnützige Organisationen überwiesen, die sich in solchen Wettbewerben durchgesetzt hatten.

Die Anzeigenwerbung für die Google Impact Challenge erschien im Oktober 2015 auf der Rückseite der Ausgabe #32 GETEVIERTEL. Zeitgleich veröffentlichte Google Details zu dem Wettbewerb, der ehrenamtliche und gemeinnützige Arbeit durch Weiterbildungen, Technologie und Geld unterstützen sollte. Gesucht wurden Projekte, die die Lebenssituation von Gemeinschaften verbessern oder die Arbeit von Organisationen unterstützen, indem sie bisher ungelöste Probleme mit digitalen Hilfsmitteln oder kreativen Ansätzen beheben.

Werbetafel am Berliner Hauptbahnhof (Quelle: Heimat Berlin)

Werbetafel am Berliner Hauptbahnhof (Quelle: Heimat Berlin)

Unsere Teilnahme

Davon fühlten auch wir uns ansgeprochen und schickten im September eine Bewerbung ein, die die Synergien in den Mittelpunkt stellte, die aus dem Zusammenwirken von Hochschulen und Zivilgesellschaft entstehen können. Denn genau darin besteht das innovative Geschäftsmodell der Zeitschrift der Straße: Leistungen, die Studierende in ihrem Studium erbringen sollen, werden in den Dienst der Gemeinschaft gestellt und schaffen einen sozialen Mehrwert, indem sie Projekte wie die Zeitschrift der Straße möglich machen.

Nach einer ersten Auswahlrunde, für die 2200 Bewerbungen eingegangen waren und die wir erfolgreich überstanden, wurden wir eingeladen, im Oktober eine sehr viel detailliertere zweite Bewerbung vorzulegen. Das taten wir und erfuhren Anfang 2016, dass uns die Jury zu Finalisten erklärt hatte.

Wir wussten, dass es im Finale darum gehen würde, in der Öffentlichkeit möglichst viel Unterstützung für das eigene Projekt zu mobilisieren und Votes auf einer speziellen Google-Website zu sammeln.

Voting-Seite mit Zeitachse der Google Impact Challenge

Voting-Seite mit Zeitachse der Google Impact Challenge (Quelle: Google)

Public Voting

Niemand von uns hatte zuvor Erfahrung mit einem solchen „Public Voting“ gesammelt, aber uns war klar, dass wir alle unsere Kanäle nutzen und alle unsere Netzwerke aktivieren mussten, um eine Chance zu haben. Die Zeitschrift allein würde nicht reichen. Deshalb hatten wir schon ab Oktober 2015 unsere Aktivitäten bei Facebook intensiviert, einen Twitter-Kanal eingerichtet und auch häufiger Neuigkeiten auf unserer Website gepostet.

Nachdem wir von unserer Finalteilnahme erfahren hatten, blieb uns gerade noch Zeit, auf die Rückseite unserer Februar-Ausgabe #35 AM SCHWARZEN MEER einen Aufruf an alle unsere Leserinnen und Leser zu platzieren, unsere Website zu besuchen und über einen dort angegebenen Link für uns zu stimmen.

Die Umstände meinten es gut mit uns. In den Februar fiel nicht nur das Finale der Google Impact Challenge, sondern auch das fünfjährige Jubiläum der Zeitschrift der Straße, verbunden mit einer Jubiläumsfeier, einer Pressekonferenz, viel zusätzlicher Öffentlichkeitsarbeit und einem besonders motivierten Team von StraßenverkäuferInnen. Der Verkauf lief so gut wie nie zuvor, und schon nach einer Woche mussten wir die Ausgabe nachdrucken. Bis zum Ende des Google-Finales waren knapp 10.000 Hefte mit unserem Aufruf zum Voten verkauft worden – Rekord!

Wir warben nicht nur bei unseren LeserInnen um Stimmen, sondern auch bei anderen Straßenzeitungen weltweit, mit denen wir über das International Network of Street Papers (INSP) verbunden sind; über den Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der seit 2014 die Zeitschrift der Straße über die Hochschule Bremerhaven fördert; über unsere gut 1000 Followers auf Facebook; und über unsere persönlichen Netzwerke in alle Richtungen.

Die Entscheidung

Google ließ sich zu keinem Zeitpunkt in die Karten schauen. Wir hatten keine Ahnung, wie gut wir im Vergleich zu unseren Mitfinalisten dastanden, als das Finale am 24. Februar zuende ging. Und so reisten VertreterInnen von über 200 Projekten auf gut Glück zur Preisverleihung, die bereits am 25. Februar in Berlin stattfand. Die Zeitschrift der Straße wurde vertreten von ihrem Initiator und Leiter Michael Vogel.

Die Reise lohnte sich, denn das Bremer Straßenmagazin war tatsächlich unter den 101 Gewinnern des Wettbewerbs und wird nun von Google in der Kategorie „lokale Projekte“ mit 10.000 Euro gefördert! Einen Teil des Geldes wollen wir in unsere Öffentlichkeitsarbeit und Spendenwerbung stecken, um künftig die wirtschaftliche Abhängigkeit der Zeitschrift der Straße von den schwankenden Verkaufszahlen zu verringern.

Unter den 210 Finalisten sind noch viele weitere inspirierende Projekte, auf die sich ein genauer Blick unbedingt lohnt. Hier noch ein kurzes Video von der Preisverleihung. Die Zeitschrift der Straße ist in Minute 0:29 kurz zu sehen :-)

https://www.youtube.com/watch?v=cJCTyGOMRA0

Quelle: Google

Abschließend bedanken wir uns sehr herzlich bei allen unseren Unterstützerinnen und Unterstützern, die uns mit ihren Votes durch das Finale zum Erfolg getragen haben.

Text, Titelbild & Fotogalerie: Michael Vogel

SCHON GEVOTET? GOOGLE CHALLENGE ENDET BALD

Seit dem 8. Februar läuft das Finale der Google Impact Challenge 2016 – mit der Zeitschrift der Straße als einer von 210 Finalisten. In den beiden vorangegangenen Auswahlrunden sind 2000 der anfänglich 2200 Teilnehmer des Wettbewerbs ausgeschieden. Jetzt geht es nochmal um die Wurst, denn schon am 24. Februar endet die Finalrunde, und am 25. Februar werden in Berlin 105 Finalisten ausgezeichnet, darunter hoffentlich auch wir.

In den letzten zwei Wochen haben wir gepostet, geteilt und getwittert, was das Zeug hält, zumindest für unsere Verhältnisse. Denn eigentlich ist die Zeitschrift der Straße ja „old school“: ein Print-Magazin. Damit in das Finale eines Google-Wettbwerbs zu kommen, das hat schon fast etwas Subversives. Jetzt wollen wir aber auch einen Platz unter den Gewinnern.

Unterstützen Sie uns. Voten Sie für uns. Teilen Sie unsere Beiträge. Laden Sie Ihre Freunde zum Voten für uns ein. Geben Sie nochmal alles, dann wird das was. Herzlichen Dank!

PS: Kennen Sie die drei Herren oben im Bild? Sie haben Auftritte in unserem Videoclip und verkaufen die Zeitschrift der Straße, zusammen mit ca. 60 weiteren Menschen in schwierigen sozialen Lebenslagen. Helfen Sie ihnen, indem Sie in der Google Impact Challenge für uns stimmen.

Finale der Google Impact Challenge (8.-24. Februar 2016):
Stimmen Sie hier für die ZEITSCHRIFT DER STRASSE!

VERKÄUFER:INNEN IM RAMPENLICHT –
RENE MOCELLIN VON SURPRISE, SCHWEIZ

SURPRISE / Schweiz: Als René Mocellin, 64, nach jahrelanger Schreibarbeit seine Autobiografie beendet hatte, wurde ihm langweilig. Seit bald einem Jahr verkauft er deshalb Surprise am Bahnhof Basel SBB.

„Ich muss zugeben, dass ich anfangs Hemmungen hatte, das Strassenmagazin zu verkaufen. Ich befürchtete, dass man mich als randständig wahrnehmen würde, und dieses Image will ich auf keinen Fall. Dann sagte ich mir: Ich mach das einfach auf meine Art. Ich sehe nicht verwahrlost aus, und meine Ausrüstung mit dem Bildschirm und den anderen Extras erweckt auch nicht den Anschein.

Jetzt bin ich fast ein Jahr bei Surprise dabei, seit März 2015. Ich verkaufe fast jeden Tag von zehn Uhr morgens bis in den Abend hinein am Haupteingang des Basler SBB-Bahnhofs. Und ich muss sagen: Mir gefällt die Aufgabe. Ich bekomme nette Rückmeldungen von den Leuten, meine Elektronik gefällt ihnen. Ich habe immer Leuchttafeln dabei, die ich selber installiere. In der Adventszeit nahm ich einen kleinen leuchtenden Tannenbaum mit, das kam besonders gut an. Einmal ging eine jüdisch-orthodoxe Familie an mir vorbei, und die Kinder machten ganz grosse Augen, als sie den Baum sahen. Da sagte ich laut: ‚Chanukka!‘, und alle mussten lachen.

Meine Autobiografie – Ein Einblick in den Schreibprozess

Mit Details zu meiner Lebensgeschichte möchte ich mich derzeit eher zurückhalten. Nicht, weil ich etwas zu verstecken hätte, im Gegenteil: Ich stehe kurz vor dem Abschluss der Arbeit an meiner Autobiografie. Ich hoffe, dass ich in den kommenden Monaten einen Verlag dafür finde und das Ganze als Buch veröffentlichen kann. Bis dahin möchte ich natürlich nicht schon alles verraten. Geschrieben habe ich das Buch über die letzten Jahre hinweg. Derzeit bin ich vor allem damit beschäftigt, den Text zu überarbeiten. Dazu habe ich meine eigene Methode: Ich spreche die Geschichte auf Band, alles an einem Stück. Für die 360 Seiten brauche ich rund zwölf Stunden. Früher habe ich dazu noch ein Revox G36-Tonbandgerät verwendet, mittlerweile mache ich es mit Aufnahmegerät mit Chipspeicherkarte.

Nach der Aufnahme höre ich sie mir an und mache stilistische Verbesserungen. Dieses Prozedere habe ich jetzt schon zehn bis 15 Mal gemacht, mittlerweile kann ich ganze Passagen auswendig. Es ist eine sehr intensive Konfrontation mit meinem eigenen Leben. Manchmal macht es mich auch traurig. In einer Szene beschreibe ich, wie ich mit meiner mittlerweile verstorbenen Mutter im Quartierrestaurant etwas Kleines essen gehe. Ich erinnere mich noch genau, wie ich zum Wurlitzer ging und ein paar alte Schlager wählte. Und auf Wunsch meiner Mutter ‚Lara’s Lied‘, die Titelmelodie von Dr. Schiwago. Ich sehe, wie sie mir gegenüber am Tisch sitzt und höre innerlich das Lied. Die Situation wird wieder lebendig, und das macht mich sentimental.

Hoffnung auf eine bessere Zukunft

Als das Buch zum grössten Teil fertig geschrieben war, hatte ich als IV-Rentner plötzlich viel freie Zeit. Und mir wurde, ehrlich gesagt, etwas langweilig. Ich dachte mir: Du musst etwas tun, damit du unter die Leute kommst. Am Claraplatz hatte ich schon ab und zu Surprise-Verkäufer gesehen. Und so bin ich dann zum Strassenmagazin gekommen. Es setzt mir zu, wenn ich von frühmorgens bis am Abend draussen stehe, das fällt mir schwer. Zudem muss ich, wenn ich einigermassen gut verkaufe, zwei Drittel meines Verdienstes abgeben, so sind die Regeln der IV.

Aber es ist die Mühe allemal wert. Ich habe sozialen Kontakt und kann am Ende trotz allem ein klein wenig Geld auf die Seite legen. Wenn ich mir Mühe gebe und zum Beispiel konsequent in Deutschland einkaufe, dann komme ich alles in allem gut durch. Für grosse Sprünge reicht es natürlich nicht, Ausflüge liegen nicht drin. Ich würde gerne mal verreisen, nach Köln, Amsterdam oder Berlin. Ich hoffe, dass das mit den Einnahmen aus meiner Biografie dann geht.

Meine Erfahrungen mit Straßenverkäufen in den Siebzigern

Ich habe übrigens Anfang der Siebzigerjahre schon einmal etwas Ähnliches gemacht wie Surprise: Nach der Scheidung meiner Eltern steckte mich die Vormundschaftsbehörde 1962 für sechs Jahre ins Erziehungsheim. Als ich da endlich rauskam, ging ich ins Elsass. Dort schlug ich mich erst als Küchenhilfe durch, schrubbte Pfannen und Geschirr. Ein grosser Teil des Lohns ging für das schäbige Zimmer drauf, das mir der Besitzer vermietete. Also suchte ich etwas anderes und landete bei einem Magazin, das zugunsten behinderter Kinder verkauft wurde. Wir fuhren zu viert mit dem Auto durch die Dörfer und verkauften die Hefte. Die Hälfte des Verkaufspreises durften wir behalten, wie bei Surprise. Das war sehr unterhaltsam. Und es ist immer wieder erstaunlich, wie sich im Leben Kreise schliessen.“

Text und Bild: mit freundlicher Genehmigung von INSP.ngo / Surprise