#71 HOCHSCHULRING – WissenschaftlerInnen in Bremen entwickeln eine intelligente Wohnung. Sie soll alten oder kranken Menschen das Leben erleichtern. Doch die Technik holt die Forscher ein
Es ist die Pforte zu einer anderen Welt. Vom Flur aus reiht sich Büro an Büro. Aber geht man durch diese eine Tür, steht man auf einmal in einer hellen, gemütlichen Wohnung. Ein Kinderfoto an einer viel zu großen Pinnwand, ein paar Landschaftsbilder. Ein hübscher Wandteppich. Unverderbliche Nudeln und Müsli dekorieren die Küche. Das Bücherregal ist voll mit solchen Büchern, die man nur braucht, um Regale zu füllen. Gesetzbücher, wuchtige Lexika, ein Kochbuch. In dieser Wohnung lebt niemand. Doch das ist gar nicht das Besondere an ihr.
Diese Wohnung ist eigentlich ein Labor, genauer: das Bremen Ambient Assisted Living Lab (BAALL). Hier werden Technologien getestet, die Menschen helfen sollen, ihren Alltag zu bewältigen – besonders wenn sie krank oder durch das Alter eingeschränkt sind. Wenn funktioniert, was hier entwickelt wird, betreten wir vielleicht gerade das Zuhause der Zukunft.
Auf dem Nachttisch liegen Plättchen, die auf den ersten Blick wie Visitenkarten aussehen. Darauf sind gut erkennbar die Logos der bekanntesten deutschen Fernsehsender abgebildet. „Fernbedienungen
sind mit ihren kleinen Tasten gerade für ältere Menschen oft schwierig zu bedienen“, sagt Forschungsleiter Serge Autexier. Er schiebt die ARD-Karte auf die linke Ecke des Nachttisches. Der große Bildschirm gegenüber vom Bett erwacht zum Leben. Es läuft ARD.
Was lustig wirken mag, könnte für einige Menschen einen echten Unterschied machen, glaubt Roland Arndt. Er leitet das Haus O’land, ein Wohnheim für Menschen mit Demenz.
„Es kostet die Pflegekräfte Zeit, wenn ein Anwohner eine bestimmte Sendung sehen will und erst mal jemand kommen muss, um die herauszusuchen und einzuschalten“, sagt er. „Wenn eine Anwendung so einfach wäre, dass die Anwohner das allein schaffen, dann wäre das schon eine Entlastung. Und das Pflegepersonal hätte mehr Zeit, sich um andere Dinge zu kümmern.“
Plötzlich bewegt sich das Waschbecken. Im Spiegel ist eine Kamera eingebettet, die Gesichter erkennt und das Waschbecken auf die Größe der NutzerIn anpasst. Toilette und Küchenschränke sind ebenfalls beweglich. „Für so was gibt es durchaus Bedarf“, sagt Lisa Schumski, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Public Health
und Pflegeforschung an der Uni Bremen: „Besonders in Pflegeheimen, in denen viele verschiedene Menschen in kurzen Abständen die Einrichtung
nutzen.“
Eine Lampe geht an, eine Tür zu, das Bett verstellt sich. All das bewirkt Serge Autexier mit einem kleinen Tablet. Darauf ist eine simple Darstellung der Wohnung mit verschiedenen Schaltflächen zu sehen. Das ist natürlich noch nicht alles. „Guten Tag, BAALL.“ Beim zweiten Versuch funktioniert es. „Mach die Schlafzimmertür zu.“ Eine Schiebetür, die vorher kaum sichtbar war, schält sich geräuschlos aus der Wand: Autexier hat eine Sprachsteuerung für die Wohnung aktiviert. Irgendwann soll diese auch durch Gesten gesteuert werden können. Mit dem Finger auf eine Lampe zu zeigen, könnte sie dann einschalten.
Dann führt Autexier den Kleiderschrank vor. Auf einem Bildschirm erscheint ein Outfit – ein Ankleidungsvorschlag des Schrankes. In der Kleidung sind Computerchips verarbeitet. Der Kleiderschrank kann Hemden und Hosen dadurch zuordnen, außerdem weiß er über den Wetterbericht und den Terminplan der BewohnerInnen Bescheid – und kann so entsprechende Empfehlungen machen. Lisa Schumski hält das für „eine kleine IT-Spielerei“. Sie sagt: „Für die Pflege ist das eher nicht geeignet.“
Roland Arndt dagegen schließt einen Nutzen nicht ganz aus. „Ist ein Mensch erst einmal in einer betreuten Einrichtung, stelle ich mir die Praxis schwierig vor“, sagt er „Aber in der Anfangsphase einer Demenz könnte das zu Hause schon helfen.“ Am Anfang der Krankheit wollten demente Menschen häufig nicht zugeben, dass sie Schwierigkeiten hätten, so Arndt. „Der Kleiderschrank könnte ihnen vielleicht ersparen, nachmittags im Schlafanzug erwischt zu werden.“
Voraussetzung wäre natürlich, dass sie mit dem Schrank auch umgehen können. Die Systeme im BAALL sind für die einfache Nutzung entwickelt, aber es ist trotzdem schwer, Menschen mit Demenz an neue Technik zu gewöhnen. Autexier hofft, dass man früher ansetzen kann.
„Es geht nicht nur darum, Beeinträchtigungen zu kompensieren, sondern auch darum, zu schauen, wie kann man in Richtung Prävention arbeiten und verhindern, dass überhaupt Beeinträchtigungen entstehen.“ Wenn man also bereits als gesunde Person den Kleiderschrank nutze, sei es leichter, ihn auch später noch zu verwenden, wenn man tatsächlich Schwierigkeiten damit habe, zu entscheiden, was man anziehen solle.
Im Wohnzimmer thront ein wuchtiger Rollstuhl. Er manövriert mithilfe von Laserscannern um alle Hindernisse herum und fährt auf Sprachbefehl durch die Wohnung. An einem Türrahmen ist ein Kratzer, seit ein Besucher dachte, er könne ohne die Automatik besser fahren. Ganz autonom ist das Gefährt noch nicht. Zwar umfährt es selbst kleine Hindernisse zuverlässig, doch zwischen Rad- und Fußweg oder Ampelphasen kann es bisher nicht unterscheiden.
„Der Bedarf ist definitiv da“, meint Lisa Schumski. „Aber es gibt große Hürden in der Umsetzung. Damit die Krankenkasse so etwas übernimmt, muss man einen deutlichen Nachweis der Notwendigkeit erbringen.“ In anderen Worten: Es muss eine Beeinträchtigung vorliegen, die eine Teilnahme am allgemeinen Leben ohne genau diesen Rollstuhl verhindert.
Zwar gibt es Menschen, für die ein intelligenter Rollstuhl sinnvoll wäre – etwa weil sie plötzlich die Körperkontrolle oder das Bewusstsein verlieren. Doch das Gefährt für solche Zwecke auch noch mit einem Navigationssystem auszurüsten, könnte es durch die entsprechenden Kosten aus dem Leistungskatalog der Krankenversicherung herauskatapultieren.
Die Geldfrage präsentiert sich natürlich nicht nur für den Rollstuhl. Wie teuer wird die bewegliche Toilette sein? Oder der intelligente Kleiderschrank? Erfindungen sind in der Entwicklung erst einmal teuer, meint Autexier. Ob die Projekte am Ende bezahlbar sind, sei letztlich eine Frage der Herstellungskosten.
Das BAALL gibt es nun seit zehn Jahren. Mehrere Projekte sind fortgeschritten, doch keines ist bisher auf dem Markt. Seit seiner Geburt hat die Technik das BAALL eingeholt. Sprachassistenten etwa gibt es inzwischen in vielen Wohnzimmern. Sie heißen Siri oder Alexa und können mit entsprechender Zusatztechnik nicht nur die Wohnung steuern, sondern auch Musik abspielen oder das Radio starten. Autexier hält von diesen virtuellen Assistenten allerdings wenig „Wenn ich aus der Forschung heraus Lösungen entwickeln will, die ethisch, rechtlich und sozial sauber
sind, für besonders schutzbedürftige Zielgruppen, dann kann ich denen nicht einfach Alexa hinstellen“, sagt er. „Dann habe ich das Thema Datenschutz ignoriert.“
Solche nach außen verbundenen Systeme könnten prinzipiell immer gehackt werden. Darüber hinaus werden ihre Aufzeichnungen natürlich auch von den Herstellern ausgewertet. Und bald vielleicht auch von deutschen Geheimdiensten zur Aufklärung von Kriminalfällen, sollte ein aktueller Gesetzesentwurf durchkommen.
„Die Anbieter von Systemen wie Alexa haben auch gar nicht den Auftrag, ein rechtlich und ethisch sozialverträgliches System zu entwickeln. Die müssen nur ein Produkt an den Markt bringen, das die Leute kaufen und verwenden“, sagt Autexier. Wenn es um Menschen mit besonderem Schutzbedürfnis gehe, seien die Anforderungen zu Recht besonders hoch – auch wenn im Alltag die meisten Leute freiwillig auf ihre Privatsphäre verzichteten, etwa wenn sie in sozialen Netzwerken aktiv seien.
Während Produkte wie Alexa immer populärer werden, gehen die Fortschritte im Bereich Assisted Living schleppender voran. Der selbst manövrierende elektrische Rollstuhl etwa muss erst einmal die bürokratischen Hürden des deutschen Gesundheitssystems umfahren. Doch langsam, aber sicher ist das sogenannte „Smart Home“ auf dem Vormarsch. Entsprechende Anwendungen werden auch in der Pflege kommen. Vielleicht ja solche, die im BAALL entwickelt werden.
Text: Norbert Schmacke
Fotos: Paul Petsche