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DER LETZTE MACHT DAS LICHT AUS

#104 LEERSTAND – Völlig klar: Jede Ausgabe der Zeitschrift der Straße ist eine besondere Ausgabe. Und trotzdem haben wir mit der #104 etwas besonderes versucht – auch für unsere Verhält­nisse. Wir haben uns mit dem „Leerstand“ beschäftigt: einem Phä­nomen, über das zur Zeit viel gesprochen, geklagt und gegrübelt wird. Die meist fotografischen Beiträge in unserem Heft sind dabei ganz unter­schied­lichsten Leerständen gewidmet: Wohnungen, Schu­len, Fabriken und Büros. Auf eine zunächst eher ungewöhlich wirkende Variante wollen wir hier einen zweiten Blick werfen. Auf Kirchen nämlich, von denen nicht nur im übertragenden Sinne immer mehr leer stehen.

Leere Kirche in Bremen Rönnebeck

Dabei ist der Mitgliederschwund christlicher Kirchen gar kein Geheim­nis. Die regelmäßig veröffentlichten Austrittszahlen steigen Jahr für Jahr. Das illustriert einen Bedeutungswandel der Institution Kirche für die Gesellschaft – schlägt sich zunehmend aber auch in der Nutzung kirch­licher Immobilien nieder. Seit dem Jahr 2000 wurden in Deutsch­land bereits mehr als 500 katholische Kirchen offiziell entweiht und teils umgenutzt. Eine davon steht in Rönnebeck, im Bremer Nor­den. Sie wurde 1930 eingeweiht und 2019 wieder geschlossen – vom Weih­bischof dem „profanen Gebrauch zurückgegeben“, wie es heißt. Künftig soll hier eine Kita entstehen, sobald die Baugenehmigung erteilt ist.

„Kita St. Nicolai“

Der zugehörige Gemeindesaal wird bereits seit 2017 als „Kita St. Nicolai“ in diesem Sinne von den ganz Kleinen genutzt. Hier sehen wir deren stellvertretende Leiterin Christin Timmermann. In den Niederlanden, wo es keine Kirchensteuer gibt, ist dieser Prozess bereits sehr viel weiter fortgeschritten. In Maastricht beherbergt eine Kirche etwa die meist­besuchte Buchhandlung des Landes. Auch Fitness­studios, Supermärkte, Hotels und Turnhallen sind dort in ehemalige Glaubens­häuser gezogen.

Christin Timmermann, stellvertretende Leiterin der „Kita St. Nicolai“

Doch auch wenn das liturgische Prozedere zur „Entweihung“ zunächst eine katho­lische Angelegenheit ist, betrifft die Sache selbst die evange­lische Kirche nicht weniger. Hier sehen wir die 2008 profanierte Kirche Matthias Claudius in der Neu­stadt. In das Kirchenschiff wurde eine Zwischen­decke eingezogen. Auch hier wer­den die freigewordenen Räume inzwischen als Kita genutzt. Der Altar der ehema­ligen Kirche steht heute an der frischen Luft, gleich vor dem Gebäude, in dem auch ein Café Platz gefunden hat, das längst zu einem beliebten Treff­punkt in der Neustadt geworden ist. Hier sind auch die ehemaligen Kirchen­fenster zu bewun­dern.

Ehemalige Kirche Matthias Claudius in der Neustadt

Wie diese Veranstaltung im Frauencafé beweist, können kirchliche Räume also auch ohne Gottesdienste Gemeinschaft stiften. Ganz selbst­ver­ständlich übrigens auch nicht nur unter Christen. In der ehe­maligen Kirche in der Neustadt sind auch zahlreiche Muslima gern­gesehene Gäste.

Frauencafé in der ehemaligen Kirche Matthias Claudius

In der Vahr wiederum hat man die Nutzung der 1964 erbauten Heilig-Geist-Kirche bereits erweitert, obwohl sie gar nicht profaniert ist. Für Gottes­dienste werden Stuhlreihen aufgestellt, ansonsten dienen die Räumlichkeiten als Sozial­kaufhaus, Nähstube, Repair-Café oder Unter­richts­raum zur Nachhilfe und füllen die Kirche so auch unter der Woche mit Leben. Bis nach Ghana reichen die Kontakte aus der Vahr, wo man verschiedene Projekte mit Spenden unterstützt.

Sozialkaufhaus in der Heilig-Geist-Kirche in Bremen Vahr

Seele und Motor dieses „Marktplatzes der Begegnungen“ ist Sozial­ar­bei­ter Chris­toph Buße. Auch hier zählen zahlreiche Menschen musli­mi­schen Glaubens zu den Unterstützenden. Der aus Syrien stam­mende Abd El Karem Hasan etwa betreut das Repair-Café. Menschen bringen kaputte Nähmaschinen, Stereoanlagen und so weiter – damit sie repa­riert werden, statt auf dem Müll zu landen. Das spart Geld und ist gut für die Umwelt.

Christoph Buße (links), Abd El Karem Hasan (rechts)

Aktivität und Engagement lassen sich also nicht an den Besuchszahlen von Gottes­diensten ablesen – und auch nicht an den Austritten. Die eigentliche Frage ist ohnehin eine ganz andere: Schaffen es die Akteure in den Gemeinden, dem echten und metaphorischen Leerstand ihrer Kirchen etwas Neues entgegen­zusetzen. In Bremen jedenfalls zeigen mindestens diese drei Adressen, dass es möglich ist – mit ein bisschen Kreativität, Mut und Engagement.

Fotos, Recherche und Text: Norbert Schmacke