Leseprobe

Die Letzten ihrer Art

#72 MAHNDORFER HEERSTRASSE – Kaugummiautomaten sind in Vergessenheit geraten. In Mahndorf stehen noch einige. Doch das Geschäft ist nicht mehr das, was es mal war

Klebrige Finger tasten in der Hosentasche nach dem ersten Taschengeld. Dann die Qual der Wahl. Drei kleine Schaufenster bieten Ausblick auf bezahlbare Kostbarkeiten. Gummi-Aliens in Plastiktüten für 50 Cent. Plastikringe für 30 Cent. Und da ist es. Ein Fach, vollgestopft mit buntem, überzuckerten Genuss. 20 Cent. Die Münze, dieser kleine Reichtum, verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Ein ungutes Gefühl kommt auf. Funktioniert das auch? Die Finger zittern leicht, als sie den Drehknauf betätigen. Klack. Das Bällebad hinter der Scheibe gerät in Bewegung. Ein Kaugummi purzelt heraus. Der Geschmack vergeht schnell. Doch die Erfahrung bleibt. Ganz ohne Hilfe haben wir von unserem eigenen Geld etwas erstanden. Wir haben unseren ersten Kauf gemeistert, den ersten vorsichtigen Tritt in die Pedale der Marktwirtschaft.

„Zunächst machte Adolf den Krieg. Dann kamen die US-Panzer mit Schokolade und Kaugummi. Und als die Panzer weg waren, waren die Automaten da. Das war in den 50ern.“ So fasst Paul Brühl, Geschäftsführer vom Verband der Automaten-Fachaufsteller (VAFA), die Ursprungsgeschichte zusammen. Seitdem sind die besten Zeiten gekommen und gegangen.

Was bleibt, ist ein rot-weißer Metallkasten an der Mahndorfer Heerstraße. Er hat sich gut gehalten für sein Alter. Nur der Lack ist ein wenig abgeblättert. Doch sein Inhalt purzelt noch mit jugendlicher Energie heraus. Ein Aufkleber verrät seinen Besitzer. Der bestätigt am Telefon, dass er noch alle sechs Monate frisch befüllt. Doch eigentlich würde er den Kasten gern verkaufen. Vom Automatengeschäft könne er schon lange nicht mehr leben.

Es fehlen die Sticker und Kritzeleien, die dem Mahndorfer Kasten Ruhm im Internet einbringen könnten. Denn auf Plattformen wie Instagram feiern die Automaten eine Renaissance. Sie erscheinen in Bildern mit den Beschriftungen #Retro, #Kindheit und #Nostalgie. „Dachte, die wären schon lange ausgestorben“, schreibt ein User. Viele sind überrascht, dass es die Geräte noch gibt. Einsam ist der Automat in Mahndorf nicht. Einige Geschwister säumen die Heerstraße und ihre Seitenstraßen. Eine kleine privilegierte Gruppe besiedelt sogar den schattigen und sicheren Eingangsbereich des Edekas an der Mahndorfer Heerstraße. Doch nicht jeder Automat hat es so gut getroffen. Auf der anderen Straßenseite rostet ein Kasten vor sich hin. Statt farbenfrohem Made- in-China-Spielzeug glotzt ein schwarzer Hohlraum heraus. Eine beeindruckende Spinne hat das Gehäuse zu ihrem Zuhause gemacht. Der Automat hatte nur Platz für zwei verschiedene Produkte. Vielleicht wurde er deswegen aufgegeben – nicht konkurrenzfähig.

Mahndorf ist natürlich nicht das letzte Reservat der überlebenden Kaugummiautomaten. Tatsächlich schätzt der VAFA die verbleibenden Exemplare auf etwa 400.000 bis 600.000 in ganz Deutschland. Doch das Geschäft ist nicht leicht. Kinder verbrächten weniger Zeit draußen als früher, sagt ein Betreiber. Manche machen Smartphones und Videospiele verantwortlich. Brühl glaubt, es liege auch an der Ganztagsbetreuung in Kitas und Ganztagsschulen, dass die Kinder nicht mehr so viel raus kommen. Auch der Vandalismus sei ein Problem.

Kinder versuchten, Automaten mit Stöcken und Steinchen auszutricksen und blockierten sie damit. Auf Youtube findet man Anleitungen zum Manipulieren der Münzschlitze. Er kennt einen Betreiber, dem an einem Wochenende 20 Automaten abgerissen wurden. Man fand sie im Wald. Mit Kaugummis, aber ohne Geld.

Lohnen kann sich der Diebstahl nicht besonders, denn einzelne Automaten bringen nicht viel ein. Um vom Geschäft leben zu können, brauche man mindestens 1.000 bis 2.000 Automaten, so Brühl. Diese müssen alle regelmäßig ausgetauscht und gereinigt werden. Je nach Lage sei das eine regelrechte Odyssee. „Die Aufsteller werden in ihrem Job schon ordentlich gefordert.“

Aber die Automatenbranche gibt sich nicht geschlagen. Kuriositäten und kreative Ideen bringen Hoffnung. Man hört von Kunst-Automaten und Palmen-Automaten. Sogar einen Witze-Automaten soll es geben, aus dem man kleine Zettelchen mit erheiternden Sprüchen ziehen kann. Wirtschaftlich gesehen sind das vielleicht keine Erfolgskonzepte, aber sie zeigen die Liebe und Faszination, mit der Menschen dieser betagten Erfindung begegnen. Paul Brühl ist zuversichtlich: „Die Automaten müssen neu sein, neu aussehen, sie brauchen ein neues Image“, sagt er. Auch er hat schon Vorstellungen vom Kaugummiautomaten der Zukunft. Einen Touchscreen könnte der haben und eine Geschichte solle er erzählen. Vielleicht mit Solarstrom betrieben.

Bis diese Revolution kommt, wird aber bestimmt noch die ein oder andere Münze in unserem Mahndorfer Automaten landen.

Text: Paul Petsche
Foto: Ann-Kathrin Just