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EINE GANZ ENTZÜCKENDE STRASSE

#84 DAS BESTE AUS 10 JAHREN – Über 80 Jahre spielte sich Wilma Schneiders Leben in der Baumstraße ab. Sie musste mit ansehen, wie aus dem einstigen „Schwachhausen des Westens“ ein graues Gewerbegebiet wurde. Ein Spaziergang durch die Vergangenheit.

„Wie schön das früher war.“ Die Augen funkeln, die Mundwinkel gehen in die Breite; ein zweites Grinsen dieser Art wäre schwer zu finden. Wilma Schneider redet von der Baumstraße. Obwohl sie vor über zwei Jahren ins Viertel zog, nennt sie diesen Ort noch immer ihre Heimat. Eigentlich schwer vorstellbar, dass jemand dieses Wort mit dieser Straße verbindet: helles Grau, kombiniert mit dunklem Grau, und die Häuser, alles Zweckbauten ohne Reiz, sind nur im besten Falle weiß. Vorbei die Zeit des Glanzes dessen, was die Leute einst das Schwachhausen des Westens nannten. Damals, vor dem Krieg.

Frau Schneider kennt sie noch, jene Zeit, bevor die erste Bombe auf den Hof des Fuhrunternehmens ihres Vaters fiel. Die erste von vielen. „Sechs oder sieben Bomben“, erinnert sie sich, fielen über die Kriegsjahre auf das Grundstück. Nach dem Krieg war alles Trümmer, das ganze Hafengebiet ein Meer aus Schutt .

Frau Schneider kennt alle Gesichter ihrer Straße, schließlich war die Baumstraße bis vor wenigen Jahren die geografische Mitt e ihres Lebens. Ein Leben seit 1930. Sie verbrachte ihre Kindheit genau hier an der Baumstraße, Ecke Lloydstraße, wo sie zum Zwecke dieser Zeilen heute steht. Hier hatte ihre Tante ihren Gemüseladen und ihr Vater sein Fuhrgeschäft . Sie deutet auf die andere Straßenseite, Richtung hässlichgelbes Hochregallager.

„Da drüben war der Rosenkranz“, sagt sie. „Der Rosenkranz? Ein komischer Name für eine Straße.“ „Ja, aber das war eine ganz noble Gegend. Große, wunderschöne Reihenhäuser und Villen standen dort.“

Sie dreht sich um und deutet auf das Gebäude hinter uns. „Und hier haben wir gelebt.“ Gerade ist kein Verkehr auf der Lloydstraße, und sie geht einige Meter auf den Asphalt. „Eigentlich bis hier.“ Sie grinst angesichts dieser Geschichte. „Nach dem Krieg hat mein Vater ganz schnell eine Behelfshütte gebaut. Irgendwann kamen die Amerikaner und wollten hier diese Straße durchziehen. Mein Vater hat sich eine Zeit lang aber geweigert, das Haus aufzugeben, weil ihm die Entschädigung zu klein war.“ „Es stand also mitten auf der Straße?“ „Genau.“ Sie schüttelt den Kopf, als könne sie das selbst nicht glauben, lacht und sagt: „Mein Vater hat das Haus schließlich doch aufgegeben und bekam ein neues, aber kleineres Grundstück.“ Nach einem kurzen Moment fügt sie trotzig hinzu. „Aber das mussten sie ihm pflastern.“

Unser Spaziergang durch die Baumstraße ist wie ein Weg durch Frau Schneiders Vergangenheit. Wir beginnen dort, wo sie ihre Kindheit verbrachte, und wollen dort enden, wo sie zuletzt wohnte. Während wir uns ihrem letzten Haus nähern, haben wir das Gefühl, dem Zeitverlauf und seinen Geschichten zu folgen.

Ecke Walfischhof. Beim Gehen versucht sie sich an die Handwerker zu erinnern, die in der Baumstraße lebten und arbeiteten. Drost Maschinenbau, Osterhorn („Die machten wunderschöne Öfen“), der Maler Raupach und der Glaser Egermeier, ein guter Freund ihres Vaters. Sie sagt:„Hier konnte man alles an Handwerkern finden, was es so gab.“ „Wie würden Sie die Gegend beschreiben?“ „Es war ein typisches Mischviertel, eine ganz entzückende Straße.“ „Entzückend“ sagt sie häufig an diesem Nachmittag. „Hier gab es Wohnungen und kleine Betriebe. Wegen der Nähe zum Hafen gab es viele Fuhrunternehmer – wie meinen Vater.“

Sie erzählt, dass sie als Kind immer gerne auf den Kutschen mit zum Hafen fuhr. Sie deutet die abgehende Zweigstraße entlang in Richtung Nordstraße und erklärt den Weg, den die Menschen aus Walle früher nahmen, wenn sie in die Faulenstraße zum Einkaufen gingen. Hinten bei der Schule sei die Danziger Freiheit gewesen, sagt Frau Schneider. Ein großer Platz, den die Nazis häufig für Aufmärsche nutzten. Von dort sind die Leute meist gekommen. Dann gingen sie durch die Zweig- in die Baumstraße und von hier durch den Walfischgang ins Stephaniviertel.


Wilma Schneider in ihrer neuen Wohnung
im Steintorviertel

Den Walfischgang gibt es nicht mehr. „Eduscho hat alles zugebaut.“ Übrig geblieben ist nur der Walfischhof. Auf diesem kleinen Platz, erzählt Frau Schneider, haben früher immer die Schausteller überwintert.

Die Nacht vom 18. auf den 19. August 1944 war die schlimmste. Die Bomben der Alliierten zerstörten alles, die Pferde ihres Vaters verbrannten. Auch das Wohnhaus der Familie im Westend wurde zerstört. Ihr Vater konnte sich mit viel Glück in den nahen Bunker retten. Sie selbst war damals nicht in Bremen. Als 14-Jährige wurde sie landverschickt, nach Sebnitz in Sachsen. Obwohl sie als Kind immer in der Baumstraße war, zog Frau Schneider erst 1955 wirklich hierher.

Vor den Bomben lebte die Familie in der damaligen Schönebecker Straße, die heute Melanchthonstraße heißt. Nach einigen Not- und Zwischenunterkünften und nach der Episode mit dem Haus auf der Lloydstraße zog sie mit ihrem Mann in das neue Haus in der Baumstraße. Ihr Mann starb vor einigen Jahren, das Haus aber steht noch heute und ist das einzige Gebäude hier, das man „farbig“ nennen kann. Im Gegensatz zum Himmel heute ist es blau. Es gehört ihr noch immer, sie finanziert mit der Miete ihre jetzige Wohnung im Steintor.

Wir gehen auf den Hof, der immer noch mit denselben Steinen bepflastert ist, mit denen man ihren Vater damals überredet hat, das Grundstück zu übernehmen. In ihrer Kindheit gehörte das Gelände dem Bäcker Fassing, und Frau Schneider hat seit dem Krieg nie wieder von ihm gehört. Der Hof ist umringt von den ehemaligen Garagen des Fuhrunternehmens. Frau Schneider zupft an der schütteren Randbepflanzung der Einfahrt herum. Sie ärgert sich. „Ich habe das hier alles grün gemacht und nun ist hier leider nichts mehr.“

Sie schaut sich um. „Meine Kinder hatten hier herrlich viel Platz zum Spielen.“ „Wie groß ist das Grundstück?“„500 Quadratmeter kleiner als das alte, aber hier haben sie gepflastert. Sehen Sie? Da drüben habe ich mal eine ganze Reihe Zypressen gepflanzt.“ Sie deutet auf einige Bäume, die in eine unvollständige Linie bilden. Die Mieter, erzählt sie, wollten mal die Wand dahinter streichen. „Aber nur die Zypressen haben sie rausgerissen, weiter sind sie nicht gekommen. So ist das.“

Wir verlassen ihr Grundstück. Der Winterwind weht scharf über unsere Köpfe. Frau Schneider murmelt noch was, dass ihre Tochter den Grundstücksrand neu bepflanzen soll. Es zieht uns ins Warme. Oder in die Gegenwart, wie man es nimmt. Raus aus der Kälte, raus aus der Vergangenheit, von der nur noch das graue Kopfsteinpflaster unter unseren Füßen zu zeugen scheint.

Die Baumstraße wird niemals den Glanz der Vorkriegszeit zurückgewinnen. Als die BewohnerInnen der Baumstraße nach den Bombennächten zurückkehrten, war keine Zeit für Schönheit. Trotzdem: Die Zweckbauten haben immer noch mehr Seele als die öden Glaskästen, die um Frau Schneiders alte Heimat herum entstehen. Vermutlich wird es nicht mehr lange dauern, ehe Glas und Stahl auch noch die Baumstraße erobern und diese noch einmal vollständig ihr Gesicht verändert. Dann wird nicht einmal mehr das Kopfsteinpflaster an das Schwachhausen des Westens erinnern.

Text: Matthias Röhrs
Fotos: Anja Segermann