Leseprobe

„Ich bin innerlich ausgeglichener“

#68 MÜNCHENER STRASSE – Stefan Gehring hat es von der Straße zurück in einen geregelten Alltag geschafft. Wie ist ihm das gelungen?

Seit mehr als vier Jahren verkauft Stefan Gehring die Zeitschrift der Straße. Bei den Perspektivwechsel-Stadtführungen erzählt er als Tourbegleiter SchülerInnen und Studierenden vom Leben auf der Straße und zeigt ihnen Orte im Bahnhofsviertel, die für Wohnungslose wichtig sind. So auch im März dieses Jahres: Er ist mit einer Schulklasse einer Oberschule unterwegs. Stefan wirkt offen. Keine Frage ist ihm zu persönlich.

Die Tour führt an Orten vorbei, die Wohnungslosen als Toilette dienen. Stellen, an denen sie an Spritzenautomaten neue Spritzen bekommen. Obwohl die SchülerInnen teilweise abgeschreckt sind und entsprechende Kommentare fallen lassen, bleibt Stefan Gehring ruhig und gelassen. Er möchte das Leben der Wohnungslosen so realistisch wie möglich nahebringen. Auch Gewalt gegenüber der Wohnungslosen spricht er offen an. Auf Fragen über seine eigene Zeit als Wohnungsloser antwortet er in aller Ausführlichkeit. „Mir ist wichtig, zu zeigen, dass Menschen, die wohnungslos sind, sich das nicht ausgesucht haben“, sagt er.

Stefan, vor etwa einem Jahr erschien schon einmal ein Artikel über Dich in der Zeitschrift der Straße. Zu dem Zeitpunkt warst Du wohnungslos und viel am Hauptbahnhof unterwegs. Was hat sich seitdem verändert?

Also momentan ist das so, dass ich als Ein Euro-Jobber arbeite. Durch einen alten Kollegen und Freund bin ich an eine Bildhauerwerkstatt gekommen. Ich arbeite in der Außenwerkstatt , die sie dort haben. Für mich ist das eigentlich eher ein kleiner Schritt – aber es ist ein großer Schritt wieder in die Selbstständigkeit zurück.

Was hat dir dabei geholfen?

Das fing eigentlich damit an, dass ich angefangen hab die Zeitung zu verkaufen. Dadurch hab ich gelernt, wieder regelmäßig etwas zu machen und mir kontinuierlich einen strukturierten Tagesablauf aufzubauen.

Wo wohnst du im Moment?

In Walle in einer WG. Das ist ein Reihenhaus, in dem vor allem Leute wohnen, die früher auch wohnungslos waren. Da bin ich auch durch einen Kumpel rangekommen. Jeder hat sein Zimmer. Küche und Bad teilen wir uns mit sechs Leuten. Gott sei Dank bin ich nicht mehr auf der Straße.

Wie findest du das Leben in einer WG?

Ich war ja schon zu Hause immer mit meiner Schwester zusammen. Später bin ich im Heim gewesen, mit mehreren Leuten gemeinsam zu wohnen finde ich sogar besser als allein zu leben. Du hast jemanden zum Reden, wenn dich was bedrückt. Oder man kann selber ein Ohr leihen, wenn man sieht, dass der Nachbar ein Problem hat.

Wie sieht so ein normaler Tag bei dir aus?

Also ich steh morgens auf und mach mir meine Pfeife fertig. Außerdem brauche ich einen Kaffee oder Tee. Danach fahre ich zu meinem Arzt und hole mir mein Substitut ab. Wenn eine Tour anliegt, so wie heute, fahre ich hierher und bleibe erstmal hier im Café Papagei. Oder ich fahre halt direkt zur Werkstatt und arbeite als Bildhauer.  Wir, der Verein “MAUERN öffnen”, machen auch verschiedene Ausstellungen. Von den Exponaten, die verkauft werden, können wir neue Materialen kaufen.

Das klingt nach einer sehr positiven Entwicklung!

Ja, das ist super. Ich bin innerlich ausgeglichener und ruhiger vor allen Dingen. Viele sagen auch, ich seh gesünder aus, was ich eher nicht sagen kann. Aber doch, es ist in allen Bereichen eigentlich nur vorwärts gegangen. Vorher war ich nur den ganzen Tag am Bahnhof und hab meine Zeitung verkauft. Ich habe auch viel getrunken. Ich trinke immer noch, aber definitiv weniger. Allerdings gibt es ein Nachteil: Ich hab weniger Geld zur Verfügung. Früher hab ich mehr Geld gemacht mit Zeitung verkaufen und so. Aber wie gesagt, innerlich bin ich ausgeglichener als vorher. Da ist das Geld dann auch nicht so wichtig, ehrlich gesagt.

Was macht dich glücklich?

Das Zeichnen und die Bildhauerei (lacht).

Was gibt dir das Zeichnen?

Zeichnen tu ich immer. Jeden Tag. Ich hab das eigentlich schon von vor Ewigkeiten von meiner Familie her mitgekriegt. Mein Vater und mein Onkel haben früher auf Holz und Glas graviert. Ich hab ADHS und ich muss eigentlich immer was in den Fingern haben, zum Spielen oder sonst was. Früher hab ich gezeichnet, einfach nur gezeichnet. Immer. In der Schule und sonst wo hab ich immer gezeichnet. Es hat mich immer beruhigt.

Hast du noch Kontakt zu den Leuten aus der Zeit, als du selber wohnungslos warst?

Ich bin noch mit den Leuten zusammen. Aber nicht mehr ganz so oft und exzessiv in der Szene unterwegs. Am Wochenende bin ich eigentlich kontinuierlich am Hauptbahnhof und verkauf noch meine Zeitung. Aber ehrlich gesagt, will ich das auch nicht mehr ganz so. Früher hab ich mit zwei Kumpels in einer abgebrannten Kneipe gehaust. Da war es so, dass man keine anderen Verpflichtungen hatte und lange schlafen konnte und ruhig mal ein Bierchen mehr getrunken hat. Irgendwann ging es mir aber selber gegen den Strich.  Du kommst nicht vorwärts. Im Gegenteil, selbstreflektierend siehst du, wie du weiter absackst. Um dem entgegen zu wirken, hab ich mir erstmal einen selbststrukturierten Tagesablauf geschaffen und nach und nach dann auch wieder mit dem Arbeiten angefangen.

Was macht dich wütend?

Die Ignoranz von vielen Leuten, wenn man sie anspricht. Ein höfliches „Nein, Danke“ ist mir lieber, als wenn Leute so tun, als wenn man gar nicht da wäre. Die Ignoranz für mich ist ganz schlimm.

Wovor hast du Angst?

Anfangs, also früher, hatte ich mal Verlustängste. Aber mittlerweile nicht mehr. Das hat mir die Straße genommen. Ich hab schon in meinem Leben so viel gehabt und so viel verloren. Auf der Straße war auch Gewalt ein Thema. Die Gewalt nimmt wirklich dermaßen zu, so dass wir uns zu Dritt zusammen getan haben. Also, viele wirst du wohl auf der Straße nicht mehr alleine sehen, wegen der Gewalt eben. Heute hab ich nur Angst davor, wieder alles zu verlieren, was ich jetzt in letzter Zeit so geschaffen hab. Durch meine eigene Blödheit wieder alles zu verlieren, sei es nun ein Rückfall oder irgendein Scheiß, der mich aus der Vergangenheit einholt oder sonst irgendwas. Das ist meine größte Angst.

Was wünschst du dir für jetzt oder auch für die Zukunft?

Ich wünsche mir wieder ein vernünftiges Liebesleben. Momentan habe ich nämlich keine Partnerin.

Hättest du auch gern Kinder?

Ja, natürlich. Zwei. Ein Mädchen und einen Jungen. Ganz typisch. Ich bin ja auch in einer Familie groß geworden.

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Text: Lisa Böckling
Foto: Dennis Green