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KNIPP TO GO

#88 LEHESTER DEICH – Auf der Pferdepension Hof Stein verläuft die Zeit ein bisschen anders. Und das nicht nur, weil Weihnachten dieses Jahr wohl im Sommer stattfindet

„Ich glaube ja, dass dieser Hof in einer anderen Zeitzone liegt“, sagt Gaby Bärend . „Mit dem Pferd tüddeln, die Box machen, füttern, ein bisschen schnacken – und schwups sind sechs Stunden rum.“ Hier im Nirgendwo am Deich ticken die Uhren eben etwas anders, vermutet Bärend, die zusammen mit ihrer Tochter gerade das Pferd „Waly“ in der Pferdepension versorgt.

Zum Hof Stein, kurz vorm Ende des Lehester Deichs, gehört neben den Pferden noch ein Hofladen. Christa Garbade betreibt die Pferdepension mit ihrem Mann und dem Sohn, der mit seiner Freundin ebenfalls auf dem Hof lebt. Bis zu 30 Pferde können hier unterkommen. Auf dem rund drei Hektar großen Gelände gibt es neben dem großen Winterstall noch einen kleineren für sogenannte Hustenpferde, die kein trockenes Heu vertragen und deshalb speziell angefeuchtete „Heulage“ bekommen. Jedes Pferd hat seine eigene Box mit direktem Zugang zu einer eigenen kleinen Koppel – auch Paddock genannt.

„Wenn die Schilder von den Pferden nicht immer abgeleckt werden würden, könnte man auch lesen, wer hier jeweils wohnt“, sagt Christa Garbade und geht vorbei an der Reithalle und dem „Reiterstübchen“ zum Pferdespielplatz. Die Tiere können hier kleine Hindernisse überqueren, einen Berg erklimmen oder über eine Wippe balancieren. Im Sommer sind die Pferde durchgehend auf der Weide im angrenzenden Hollerland. Aber im Winter ermöglicht der Reitplatz vor Ort Bewegung und soziale Kontakte. „Die leiden nicht unter Social Distancing“, scherzt Gaby Bärend mit Blick auf die spielenden Pferde. Seit der Pandemie sind auch auf dem Hof einige Einschränkungen bemerkbar: Treffen oder Feiern mit mehreren Personen sind tabu, auch der sonst übliche Klönschnack im Reiterstübchen oder in der Sattelkammer. Da der Betrieb aber vergleichsweise klein und das Gelände weitläufig ist, konnte Christa Garbade von Zeitplänen à la „Click & Ride“ absehen.

Bis zu 30 Pferde können auf dem rund drei Hektar großen Gelände unterkommen. Foto: Beate C. Köhler

Auch wenn Christa Garbade hier aufgewachsen ist: Den Hof wollte die gelernte Rechtsanwalts- und Notargehilfin eigentlich nie übernehmen. Sie hat jahrelang in einer Kanzlei gearbeitet. 2011 hat sie den Bürojob dann aufgegeben und ihr Hobby zum Beruf gemacht. „Jetzt ist alles gut so, wie es ist“, sagt sie, „und ich würde nicht mehr tauschen wollen.“

Gebaut wurde der Hof Stein 1794 von Christa Garbades Urgroßeltern. Statt um Pferde hat sich hier früher alles um die Kuh gedreht. Der als Milchwirtschaft gegründete Betrieb wird heute bereits in der vierten Generation geführt und hat sich seitdem stetig weiterentwickelt. Erst kamen Hühner dazu, dann der Hofl aden und schließlich gab Christa Garbades Vater mehr und mehr Kühe zugunsten der Pferde ab. Für Christa Garbades Lebensweg war das entscheidend: „Kühe hätte ich auch nicht genommen “, lacht sie kopfschütt elnd.

Und der Hofgemeinschaft geht es um mehr als nur gemeinsames Arbeiten: „Egal ob im September oder im Juni – sobald es wieder erlaubt ist – bestehen wir auf unser er Weihnachtsfeier mit Glühwein“, sagt Gaby Bärend. Normalerweise werden im Dezember Bierzeltgarnituren und ein Weihnachtsbaum aufgestellt, während die Pferde aus ihren Boxen zuschauen. Eine Idylle, hinter der sehr viel Arbeit steckt: Von Oktober bis Ende April müssen alle 30 Pferde jeden Tag morgens, mittags und abends rundumversorgt werden. Auch im Sommer muss täglich auf der Weide nach dem Rechten gesehen werden. Die Heuballen stellt Christa Garbades Sohn her. Der gelernte Landmaschinentechniker arbeitet engagiert mit und möchte den Hof Stein auch irgendwann übernehmen. Das ist für Christa Garbade eine schöne Gewissheit – und ein bisschen Erleichterung: „Der will auch nicht in den Urlaub! Er muss immer hierbleiben, weil er etwas verpassen könnte. Mit ihm können wir auch absprechen, wenn wir mal weg möchten. Das ist auch das Schöne, dass ich dann auch wirklich Zeit zum Verschnaufen habe.“

Und das ist auch nötig: Eigentlich wollte Christa Garbade den Hofladen vor sechs Jahren schon auflösen, weil das zusammen mit der damaligen Hühnerhaltung und der Pferdepension zu viel geworden war. Als Sandra Malcherek davon hörte, sagte sie spontan: „Ach, ich kann das doch einfach mal versuchen .“ Die gelernte Schifffahrtskauffrau war auch schon als Stylistin in der Modebranche tätig und arbeitet noch weiter freiberuflich in verschiedenen Bereichen. Mittlerweile betreibt sie den liebevoll eingerichteten Hofladen nebst Verkaufsautomaten mit ihrem Mann. „Früher haben Christas Eltern die Eier noch an der Haustür verkauft“, erklärt sie. Später kam ein kleines Häuschen mit Tisch und Kasse. Weil da immer wieder Geld fehlte oder Knöpfe drinlagen, beschloss Christa Garbades Vater, einen Automaten aufzubauen: 2005 ging das erste Modell in Betrieb. „Das ist wirklich superpraktisch“, sagt Sandra Malcherek, „aber manchmal hakt es leider auch. Oder es versteht nicht jede r auf Anhieb, wie es funktioniert.“ Da könne es auch schon mal passieren, dass jemand mitt en in der Nacht plötzlich laut am Automaten rüttelt.

Auch wenn der Hofladen nur am Wochenende geöffnet hat, ist er für Sandra Malcherek gerade eher ein Fulltimejob. Neben Eiern, Kartoffeln und Wurstwaren aus der Region verkauft Sandra Malcherek auch selbst kreierte Produkte wie ihren Sirup. Oder sie lässt die Rezepte von Mutter und Großmutter wieder aufleben. Bei Grünkohl und Knipp „to go“ treffen sich Tradition und Moderne am surrenden Automaten. Die berühmten Bremer Spezialitäten können hier vorgepackt beim Deichspaziergang eingesammelt werden. Immerhin ein bisschen dürfte das auch über die ausgefallene Kohlsaison hinwegtrösten.

Text: Anne Duus
Foto: Beate C. Köhler