Leseprobe

SELBST WENN DIR BLAUE TENTAKEL WACHSEN

#43 AUF DER BRAKE – Im Café Papagei treffen sich Wohnungslose und Menschen mit wenig Geld. Hier sind alle willkommen. Nur bei einem Thema kennt das Team keine Toleranz

 

„Junger Mann, Sie wollten duschen“, sagt Karin zu dem schlaksigen Mittzwanziger. „Stimmt, Sie haben recht. Wollte ich nicht, aber ich sollte“, antwortet er. Und trägt sich in die Liste für die Duschen ein. „Kann ich einen Rasierer haben? Ist ja Montag“, fragt der junge Mann. „Es ist Dienstag“, entgegnet Cory und überreicht ihm Handtuch und Rasierer.

Karin und Cory, Angestellte der Inneren Mission, arbeiten im Café Papagei, einem Treffpunkt für Wohnungslose und Menschen mit wenig Geld. Hier gibt es günstigen Kaffee, belegte Brötchen, Bockwurst und auch ein warmes Mittagsessen. Die Gäste können hier duschen, ihre Wäsche waschen oder sich eine Postadresse einrichten.

Etwa ein Drittel der Besucher ist ohne Wohnung, ansonsten mischen sich die Szenen. Das liegt vor allem an der Lage – früher, als die Wohnungslosenhilfe noch im Jakobushaus am Breitenweg war, kamen überwiegend Obdachlose, erzählt Karin, während ihre Augen den Raum absuchen.Ihr Gesicht ist freundlich, an den Händen trägt sie blaue Gummihandschuhe, mit denen sie sich auf dem Tresen abstützt. Sie arbeitet seit mehr als zehn Jahren bei der Inneren Mission und seit über einem Jahr im Café Papagei. „Ich kenne zwar nicht alle hier mit Namen, aber ich weiß, was sie trinken“, erzählt sie. Wenn einer der Stammgäste nicht kommt, macht Karin sich schon mal Sorgen. „Ich bin gerne im Kontakt mit den Menschen“, sagt sie und setzt sich während ihrer Zigarettenpause zu den Gästen an den Tisch.

Das Café hat von neun bis 16 Uhr geöffnet, der Raucherraum ist um halb zehn schon ordentlich gefüllt. Es ist laut. Manche umarmen oder küssen sich zur Begrüßung, andere sitzen allein und murmeln vor sich hin. Im Nichtraucherraum, wo auch der Tresen steht, ist es ruhiger. Hier sitzt eine Gruppe älterer Herren und liest Zeitung, geredet wird kaum. Bei allem Trubel achten alle, die rein oder rausgehen, penibel darauf, dass die Tür zum Raucherraum immer geschlossen wird.

Michael sitzt mit seinem Laptop im Raucherzimmer, an seinem Stammplatz: in Steckdosennähe. Er hat kurze weiße Haare und sieht irgendwie ordentlich aus hinter seinem Rechner, fast unauffällig. Er kommt nur dienstags hierher, ansonsten geht er ins „comeback“, ein Treffpunkt für Menschen, die von Drogen gefährdet oder abhängig sind. Michael ist 53 und wenn er erzählt, wie und warum er hierhergekommen ist, muss er weit ausholen. Er hat viel erlebt, sagt er, „genug für mehrere Leben“. Das sieht man ihm nicht an, und fast glaubt man, er könnte einem alles erzählen, wenn ihm der Schalk so aus den blauen Augen blitzt. Was immer geblieben ist, ist das Interesse an Computern. Angefangen hat er mit dem Commodore 16, „das ist heute ein Kultgerät“, sagt er und lacht. Michael ist arbeitslos und wird als „schwer vermittelbar“ eingestuft. Nach verschiedenen Ausbildungen und gesundheitlichen Problemen kamen private dazu, schließlich geriet er in die Abhängigkeit. Heute kommt er ins Café, weil er sich zu Hause langweilen würde: „Natürlich ist meine Arbeit hier Ablenkung von den anderen Sachen. Aber wenn jemand Probleme mit seinem PC hat, dann helfe ich.“ So arbeitet er in seinem Traumberuf, zumindest ein bisschen.

Vom Raucherraum gelangt man über eine Treppe nach oben. Vor der Poststelle drängen sich die Menschen, manche stehen in Gruppen, andere allein. Es ist eine bunte Mischung, verschiedene Sprachen sind zu hören. Eine alte Frau mit weißen, zusammengebundenen Haaren wird von einem großen, jungen Mann begleitet. Er stützt sie und erzählt ihr Dinge, über die sie lacht. Drei Stunden täglich ist die Poststelle geöffnet, die Besucher können sich hier eine Adresse einrichten und täglich ihre Post abholen. Derzeit haben im Café Papagei 480 Menschen eine Postadresse. Die Post, gesammelt und sortiert, liegt hinter dem Schreibtisch von Conni, in einem weißen, halbhohen Schrank, der für so viele Postadressen viel zu klein wirkt. Conni erledigt die Post allein, manchmal bekommt sie Hilfe von Praktikanten. Sie trägt auffällige Ohrringe und ihre asymmetrisch geschnittenen Haare lenken die Blicke hin und her. Conni, die ihre Gesprächspartner mit einem klaren, aber freundlichen Blick fokussiert, registriert jeden Brief im Computer, für manche müssen die Adressaten sogar unterschreiben. „Damit nachgewiesen werden kann, dass die Klienten ihre Post tatsächlich erhalten“, sagt Conni. Gerade bei Briefen vom Jobcenter sei das wichtig.

Kaffee schenken sie im Café Papagei gern und viel aus, Alkohol nie.

Kaffee schenken sie im Café Papagei gern und viel aus, Alkohol nie.

An drei Tagen in der Woche sind Ärzte vom Verein für medizinische Notversorgung vor Ort, die Patienten in Notlagen ehrenamtlich untersuchen und behandeln. Manche der Patienten leiden unter Ekzemen und anderen Hautkrankheiten, auch Krätze sei schon mal vorgekommen. „Kleiderläuse sind auch immer ein Problem“, erzählt Conni. Aber für den Fall gibt es neue Kleidung und eine Dusche. „Wenn sich jemand in unsere Hände begibt, dann kriegen wir alles hin.“ Problematisch wird es, wenn nach einem Parasitenbefall nicht alle Textilien weggeworfen werden, weil sich die Besitzer nicht davon trennen können. Dann kann es schon mal dauern, bis das Problem behoben ist. Ekel gibt es hier kaum. Solange man nicht zu stark riecht oder aufdringlich ist, ist hier alles in Ordnung, sagt Conni. „Hier können dir blaue Tentakel wachsen, das ist ganz egal.“

Im Nichtraucherraum, etwas zurückgezogen gegenüber dem Tresen, sitzt Uwe und trinkt einen Kaffee. Seine Haare haben helle Spitzen, fast als hätten Sonne und Meer sie aufgehellt. Er schaut einmal in der Woche herein, „einfach, um einen günstigen Kaffee zu trinken“. Außerdem seien die Leute hier sehr nett, die Mitarbeiter empfindet er als engagiert. „Da kann man sich schon mal wohlfühlen.“ Obwohl das Essen gut riecht und vergleichsweise billig ist, nimmt er das nicht in Anspruch, weil er selber gerne kocht. Und weil es ihm hier auch schnell zu anstrengend wird: Es gibt „Kandidaten“, wie er sie nennt, die ihm zu stressig sind. „Die aggressive Atmosphäre
ist manchmal spürbar“, sagt er, vor allem im Raucherzimmer. Aber Uwe hat auch ein paar nette Bekannte hier, „Sympathisanten“ nennt er sie, und die trifft er gern.

Uwe bestellt sich einen kleinen Saft und sitzt ruhig auf seinem Platz am Fenster. Er war nie obdachlos, lediglich wohnungslos, in Bremen hat er direkt ein möbliertes Zimmer vermittelt bekommen. Hier will er bleiben. Obwohl er immer wieder mit dem Gedanken spielt, in ein anderes Land zu ziehen. Das hat er vor Jahren schon mal probiert: Damals hat Uwe in Frankreich gelebt, bis ihm irgendwann das Geld ausging – und er wieder zurückgekommen ist. Auch in Holland hat er schon gelebt, in Amsterdam. Damals war es die Mentalität der Menschen, die ihm irgendwann nicht mehr gefiel und ihn zurückkehren ließ. Die Mentalität, sagt Uwe, lernt man am besten auf der Straße kennen. Deshalb hat er in Amsterdam, Köln und Hamburg Straßenzeitungen verkauft. Auch in Bremen hat er eine Zeit lang die Zeitschrift
der Straße verkauft: „Nur kurz, nur um die Stadt kennenzulernen“, sagt er. Hierhergekommen zu sein, war eine gute Entscheidung, hier fühlt er sich wohl – „Bremen hat was“.

„Habt ihr einen Strohhalm?“ Ein junger Mann kommt gehetzt an den Tresen und verschwindet gleich wieder, ohne Strohhalm. „Nichts, womit du dir die Nase machen kannst“, murmelt ein tätowierter Mann, der allein an einem Tisch sein Frühstück isst. Ins Café Papagei kommen nicht nur Wohnungslose, auch Menschen mit Drogenproblemen Drogenproblemen treffen sich hier. Seit dem Umbau des Hauptbahnhofs verschiebt sich die Drogenszene. Im Hinterhof, heißt es, bekommt man alles. Das schreckt manche der alten Stammklienten aus dem Jakobushaus ab. Um das Problem in den Griff zu bekommen, soll der Eingang des Cafés verlegt werden, in den Hinterhof – so wird er vom Tresen aus einsehbar, und Menschen mit Hausverbot können direkt wieder rausgeschickt werden. Hausverbot bekommt hier, wer Alkohol oder Drogen ins Café mitbringt oder versucht, diese zu verkaufen. „Hier können sich alle treffen, aber nur, wenn sie es schaffen, die Drogen während dieser Zeit aus dem Kopf zu lassen“, sagt Conni. Denn das Café ist vor allem ein Treffpunkt für Wohnungslose und das soll so bleiben.

Text: Frauke Kuffel
Fotos: Norbert Schmacke