Aktuelle Leseprobe, Leseprobe

„SIE SIND SCHWEIGEND VERSCHWUNDEN“

#87 NORDSTRASSE – In der Nordstraße führte der jüdische Kaufmann Sally Silbermann ein Bekleidungsgeschäft. Dann musste er vor den NationalsozialistInnen nach Uruguay fliehen

In den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts war Walle noch ein zentraler Ort jüdischen Lebens in Bremen. Etliche kleine Geschäfte säumten die Nordstraße, jüdische Kaufleute prägten das Viertel. Fast alles konnte man hier kaufen, ohne Walle zu verlassen: Obst und Gemüse, exotische Früchte, Zigarren, Hüte und Mützen, Eisenwaren, Drogerieartikel. Walle war der Lebensmittelpunkt der kleinen Leute, vor allem der Hafen- und WerftarbeiterInnen. Zwischen SchuhmacherInnen, BäckerInnen, SchlachterInnen und der Jute-Spinnerei fand sich auch das Herrenbekleidungsgeschäft von Sally Silbermann an der Nordstraße, Ecke Schönebecker Straße. Sein Laden zählte seinerzeit zu einem der größten und beliebtesten des Stadtteils. Drei große Schaufenster gaben den Blick in sein Geschäft und auf die Straße frei.

Geboren 1889 im niedersächsischen Lemförde, kam Sally Silbermann der Liebe wegen nach Bremen. 1913 heiratete er Gretchen Neuberg, die Tochter des jüdischen Bremer Kaufmanns Milius Neuberg. Der wiederum führte damals ein Herrenbekleidungsgeschäft in der Faulenstraße in der Innenstadt. Schnell bekam Silbermann Arbeit in der Firma seines Schwiegervaters und übernahm schließlich die Gesch.ftsführung. Schon bald eröffnete er die neue Filiale an der Nordstraße 193/95 – die erst mal noch den Namen seines Schwiegervaters trug. 1921 verstarb Milius Neuberg. Sein Tod führte zur Schließung der Filiale in der Faulenstraße, doch das Geschäft in der Nordstraße lief gut. Die lag vor ihrer Zerstörung 1944 noch an anderer Stelle als heute, nämlich zwischen der Grenzstraße und der Schulze-Delitzsch-Straße.

Ganz Walle kaufte damals gerne bei Sally Silbermann ein: Man habe dort gute und günstige Ware bekommen, hei.t es in den Aufzeichnungen des Kulturhauses Walle-Brodelpott. Vor allem für die anstehende Konfirmation sei man bei Silbermann an der richtigen Adresse gewesen. Seiner Kundschaft gegenüber sei er zuerst kulant gewesen und ließ seine Kleidung auch auf Raten abbezahlen, heißt es weiter.

Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 begann die strategische Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Ihr Auftakt war der reichsweite sogenannte „Judenboykott“ am 1. April 1933. An jenem Samstag postierten sich SA-Männer überall vor jüdischen Geschäften. Auch in Bremen, auch vor dem Laden der Silbermanns. Unter dem Motto „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht bei Juden!“ propagierten die Nazis die Verfemung jüdischer Kaufleute, verunstalteten ihre Schaufenster mit Schmierereien und hielten die KundInnen vom Betreten der Geschäfte ab. Aber noch ließ sich die Kundschaft der Silbermanns nicht an ihrem Einkauf hindern. Eine Zeitzeugin erinnert sich laut den Aufzeichnungen des Kulturhaus Walle: „Die Kunden ließen sich nicht beirren und bange machen. Im Gegenteil, mit großen Kartons verließen sie das Geschäft.“

Aber der Druck auf die jüdische Bevölkerung wuchs weiter. Nach und nach erklärten die NationalsozialistInnen sie zu Menschen zweiter Klasse, ihre schrittweise Entrechtung entzog den Juden jegliche wirtschaftliche Existenz. Die Nürnberger Gesetze legalisierten 1935 ihre Verfolgung und legten den Grundstein für ihre Deportation in Arbeits- und Vernichtungslager. Damit stand auch Sally Silbermann mit seinem Bekleidungsgeschäft vor dem Aus. 1937 musste er seinen Laden in der Nordstraße endgültig aufgeben. Auch ihre Wohnung direkt über dem Geschäft musste die Familie verlassen. Sie kam zunächst im Nachbarhaus unter, wohnte dort auf engstem Raum. Aber es war zwecklos. Gerade noch rechtzeitig trafen die Silbermanns eine Entscheidung, die über ihr Schicksal entscheiden sollte: Terror und Krieg, die Reichspogromnacht und die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung musste Familie Silbermann nicht mehr miterleben. Am 14. September 1938 verließ das Ehepaar gemeinsam mit seinem Sohn seine Heimat. Laut des Archivs im Kulturhaus Walle erinnerte sich ein befreundetes Ehepaar der Silbermanns so: „Sie sind unauffällig und schweigend verschwunden.“ Nach Montevideo in Uruguay. Hier verlieren sich ihre Spuren. Seit 1939 war die Firma Sally Silbermann nicht mehr im Adressbuch zu finden und das ehemalige Geschäft in der Nordstraße augenscheinlich leerstehend. Laut Focke- Museum war dort ab 1939 Kurt Hitz als Inhaber verzeichnet, er führte fortan ein „Fachgeschäft für Herren-, Knaben- und Berufskleidung“, bis das Gebäude 1944 durch einen schweren Luftangriff auf Bremen zerstört wurde. Sally Silbermann verstarb nach Angaben des Staatsarchivs am 29. September 1962. Über den Verbleib seiner Frau und seines Sohnes ist nichts bekannt.

Aber vergessen sind sie nicht. Seit 2002 – 64 Jahre nach ihrer Flucht – erinnert die Silbermannstraße in der benachbarten Überseestadt an das Schicksal der jüdischen Kaufmannsfamilie, 150 Meter lang und kerzengerade.

Text: Meike Große Hundrup
Foto: Kulturhaus Walle Brodelpott