#55 PAPPELSTRASSE: Die Pappelstraße ist ein Hotspot des Glücksspiels. Und die Branche lebt gut von der Sucht. Eine Annäherung im Selbstversuch
Samstagnacht, Tequila-Bar, Werder hat gewonnen. Durch Schwaden von Nikotin, an vielen Menschen vorbei, fällt mein Blick auf diese lachende Sonne. Sie zwinkert mich an. Die Animation wechselt, „Eye of Horus“ leuchtet in goldener Schrift. Ich habe einige Bier intus, dazu einen Jägermeister; meine Freunde sind schon gegangen. Ich denke an mein Portemonnaie, versuche, mich an das Kleingeld zu erinnern. Zwei Euro waren es, vielleicht drei. In Gedanken habe ich die Münzen schon in meinen Fingern, sehe meine Hand zum Einwurf wandern. Woher kommt dieses Verlangen, diese unheimliche Anziehungskraft der Glücksspielautomaten?
Münze um Münze, Schein um Schein frisst der Automat das Geld – um einige, wenige Glücksmomente zu erschaffen. Dutzende dieser Maschinen finden sich an der Pappelstraße, verborgen in Räumen, die weder Nacht noch Tag kennen. Spielotheken haben weder Fenster noch Uhren und Getränke gibt es frei Haus. Es läuft keine Musik, nicht einmal Radio. Das Klimpern der Automaten kreiert eine ganz eigene Melodie. Auch das ist die Pappelstraße: ein Hotspot des Glücksspiels. Zwei Spielotheken finden sich hier, zwei weitere nur einen Katzensprung entfernt.
Will man verstehen, welche Dimensionen dieses Glücksspiel hierzulande hat, lohnt ein Blick in das „Jahrbuch Sucht“, das die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen jährlich herausgibt: 2015 wurden deutsche Geldspielautomaten mit 25 Milliarden Euro gefüttert. Zieht man die Auszahlungen der Gewinne ab, bleibt am Ende immer noch ein Bruttospielertrag von 5,8 Milliarden. Zum Vergleich: Die 18 Clubs der ersten Fußball-Bundesliga erwirtschafteten in der Saison 2015/2016 gemeinsam einen Umsatz von gerade einmal 3,2 Milliarden Euro.
„Die Sucht ist nur eine Armlänge entfernt“, sagt Karl Schmidt. Er kennt die Sogkraft der leuchtenden Automaten, muss ihr jeden Tag aufs Neue widerstehen. Ich treffe ihn in einer Selbsthilfegruppe, den „Gamblers Anonymus“, im Gemeindezentrum St. Pauli. Karl Schmidt heißt in Wirklichkeit anders, seine Geschichte aber ist real. „Am Hafen hab ich aus Langeweile zum ersten Mal einen Automaten mit zwei Mark gefüttert“, erinnert sich der Rentner. Gut 50 Jahre ist das nun her. „Plötzlich blinkte das Ding und machte viel Lärm, Hafenarbeiter kamen und sagten: ‚Jetzt musst du mehr reinstecken!‘“ Nach einigen Minuten verlässt Karl Schmidt den Automaten mit 160 Mark. „Ich war Auszubildender und hatte meine Ehe gleich mit einem Kind begonnen. Das war viel Geld.“ Das junge Paar feiert ausgelassen.
Was dann folgte, sei die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen. Er verschränkt seine Finger und drückt die Daumen so fest gegeneinander, immer wieder, dass die Kuppen ganz blass werden. „18 Jahre hab ich meine Frau und Kinder belogen. Wie oft saß ich im Auto, nur um mich an die letzte Ausrede zu erinnern, damit die Geschichten zusammenpassen“, sagt Schmidt. Er spielt bis zum Bankrott und darüber hinaus, nimmt Kredite bei mehreren Banken auf, wird kriminell. Seine Situation wird immer verzweifelter. „Einen Samstag schickt mich meine Frau zum Brötchenholen, aber ich wusste überhaupt nicht, woher ich das Geld nehmen sollte.“
Durch eine Radiosendung wird er auf eine Selbsthilfegruppe aufmerksam. „Ich hab mir gesagt, entweder ich geh da jetzt hin, oder ich fahr gegen ne Brücke.“ Er schafft den Schritt in die Gruppe, sie wird zu seiner Rettung. Nun ist er gut 30 Jahre „trocken“. Wie Alkoholiker beschreiben auch Spieler mit diesem Wort ihre Zeit ohne Suchtmittel.
Mediziner bezeichnen Karl Schmidt als „pathologische Spieler“, als Menschen mit krankhaftem Suchtverhalten. In Studien wird oft auch die Kategorie „problematisches Spielverhalten“ angeführt. Diese Spieler gelten noch nicht als süchtig, aber als stark gefährdet. Eine repräsentative Erhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) aus dem Jahr 2016 ergab, dass 0,8 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen zumindest ein problematisches Spielverhalten haben. Umgerechnet auf die Einwohnerzahl der Stadt Bremen bedeutet das: Hier leben etwa 4.400 Menschen, die durch Glücksspiel akut suchtgefährdet sind.
Ein bundesweit gefragter Experte zu diesem Thema ist Professor Gerhard Meyer, der Leiter der Bremer Fachstelle Glücksspielsucht an der Universität Bremen. Er kann die Suchtgefahr, die von Geldspielautomaten ausgeht, noch mit einer weiteren Zahl untermauern. „Wir wissen aus einer Studie der BZgA aus dem Jahr 2015, dass 13 Prozent der Automatenspieler zumindest ein problematisches Spielverhalten zeigen. Beim Lotto waren es hingegen nur 1,9 Prozent.“ Ursache sei die schnelle Abfolge der Spielvorgänge. Während der Lottospieler ein oder zwei Mal pro Woche spiele, werde der Automatenspieler im Sekundentakt mit Gewinn und Verlust konfrontiert. So entstehe ein höheres Suchtpotenzial.
Im „Jahrbuch Sucht“ zieht Meyer eine Verbindung zwischen den hohen Umsätzen der Branche und dem hohen Suchtpotenzial. 80 Prozent des Umsatzes an Geldspielgeräten käme aus den Taschen von Süchtigen, die „den Kern des Geschäftsmodells“ darstellten. Er verweist auf die hohen Schulden der pathologischen Spieler. Unter jenen, die sich 2015 in ambulante Behandlung begaben, waren 16,1 Prozent mit 25.000 Euro oder mehr verschuldet. „Es stellt sich die Frage, ob das Geschäftsmodell der Spielhallen ohne süchtige Spieler überhaupt tragfähig wäre“, sagt Meyer.
Während Meyer das große Ganze im Blick hat, ist Sabine Winter dort, wo die Schulden gemacht werden. Sie arbeitet in einer der vier Spielotheken an der Pappelstraße – Vollzeit, 40 Stunden in der Woche. Dass sie hier nur anonym zitiert wird, ist eine Auflage ihres Chefs. Die Inhaber der Spielotheken, sie sind wie Geister. Nach über einem Dutzend Besuchen in insgesamt sechs Spielhallen ist dies der einzige Funken Offenheit: Sabine Winter darf mit uns sprechen, alles andere soll verschleiert bleiben.
In Zeitnot ist die 56-Jährige nicht, als sie es sich auf einem der schwarzen Barhocker bequem macht. In ihrem Rücken spielt eine Stammkundin, ansonsten ist niemand im Laden. Gähnende Leere ist die Regel in dieser Spielhalle – wenn nicht gerade Monatsanfang ist. Auf zahllosen Bildschirmen flimmern die unterschiedlichen Spielvarianten in immer gleichen Animationen. Spieltasten, Münz- und Scheineinwurf schillern in bunten Farben. Ansonsten ist es schummrig bis dunkel, auf einer Skala irgendwo zwischen Kneipe und Disco. „Richtige Spieler meinen, die Automaten zu verstehen“, sagt Winter. „Gleich spuckt er was aus, sagen sie, aber das ist eine Maschine!“
Winter klatscht mit der Hand energisch auf ihr Bein. Dann klimpert der Automat hinter ihr, er will gar nicht mehr aufhören. Ein Schwall an Münzen füllt ein Auffangbecken vor den Füßen der Kundin. Sie hat gewonnen. Doch da ist keine Gefühlsregung, kein Jubeln, kein Aufschrei, gar nichts. Kommentarlos schaufelt die Spielerin die Zwei-Euro-Stücke in eine Art Eisbecher und bringt ihren Gewinn zu Sabine Winter. „Einmal eintauschen?“ Ein kurzes Nicken ersetzt die Antwort. Winter öffnet eine eiserne Klappe neben ihr, die Münzen verschwinden und verwandeln sich in Scheine. 180 Euro. „Bitteschön!“
„Geld, Gewinne – das ist wie eine gute Flasche Wein für einen Alkoholiker“, sagt Thomas Bulmahn. Auch Spieler hätten ein Suchtgedächtnis. Bulmahn ist trockener Spieler. Seit ihn eine Selbsthilfegruppe aus dem letzten Rückfall führte, beteiligt er sich an der Leitung ihrer Treffen, hilft anderen Süchtigen. Der 48-Jährige möchte seine Geschichte unter seinem richtigen Namen erzählen.
Eine Seltenheit, denn viele Süchtige haben große Angst, wiedererkannt zu werden. Auch Bulmahn belog seine Frau, als er vor acht Jahren seinen letzten Rückfall erlebte. „In der Spielhalle bin ich für mich allein und muss niemanden etwas erzählen“, sagt der Vater von drei Kindern. Abtauchen in eine andere Welt, für ein paar Stunden nicht an die vielen Probleme denken, das zog ihn wieder und wieder zu den Automaten. „Egal ob im Beruf oder in der Familie, überall werden Ansprüche an dich gestellt, es entsteht permanenter Leistungsdruck. Die Halle war für mich Erholung.“ Doch der Aufwand, das Spielen geheim zu halten, macht das Leben in der realen Welt noch anstrengender. So steigt der Druck, abgebaut durch die nächste Flucht in die Spielhalle. Ein Teufelskreis entsteht.
Aufgewachsen ist Bulmahn in einer Pflegefamilie. „Es war eine gute Familie, aber ich habe mich nie ganz zugehörig gefühlt. Ich war spürbar anders als meine Pflegegeschwister“, erzählt er. So zieht es ihn schon mit 17 Jahren in die erste eigene Wohnung. „Es war ein Lebensstil, den ich mir als Azubi eigentlich gar nicht leisten konnte“, sagt er. Mit Gewinnen aus den Automaten habe er versucht, das auszugleichen. Eine fatale Idee. Vor dem absoluten Kollaps bewahren ihn seine Pflegeeltern. Sie zahlen zur Not die Miete, übernehmen die Verwaltung seiner Finanzen, zahlen Bulmahn ein Taschengeld. Die Schulden habe er mittlerweile zurückgezahlt, betont Bulmahn.
Über 20 Jahre spielt er, mal mehr, mal weniger. Vor acht Jahren zwingt ihn ein dramatischer Rückfall zum Handeln. „Es stand alles auf dem Spiel: Frau, Kinder, Haus, Job. Ich hatte eine Scheißangst, alles zu verlieren“, sagt Bulmahn. Zunächst geht er in eine Suchttherapie, dann in eine mehrwöchige psychosomatische Therapie. „Da wurde ein Riesenfass aufgemacht, das war traumatisch für mich“, erinnert er sich. Doch er nimmt eine Erkenntnis mit: „Es sind tiefer liegende Probleme, die ich mit dem Spielen kompensiere.“
Auch ich habe inzwischen Geld an Automaten verspielt. Acht Euro. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie es sich anfühlt, 25.000 Euro Schulden zu haben. Wie es sich anfühlt, derartige Summen zu verspielen. Aber ich weiß, wie es sich anfühlt, zu gewinnen. Ich gehe an den zweiten Automaten. Zwei Euro sind innerhalb weniger Minuten verspielt. Ich werfe noch mal zwei Euro in den Automaten, und, was soll’s, noch einen weiteren Euro hinterher. Ich wähle ein Spiel mit einem Fischer. Egal, ob ägyptischer Gott Horus, eine Hexe aus dem Mittelalter, oder eben ein Fischer, das Prinzip ist immer das Gleiche: Triff möglichst viele gleiche Symbole und du gewinnst etwas. Je „besser“ das Symbol, desto höher der Gewinn. Mäßig unterhalten tippe ich immer wieder die Taste, verspiele in Zehn-Cent-Schritten mein Guthaben.
Dann blinken mich drei goldene Symbole an. „Sonderspiel“ erscheint auf dem Bildschirm. Eine Melodie schallt mir entgegen. Was ist das? Jackpot? Impulsiv wippen Hände und Kopf im Takt der Musik. Tatsächlich, bei den Sonderspielen sind die Gewinnchancen viel besser. Nach den Extrarunden zeigt mein Zähler einen Gewinn von 2,90 Euro an – bei zehn Cent Einsatz pro Spiel. Wow! In meinem Kopf beginnt es zu rattern. Hätte ich mit zwei Euro den Maximaleinsatz gewählt, stünden dort nun 58 Euro, der Gegenwert eines sehr guten Abends. Und da geht noch so viel mehr. Sogleich erhöhe ich den Einsatz auf 50 Cent. More risk, more fun!
Es ist dieser kleine Glücksmoment, der sich mit aller Macht in mein Bewusstsein gebohrt hat. All die Tristesse, die diese Automaten umgibt, diese Hürde, die einmal zwischen mir und den Spielotheken war, sie ist verschwunden. Wenige Tage später, in der Tequila-Bar, betrunken und allein, kann ich dieser Erinnerung widerstehen. Diese Teufelswerkzeuge, sie werden mich wohl in Zukunft noch öfter anzwinkern. Und wehe, wenn ich einmal wirklich gewinnen sollte.
Text: Björn Struß
Foto: Lena Möhler