Year: 2024

#122 ACHTERDIEK

Titelfoto: Torsten Schmidt / Foto im Hintergrund: Nora Elbrechtz EDITORIAL: Gestern noch Stadtrand Liebe Leser:innen, die Chancen stehen ganz gut, dass Sie vor dem Blick in dieses Heft noch nie von Achterdiek gehört haben. Bei uns in der Redaktion ging es jedenfalls gleich mehreren Leuten so – und das passiert uns eher selten bei einer Straße dieser Länge. Es kann auch nicht daran liegen, dass hier nichts los wäre. Manchen ist hier sogar viel zu viel los: Entlang der Straße wurden immer neue Wohngebiete und Büroflächen erschlossen, ohne dass sie verkehrstechnisch entlastet wurde. Zu den Anlieger:innen kommen weitere, denen Achterdiek als Schleichweg durch den Bremer Osten dient. Auf unseren eigenen Touren haben wir uns wie immer nach möglichst unterschiedlichen Geschichten umgesehen – und das auch mit Erfolg. Zum Beispiel haben wir uns beim Blick auf den Golfplatz gefragt, was eigentlich dran ist an den Vorurteilen vom Reiche-Leute-Sport. Und siehe da: Zumindest hier stimmt das gar nicht (Seite 8). Mit der Kamera unterwegs waren wir bei der Hundeschule und haben deren vierbeinige Gassi-Azubis bei der Arbeit beobachtet (Seite …

#121 CONTRESCARPE

Titelfoto: Wolfgang Everding / Foto im Hintergrund: Kim Mayer EDITORIAL: Ins grüne Herz der Stadt Liebe Leser:innen, Bremen hat 4.455 Straßen, Wege und Plätze. Nicht alle sind so berühmt wie die Böttcherstraße, deren Name eine richtige Marke im touristischen Portfolio des Stadtstaates ist. Wo hingegen etwa Kribiweg oder Korbweide liegen, müssten Sie wahrscheinlich erst mal erklären, wenn Sie sich dort verabreden wollten. Mit der Contrescarpe, um die sich unsere aktuelle Ausgabe dreht, ist es kompliziert. Im Uniseminar, dem Sie und wir dieses Heft verdanken, war der Name zumindest ein Begriff, den genauen Verlauf allerdings hatten wir auch nach mehreren Wochen noch nicht so hundertprozentig drauf, weil die Straße zwischen Hauptbahnhof und Altstadt zwar ziemlich prominent liegt, hier aber doch eigenwillige Wege einschlägt. Die meisten reden ohnehin eher von „den Wallanlagen“ und diesem „Zickzackweg“ am Ufer des alten Stadtgrabens. Und eben hier waren die Studierenden nun unterwegs und haben zwischen viel Geschichte nach Geschichten gesucht, die es zu erzählen gilt. Und sie haben auch welche gefunden, wie etwa beim Teppichhändler Abnussi, dessen wohl bestes Geschäft wirtschaftlich …

„KAFFEE? MILCH? ZUCKER?“

#50 DIE STRASSE. Eine Runde durch die Bahnhofsvorstadt mit [Martin], der durch einen Ein-Euro-Job zum Streetworker wurde Der letzte Dienstag im Mai 2017, ein sonniger Morgen. Menschen hasten auf dem Vorplatz des Bremer Hauptbahnhofs zur Arbeit. Mitten unter ihnen ist [Martin], 44. Sein Gang ist fest, aber nicht überaus schnell. Sowieso ist er etwas ruhiger und in sich gekehrt. Alleinunterhalter wird er in diesem Leben nicht mehr, das steht fest. Sein Ziel ist das Café Papagei, unweit der Bremer Discomeile. Kurz nach neun Uhr steht er an der Theke und bestellt wie jeden Tag eine kleine Cola. Danach ein kurzer Schnack mit Gästen des Cafés und seinen Kollegen [Jörg] und [Jonas]. Dabei dreht er sich eine Zigarette. [Martin] erfährt, dass er heute allein „seine Runde machen“ muss. Er gehört seit zehn Monaten zum Team der Streetworker der Inneren Mission. Als Ein-Euro-Jobber ist er, wie schon sein Kollege [Jörg], zum Team gestoßen. Um halb zehn wird er unruhig, sein Dienst auf dem Bahnhofsvorplatz beginnt. Er stopft vier Thermoskannen Kaffee in den Rucksack. Kurze Kontrolle, ob er …

#120 FINDORFFSTRASSE

EDITORIAL: Bremer Straße mit drei F Liebe Leser:innen, da haben wir es auf dem Weg in unsere kleine Sommerpause doch noch wieder ins Zentrum geschafft – und diesmal wirklich so mittenrein. Die Findorffstraße liegt nahe dem Hauptbahnhof und begrenzt Bürgerweide, Messegelände und (für die meisten vielleicht am interessantesten) das Freimarktareal im Nordwesten. Als Tunnel verbindet die Straße zudem zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen der Mitte Bremens: die nördlich und die südlich der Gleise nämlich. Eine reine Durchfahrtsstraße ist die Findorffstraße darum aber nicht. Das Kulturzentrum Schlachthof, dem wir hier gleich zwei Texte gewidmet haben, ist vielmehr ein Ziel für inzwischen mehrere Generationen von KonzertgängerInnen. Wir werfen einen Blick auf die Geschichte des Kulturzentrums (Seite 22) und lernen das neue Bookingteam kennen, das im April seinen Dienst aufgenommen hat (Seite 24). Eine kulturelle Adresse ganz anderer Art ist das Bremer Rundfunkmuseum, dem wir ebenfalls einen Besuch abgestattet haben (Seite 28). Dass es auch an der weithin bekannten Findorffstraße noch Geheimnisse zu entdecken gibt, haben wir im Tunnel gelernt, wo plötzlich scheinbar im Nichts Unmengen angeschlossener Fahrräder zu …

EIN SCHNACK MIT ALEXANDER

#33 FALKENSTRASSE. Eine Einladung führte ihn nach Bremen, wo er seit acht Jahren auf der Straße lebt Wie man leicht hören kann, komme ich aus dem Rheinland, genauer gesagt aus Köln. Dort habe ich die ersten 25 Jahre meines Lebens gelebt. „Gewohnt“ kann man nicht unbedingt sagen, denn seit meinem 17. Lebensjahr lebe ich auf der Straße. Damals bin ich bei meiner Mutter rausgeflogen, wir hatten uns ständig in den Haaren wegen des Kiffens und des Alkohols. Irgendwann hat es geknallt und ich stand auf der Straße. Zu meinem Vater konnte ich nicht, den hatte ich nie kennengelernt. Also bin ich umhergezogen, habe im ständigen Wechsel bei Freunden gewohnt oder eben auf der Straße gelebt. Nach der Sonderschule habe ich eine Lehre als Maler und Lackierer angefangen. Nach eineinhalb Jahren habe ich aber abgebrochen und mich stattdessen mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Als meine Alkoholprobleme immer heftiger wurden, habe ich eine Therapie gemacht und auch durchgezogen. Danach bin ich weg aus Köln, ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel. Nach Bremen kam ich dann aus Zufall, ich …

„DAS EINZIGE WAS MICH HIER HÄLT,
IST DIE ERDANZIEHUNGSKRAFT“

#111 SCHARNHORST­STRASSE. Kurz nach seinem 50. Geburtstag betrachtet unser Verkäufer Marco sein Leben. Er hat noch viel vor in den nächsten Jahren Es ist ein regnerischer Samstagvormittag in der Findorffer Hemmstraße, eine von Marcos vielen Heimaten. Wir flüchten erst mal ins Trockene. Mit Blick auf die Martin-Luther-Kirche beginnt er über eine heiße Schokolade hinweg zu erzählen. Auf seine Geburt in Wittenberg folgt eine Kindheit im Berliner Osten: Endstation S1, Oranienburg. Diese Zeit prägt ihn, das Leben in der DDR fühlt sich nach Gefangenschaft an. Es hat zwar alles seine Ordnung, aber Marco will wissen, was hinter der Mauer passiert. Im Geografieunterricht der fünften Klasse wird ihm eine Weltkarte gezeigt. Er bereist Hauptstädte mit dem Finger, die für ihn nur Punkte hinter der Grenze sind, welche nicht zu überwinden scheinen. Dann endlich Neuland. Kurz vor dem Mauerfall flieht die Familie per Trabant über Österreich und Ungarn schließlich nach Bremen. Damals ist Marco 17. Sein Berlinern wird schnell zum „sauberen Bremer Hochdeutsch“, Marco kommt an, aber irgendwie doch nie so ganz. Nach dem Abitur überwältigt ihn das Lebensgefühl …

#119 ALTE HAFENSTRASSE

EDITORIAL: Klein und allein Liebe Leser:innen, sie sind klein, allein und tauchen immer mal wieder auf: historische Häuser aus der Alten Hafenstraße in Vegesack. Wir haben uns in dieser Ausgabe einen lang gehegten Wunsch erfüllt, indem wir die Straße – oder jedenfalls Teile davon – auch fotografisch einmal durchs Heft laufen lassen. Wenn Sie durch diese Ausgabe blättern, begegnen sie Ihnen immer mal wieder, die denkmalgeschützten Häuser, versehen mit dem Baujahr. Es ist ein kleines Experiment und – wie wir festgestellt haben – gar nicht so leicht umzusetzen. Denn wie unsere Fotografin Beate C. Köhler, die die Häuser als Miniaturen für Sie eingefangen hat, bemerkte: Ganz so einfach ist das gar nicht, eine ganze Straße abzufotografieren. Immer steht etwas davor: eine Mülltonne, ein geparktes Auto, nur selten trifft man die Häuser pur und in ganzer Schönheit an. Deshalb erheben wir auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, hoffen aber, die Bilder machen Ihnen Appetit auf einen Ortsbesuch mit Wiedererkennungswert. Was Sie sonst noch zur Vorbereitung Ihres Vegesack-Besuchs wissen müssen, finden Sie natürlich ebenso in dieser Ausgabe. Da …

#118 TEERHOF

EDITORIAL: Reif für die Insel Liebe Leser:innen, Bremen ist eine Stadt am Wasser, das wissen Sie natürlich. Aber während etwa in unserer letzten Ausgabe über die Flughafenallee davon nur wenig zu mer­ken war, gilt es für diese hier umso mehr. Der Teerhof, die kleine Halb­insel zwischen Schlachte und Neustadt, ist wahrscheinlich das wässrigste Quartier der Stadt. Als spitzes Ende des Stadtwerdersliegt die Straße sozusagen mitten in der Weser, oder genauer gesagt: zwischen dem Fluss und seinem Nebenarm. Besonders viel zu sehen ist davon allerdings nicht, wenn man erst mal da ist. Links wie rechts ist die Straße von mehrstöckigen Häusern gesäumt und macht eher den Eindruck eines lang gezogenen Innenhofs. „Wie eine Burg“, hatten sich gleich mehrere unserer Redakteur:innen beim ersten Besuch notiert. Und tatsächlich: Diese Erfahrung der Abschottung ist uns auch über die ganze Recherche hinweg erhalten geblieben. Während wir direkt vorn an der Bürgermeister-Smidt-Brücke sowohl das Kunstmuseen Weserburg (Seite 8) als auch die benachbarte Gesellschaft für Aktuelle Kunst (Seite 20) sehr ergiebige Einblicke in zeit­genöss­ische Malerei und Installation gewinnen konnten, ist uns der hintere Teil der …

#117 FLUGHAFENALLEE

EDITORIAL: Ein Flug nach Irgendwo Liebe Leser:innen, diese Ausgabe fing schon bei der Planung zünftig an: Zur Redaktionskonferenz kam eine unserer Autor:innen zu unserer Überraschung mit einem großen Rollkoffer. Sie wollte ihn eigentlich vorher schnell zur Reparatur bringen – ein Rad war kaputt –, allerdings sind Ersatzteile für ältere Koffer schwer zu bekommen und sie verließ das Geschäft unverrichteter Dinge mit nach wie vor kaputter Rolle. Als unfreiwilliges Accessoire unserer Planungsrunde sorgte das Gepäckstück gleich für Reisefieber. Und das passt ja auch: Denn wer zur Flughafenallee fährt, zieht meistens ebenfalls einen Koffer hinter sich her. Und selbst wenn eine Rolle kaputt ist und Ziehen nicht geht: Lange Strecken tragen muss man ihn auf dem Weg zum Airport sowieso nicht. Das liegt auch an der Straßenbahn, mit der man so bequem wie wohl kaum irgendwo sonst in nur wenigen Minuten vom Stadtzentrum zum Flughafen kommt. Was eine BSAG Fahrerin so erlebt, die täglich zwischen Uni und Flughafen pendelt und an der Wendeschleife nur knappe sechs Minuten Pause hat, haben wir sie während einer Fahrt zum Airport …