Titelfoto: Beate C. Koehler / Foto im Hintergrund: Wolfgang Everding
EDITORIAL: Endspurt
Liebe Leser:innen,
dieses Heft fing ganz gemütlich an – und wurde dann doch noch zum schweißtreibenden Kraftakt. Wie das kam? Nun, wir haben diesmal sehr zeitig angefangen zu planen, damit wir diesen besonderen Ort, das Bremer Rathaus, auch mit der gebotenen Ausgeruhtheit würdigen können. Außerdem, so dachten wir, steht das Rathaus ja selbst ungerührt seit Jahrhunderten an Ort und Stelle – was soll also passieren? Also stiegen unsere Autor:innen und Fotograf:innen schon im Sommer in den spektakulären Dachstuhl (S. 8), vereinbarten früh einen Interviewtermin mit dem viel beschäftigten Bürgermeister Andreas Bovenschulte (S. 12) und machten sich kunsthistorisch fundierte Gedanken zu den Wandmalereien im Bacchuskeller (S. 24). Für die Fotostrecke aus besseren Zeiten (S. 16) stieg unser Bildredakteur Jan Zier tief ins Archiv – und kam ins Schwärmen. Aber dann kam es doch noch mal dicke: Weil ein Rathausheft einfach nicht auskommt ohne eines dieser besonderen hanseatischen Highlights, die dort jährlich stattfinden, besuchten wir Anfang November – und damit schon mitten in der Layout- und Korrekturphase – den traditionellen Hochseeseglerabend der Segelkameradschaft „Das Wappen von Bremen“ (S. 28). Schließlich eilten wenige Tage vor Andruck eine Autorin und ein Foto&shgraf auch noch zur „Nacht der Jugend“ (S. 20).
Und nun halten Sie das alles hier in den Händen, ist das nicht unglaublich? Deshalb gilt unser besonderer Dank an dieser Stelle unserer fantastischen Layouterin Ann-Kristin Hitzemann und unserem nicht aus der Ruhe zu bringenden, unbestechlichen Lektoratsteam von der Textgärtnerei. Das hier ist Teamwork, immer – und manchmal auch ganz besonders.
Viel Freude mit dieser bunten Hanseatenmischung wünschen Ihnen
Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann und das Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
UNTER DACH UND FACH
Was sich unter dem Dach des Bremer Rathauses befindet, lässt sich nur mit fachkundiger Begleitung erfahren.
Seite 8
Text: Ulrike Plappert / Fotos: Wolfgang Everding
EIN FREUND VON ERDBEERMARMELADE
Bürgermeister Andreas Bovenschulte spricht im Interview über Welterbe und Senatskonfitüre, Obdachlosigkeit und seinen Lieblingsort
Seite 12
Interview: Nora Elbrechtz / Fotos: Beate C. Koehler
MIT DEN TOTEN LEBEN
Bei der Nacht der Jugend teilen Zeitzeug:innen ihre erschütternden Erfahrungen
Seite 20
Text: Maja Wahl / Fotos: Wolfgang Everding
GROTTIG
Unsere Autorin ist Kunsthistorikerin – und fällt ein gnadenloses Urteil über die Malereien im Bacchuskeller
Sollten Sie wider Erwarten keine Verkaufsperson antreffen, können Sie Ausgaben in Ausnahmefällen online per Einzelbestellung erwerben. Die aktuellste Ausgabe ist jedoch nur auf der Straße zu erwerben.
Für alle Auswärtigen sowie für Bremer Vereine, öffentliche Einrichtungen, Kneipen, Cafés, Hotels, Arztpraxen, Frisiersalons, Anwaltskanzleien etc. gibt es die Zeitschrift der Straße übrigens auch im Abo.
🎄🎁 Am 24. & 25. möchten wir mindestens 150 Care Pakete sammeln, und für Menschen, die von Armut betroffen sind und auf der Straße leben, an den Szenetreffpunkten in Bremen verteilen.
Inhalt
Ihr könnt uns dabei unterstützen! Der Inhalt dieser Care Pakete sollte sich an einem Wert von etwa 15–20 € orientieren und kann wie folgt bestückt werden:
weihnachtliche Süßigkeiten, Gebäck (kein Kuchen) Schal, Handschuhe, Mütze (Strickware, möglichst einfarbig) Kleine Hygieneartikel (Duschgel, Seife, Shampoo, Taschentücher, Tampons, Binden) Päckchen Tabak inkl. Blättchen oder Zigaretten (beliebt) persönliche Gruß- oder Weihnachtskarte
Natürlich sind Care Pakete mit geschlechtsspezifischen Inhalten möglich. Wir bitten, die Pakete in jedem Fall mit Geschenkpapier einzupacken und in einer tragbaren Stoff- oder Papiertüte abzugeben.
Abgabe
Die Abgabe erfolgt bis einschließlich zum 20.12.2024 im 📍 Café Papagei Auf der Brake 2–4 Mo–Fr, 9–15.30 Uhr
Titelfoto: Torsten Schmidt / Foto im Hintergrund: Nora Elbrechtz
EDITORIAL: Gestern noch Stadtrand
Liebe Leser:innen,
die Chancen stehen ganz gut, dass Sie vor dem Blick in dieses Heft noch nie von Achterdiek gehört haben. Bei uns in der Redaktion ging es jedenfalls gleich mehreren Leuten so – und das passiert uns eher selten bei einer Straße dieser Länge. Es kann auch nicht daran liegen, dass hier nichts los wäre. Manchen ist hier sogar viel zu viel los: Entlang der Straße wurden immer neue Wohngebiete und Büroflächen erschlossen, ohne dass sie verkehrstechnisch entlastet wurde. Zu den Anlieger:innen kommen weitere, denen Achterdiek als Schleichweg durch den Bremer Osten dient.
Auf unseren eigenen Touren haben wir uns wie immer nach möglichst unterschiedlichen Geschichten umgesehen – und das auch mit Erfolg. Zum Beispiel haben wir uns beim Blick auf den Golfplatz gefragt, was eigentlich dran ist an den Vorurteilen vom Reiche-Leute-Sport. Und siehe da: Zumindest hier stimmt das gar nicht (Seite 8). Mit der Kamera unterwegs waren wir bei der Hundeschule und haben deren vierbeinige Gassi-Azubis bei der Arbeit beobachtet (Seite 14). Etwas überrascht waren wir zunächst über die daran anschließende Lisa-Keßler-Straße, vor allem weil wir noch nie von dieser Frau gehört hatten: ein sträfliches Versäumnis, wie wir inzwischen wissen (Seite 12).
Wir haben jedenfalls viel gelernt am Achterdiek und sind froh, uns dieser Herausforderung gestellt zu haben. Und das übrigens in sehr kleiner Besetzung, wie Sie auf den kommenden Seiten sehen werden. Was wir auch gleich zum Anlass nehmen, um noch einmal daran zu erinnern: Wir sind eine offene Redaktion und freuen uns immer über neue Gesichter und auf Menschen mit Lust am Schreiben! Denken Sie mal drüber nach – und bis dahin wünschen wir Ihnen wie immer eine spannende Lektüre.
Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann und das Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
GOLFSPIELER SIND DEMÜTIG
Von wegen elitär: Auf dem Golfplatz trifft sich die Mitte der Gesellschaft
Seite 8
Text: Ulrike Plappert / Foto: Torsten Schmidt
ALLE KANNTENSCHWESTER LISA
Nach Lisa Keßler wurde eine Straße benannt, aber wer war diese Frau?
Seite 12
Text: Andreas Schweers / Foto: Oberneuland-Sammlung, Bürgerverein Oberneuland-Rockwinkel e. V.
TEAMWORK
Bildstrecke
Seite 14
Fotos: Nora Elbrechtz
SPRECHERIN DER GUTEN MIKROBEN
Andrea de Moll berät über effektive Mikroorganismen
Seite 18
Text: Andrea Schweers / Fotos: Norbert Schmacke
ACHTERDIEKSEE – EIN FOTOGRAFISCHES GEWÄSSERPORTRÄT
Unsere Fotografin Beate C. Koehler arbeitet schon lange zu Wasseroberflächen und hat den Achterdieksee porträtiert
Seite 22
Text & Fotos: Beate C. Koehler
„WOHNUNGSLOSIGKEIT SOLLTE UNS ALLE WAS ANGEHEN“
Unsere Social-Media-Fachkraft Melis Sivasli im Gespräch über die Zeitschrift der Straße im Netz
Seite 28
Protokoll: Azra Mahmutagic / Foto: Wolfgang Everding
Ab dem 4. November 2024 bei unseren Verkaufspersonen auf Bremens und Bremerhavens Straßen erhältlich!
Die Verkaufspersonen der Zeitschrift der Straße haben fest zugewiesene Verkaufsplätze. An diesen Standorten können Sie unsere Verkaufenden antreffen:
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#92 H.-H.-MEIER-ALLEE. In den Kampa-Häusern leben seit Jahrzehnten Geflüchtete immer neuer Kriege und Konflikte. Was für die Behörden eine Übergangslösung ist, nennen andere ihr Zuhause
Beim nachträglichen Zählen beginnt man doch zu staunen: 2, 3, …, 6, 7, 8, …, 17 – mehr als 20 Kinder und Jugendliche sind uns beim Besuch der „Kampa-Häuser“ begegnet. Als wir weggehen, wuseln mindestens zehn der Jüngeren auf dem kleinen Gehweg herum, sprechen uns an und sind so unbefangen neugierig und fröhlich, dass es doch noch kein Tschüss geben kann. Wie alt bist du? Und du? Kannst du von mir ein Foto machen? Von mir auch! Kann ich auch mal ein Foto machen? Und damit geht’s erst so richtig los.
Aber was sind „Kampa-Häuser“? Sie stehen am Ende der H.-H.-Meier-Allee, acht einstöckige Holzdoppelhäuser mit ausgebautem Dach, benannt nach ihrem Hersteller. Die Fertigbauten dienen als Übergangsunterkünfte. Die senatorische Sozialbehörde ließ sie Anfang der Neunzigerjahre aufstellen, als der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion die sogenannten Spätaussiedler nach Deutschland führte. Die Häuser sind stabiler als Container oder Modulbauten, günstig und schnell zu errichten.
Und obwohl sie nicht lange stehen sollten, sind sie immer noch da. Denn kurz nach ihrer ersten Nutzungsgeneration brachten die kriegerischen Balkan-Konflikte und die Auflösung Jugoslawiens viele Geflüchtete nach Bremen. Sozialbehördensprecher Bernd Schneider erklärt zur weiteren Entwicklung: „Nach zunächst rückläufigen Migrantenzahlen stiegen sie ab 2011 durch die Ereignisse in Syrien wieder an. Seitdem stiegen sie exponentiell – bis zum Höchststand 2015.“ Zahllose Menschen aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern flohen vor Kriegen, Hunger und Zerstörung nach Europa. Die Häuser wurden weiter gebraucht und ihre Standzeit verlängert.
Schauen wir uns ihre Lage in der H.-H.-Meier-Allee näher an: Längs zwischen den Bahngleisen der Linie 6 und der Kleingartenanlage „Kornblume“ liegen die Häuser am Straßenende für sich. Dort steht sonst nichts, weil das Gebiet eigentlich kein Bauland ist. Mit roten Dächern und in freundlichem Gelb, Hellblau und Weiß erinnern die Kampa-Häuser an hübsche Sommerbehausungen. Dabei sind sie winterfest und auf 95 Quadratmetern mit fünf Zimmern, Küche und Bad recht geräumig. Trockenplätze für Wäsche, kleinformatige Terrassen, ein schmaler Gartenstreifen sowie Schuppen gehören dazu. Autofreiheit ist garantiert, denn die Straße endet für Kfz noch vor der Siedlung. Und die große Fahrradmeile nach Horn verläuft auf der anderen Gleisseite. Vor den Häusern gibt es nur den schmalen Fußweg und einen Fahrradweg hinter dem Grünstreifen: ein Kinderparadies.
Wer dort vorübergehend wohnen darf, entscheidet die Sozialbehörde als Eigentümerin. Sie sucht mindestens achtköpfige Familien aus Übergangswohnheimen aus, mit deren Betreuung wiederum die Arbeiterwohlfahrt (AWO) beauftragt wird. Die Wohnerlaubnis ist befristet, zurzeit auf 24 Monate. In Ausnahmefällen verlängert die Behörde zwar, aber Bernd Schneider betont: „Nutzung so kurz wie möglich!“ Denn die Menschen sollen schnellstmöglich „normal“ wohnen, um sich besser integrieren zu können.
An diesem schwülwarmen Spätsommertag möchten wir mehr über das Wohnen dort erfahren. Aufgehängte Wäsche und ein paar Kinder verraten zunächst noch wenig über das Leben hier. Aber vorsichtiges Anklopfen öffnet Türen.
Hier leben Menschen aus verschiedensten Nationalitäten. Wir lernen drei syrische Familien kennen. Die Verständigung ist kein Problem, denn die älteren Kinder sprechen gut Deutsch und übersetzen für die Eltern, wenn es nötig wird. Wie und wo sie das gelernt haben? In der Schule, mit anderen Kindern, draußen. Zur ersten Familie gehören sechs Kinder, in den anderen beiden leben jeweils sieben Töchter und Söhne. Alle wohnen gerne in diesen Häusern, erfahren wir. Wie ist das Leben? Die Zweitälteste ihrer Familie berichtet von ihrem Schulbesuch: Sie steht früh auf, auch wenn die Nächte nicht immer ruhig sind, weil manche [Kinder von nebenan] abends lange draußen bleiben. Die Wohnung aber findet sie: „perfekt!“ Obwohl ihr Vater arbeitet und Geld verdient, wohnt die Familie noch immer hier im Kampa-Haus. Sie suchen bereits seit vier Jahren, finden aber keine andere Wohnung. „Jedes Haus hier hat viele Geschichten“, sagt die 19-jährige Shahed, das älteste von sieben Kindern der [Familie nebenan]. Bevor sie hierherkamen, lebten sie unter beengten Verhältnissen im Übergangswohnheim. Schrecklich sei es dort gewesen, ganz anders als jetzt: „Wir haben hier ein Wohlgefühl!“, sagt Shahed und strahlt. Sie steht vor dem Fachabitur. Danach möchte sie vielleicht Architektin werden, oder jedenfalls erst mal ein Praktikum in dem Bereich machen.
Das ist Welten entfernt vom knappen Bericht, den uns ihr Bruder Aziz über die Zeit zuvor gibt – vor der Zeit in Deutschland: Mit 10 Jahren schlug er sich 2015 aus der Türkei, wohin die Familie geflohen war, über Griechenland nach Deutschland durch: allein, in 15 Tagen. Sein schlimmstes Erlebnis war die furchtbare Überfahrt in einem überfüllten Gummiboot. Er kann sich erinnern, dass er unten lag und bei hohem Seegang immer wieder andere auf ihn fielen. Sein Auge wurde verletzt, aber er schaffte es. In der Bundersrepublik bekam er Hilfe. Als seine Familie zwei Jahre später nachkam, hatte Aziz so viel Deutsch gehört und gesprochen, dass er Arabisch erst wieder üben musste. Auch der heute zwölfjährige Mustafa aus der [Familie nebenan] erinnert sich noch an den Krieg und Stationen der langen Flucht. 2015 hat die Familie Syrien über die Türkei verlassen, wo sie sich drei Jahre lang aufhielt. Mustafas Oma und ein Onkel blieben dort, die anderen leben seit 2018 in Deutschland. Sein Bruder Taim ist vier Jahre alt und stolz, dass er mitt lerweile in die AWO-Kita „Singdrossel“ gehen kann. Die befindet sich in einem der Häuser und ist auch anderen Kindern zugänglich.
Hinter jeder Tür gibt es hier andere Familien- und Fluchtgeschichten zu hören.
Aber die Zeit läuft weiter: In vier Monaten sollen zwei der Familien ihre Wohnung geräumt haben. Nicht nur Mustafa träumt davon, statt dessen bald ein schönes Haus zu finden.
Das derzeit größte Problem aller Familien dort ist wohl, dass ihre Wohnfrist zwar längst abgelaufen ist, sie aber entweder keine Wohnungen finden oder sie dann nicht bekommen. Shahed erzählt, dass sie einmal sehr gerne eine Wohnung von ungefähr 94 Quadratmetern genommen hätt en. „Uns hätte das gereicht, aber die wollen uns nicht.“ Die Wohnung sei zu klein für so eine große Familie. Auch ihre [Nachbar:innen] sind unsicher, wie es weitergeht. Alle haben Angst, ins Wohnheim zurück müssen, wenn sie nichts anderes finden.
Aber wie sieht es überhaupt aus mit Wohnraum in der Stadt? Auch urbremische Familien mit vier Kindern suchen oft jahrelang. Und weil es kaum große Wohnungen gibt, steigen die Preise immer weiter. Wie sollen da erst große Migrantenfamilien etwas finden? Das ist die zentrale offene Frage zum sozialen Wohnungsbau – und zwar für alle Suchenden unabhängig von Herkunft und Geschichte. Im „Wohnungsbaukonzept Bremen 2020“ des Bausenats von 2009 heißt es programmatisch, Bremen solle bis „2020 eine grüne Stadt am Wasser mit hohen Erholungs- und Umweltqualitäten“ werden „und eine sozial gerechtere“. Es lässt sich darüber streiten, ob das erreicht ist.
Das Problem ist bei der Sozialbehörde grundsätzlich bekannt. Tatsächlich gab es ja auch immer wieder Verlängerungen, was aber naturgemäß nur eine vorübergehende Lösung sein kann. Man versucht es aber an allen möglichen Ecken und Enden: „Seit 2015 vermittelt die AWO jährlich aus sämtlichen Übergangswohnheimen und unterstützt Geflüchtete bei der Wohnraumsuche“, sagt Sprecher Bernd Schneider. Außerdem verweist er auf die AiQ-Beratungsstellen „Ankommen im Quartier“, die es inzwischen in acht Bremer Stadtteilen gibt.
Doch zurück zu den Suchenden am Ende der H.-H.-Meier-Allee: Alle, mit denen wir hier sprachen, haben Unbeschreibliches erlebt. Als Zuhörende können wir nur eine leise Ahnung dieser Lebenswirklichkeit bekommen. Was zum Beispiel bedeutet es für Shaheds Familie, dass das einst schöne und hochkultivierte ar-Raqqa mit seinen 8.000 Jahre alten Siedlungswurzeln heute zu 80 Prozent zerstört ist? Dass zivilisiertes Leben dort kaum mehr existiert? Shahed ist eine von vielen, die in ihr Land zurückkehren wollen. Sie möchte in Deutschland etwas lernen, womit sie dann beim Wiederaufbau ihrer Stadt helfen kann. Auch dazu muss sie hier wohnen können.
Natürlich müssen sie Kompromisse eingehen und sich anpassen. Das beginnt bereits beim neuen Nachnamen, der dieser Familie auf dem Irrweg hierher sozusagen zugefallen ist. „Wir heißen jetzt K. mit Nachnamen. Aber das ist eigentlich nicht unser Name“, sagt Shahed, „doch jetzt heißen wir so.“ Wie kam das? Auf dem langen Weg nach Deutschland hat man den Namen dieser Familie mit dem einer anderen vertauscht. Die Familie nimmt es gelassen, sie haben Schlimmeres erlebt. Nur haben sie jetzt Schwierigkeiten, entferntere Verwandte besuchen zu dürfen, weil diese sie wegen des Namens nicht mehr Verwandte nennen. „Wenn wir von Familie sprechen, meinen wir mehr Menschen, als man hier meint. Nicht nur die Eltern und Kinder. Auch die Großeltern, Tanten und Onkel“, erklärt Shahed. In ar-Raqqa haben sie noch mit vielen in einem großen Haus gewohnt.
Namen haben Bedeutungen. Shahed bedeutet „Honig“ und Nurhan, der Name ihrer Mutter, gleicht einem Gemälde ihrer Ausstrahlung: „Sonnenlicht“. Vor den Häusern ist es nach zwei Stunden belebter. „Kommt ihr wieder?“, ruft ein Mädchen zum Abschied. Klar. Das muss bald sein, damit wir sie hier noch antreffen – den Honig, das Sonnenlicht und die vielen anderen mit den poetischen Namen.
Text: Ulrike Plappert Nach ihrem Besuch in den Kampa-Häusern sagt sie: „Wir schaffen das“ ist wesentlich komplexer als gedacht. Sie dankt den Familien für ihre Offenheit.
Fotos: Wolfgang Everding Kennt die Kampa-Häuser von Baubeginn an. Auf so engem Raum mit neun Personen zu leben, erfordert große Disziplin und Rücksichtnahme.
Titelfoto: Wolfgang Everding / Foto im Hintergrund: Kim Mayer
EDITORIAL: Ins grüne Herz der Stadt
Liebe Leser:innen,
Bremen hat 4.455 Straßen, Wege und Plätze. Nicht alle sind so berühmt wie die Böttcherstraße, deren Name eine richtige Marke im touristischen Portfolio des Stadtstaates ist. Wo hingegen etwa Kribiweg oder Korbweide liegen, müssten Sie wahrscheinlich erst mal erklären, wenn Sie sich dort verabreden wollten. Mit der Contrescarpe, um die sich unsere aktuelle Ausgabe dreht, ist es kompliziert.
Im Uniseminar, dem Sie und wir dieses Heft verdanken, war der Name zumindest ein Begriff, den genauen Verlauf allerdings hatten wir auch nach mehreren Wochen noch nicht so hundertprozentig drauf, weil die Straße zwischen Hauptbahnhof und Altstadt zwar ziemlich prominent liegt, hier aber doch eigenwillige Wege einschlägt. Die meisten reden ohnehin eher von „den Wallanlagen“ und diesem „Zickzackweg“ am Ufer des alten Stadtgrabens. Und eben hier waren die Studierenden nun unterwegs und haben zwischen viel Geschichte nach Geschichten gesucht, die es zu erzählen gilt.
Und sie haben auch welche gefunden, wie etwa beim Teppichhändler Abnussi, dessen wohl bestes Geschäft wirtschaftlich eher ein Rückschlag war (Seite 20). Hier in der Gegend haben wir auch den „Bremer Banksy“ getroffen, dessen illegal aufgestellte Bronzeskulptur eines Wohnungslosen mit Einkaufswagen für bundesweite Schlagzeilen gesorgt hat (Seite 24). Im Restaurant Greta’s wiederum haben wir gelernt, dass Genuss und Gesundheit einander nicht zwangsläufig widersprechen müssen (Seite 8). Und noch einiges mehr. Für uns hat sich der Ausflug ins gründe Herz der Stadt jedenfalls gelohnt – so wie der Erwerb dieser Ausgabe sich hoffentlich auch für Sie lohnen wird.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!
Jan-Paul Koopmann, Karolina Meyer-Schilf, das Medienpraxis-Seminar der Uni Bremen und das Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
WIE SCHMECKT DAS GLÜCK?
Ein Besuch im Greta’s, wo Genuss und Gesundheit zusammengedacht werden
Seite 8
Text: Emily Lucas / Foto: Wolfgang Everding
RUND UM DIE UHR
Die Wahrnehmung der Contrescarpe hängt stark von der jeweiligen Tageszeit ab
Seite 12
Texte: Leonie Bartelt, Emilia Kloth & Pia Schellenberger / Foto: Franc-Eric Bernhard
HINGABE,GEDULD UND EIN BISSCHEN MAGIE
Bildstrecke
Seite 14
Text & Fotos: Kim Mayer
DER TEPPICH VON HERRN ABNUSSI
Einzelhandel ist ein sehr nüchternes Wort, hinter dem sich hier eine Art Märchen verbirgt
Seite 20
Text: Julius Kreuter / Foto: Wolfgang Everding
BEIM BREMER BANKSY
Wir haben den anonymen Schöpfer des Wohnungslosen aus Bronze getroffen
Seite 24
Text & Fotos: Ylva Brinker, Lisann Prüss & Marie Schlag
„JETZT FÜHLE ICH EINEN SINN IN DEM, WAS ICH TUE“
Unser ehemaliger Verkäufer Marc hat die Seiten gewechselt und ist heute Streetworkhelfer
Seite 28
Protokoll: Justus Köhler / Foto: Torsten Schmidt
Ab 7. Oktober 2024 bei unseren Verkaufspersonen auf Bremens und Bremerhavens Straßen erhältlich!
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Sollten Sie wider Erwarten keine Verkaufsperson antreffen, können Sie Ausgaben in Ausnahmefällen online per Einzelbestellung erwerben. Die aktuellste Ausgabe ist jedoch nur auf der Straße zu erwerben.
Für alle Auswärtigen sowie für Bremer Vereine, öffentliche Einrichtungen, Kneipen, Cafés, Hotels, Arztpraxen, Frisiersalons, Anwaltskanzleien etc. gibt es die Zeitschrift der Straße übrigens auch im Abo.
#50 DIE STRASSE. Eine Runde durch die Bahnhofsvorstadt mit [Martin], der durch einen Ein-Euro-Job zum Streetworker wurde
Der letzte Dienstag im Mai 2017, ein sonniger Morgen. Menschen hasten auf dem Vorplatz des Bremer Hauptbahnhofs zur Arbeit. Mitten unter ihnen ist [Martin], 44. Sein Gang ist fest, aber nicht überaus schnell. Sowieso ist er etwas ruhiger und in sich gekehrt. Alleinunterhalter wird er in diesem Leben nicht mehr, das steht fest.
Sein Ziel ist das Café Papagei, unweit der Bremer Discomeile. Kurz nach neun Uhr steht er an der Theke und bestellt wie jeden Tag eine kleine Cola.
Danach ein kurzer Schnack mit Gästen des Cafés und seinen Kollegen [Jörg] und [Jonas]. Dabei dreht er sich eine Zigarette. [Martin] erfährt, dass er heute allein „seine Runde machen“ muss. Er gehört seit zehn Monaten zum Team der Streetworker der Inneren Mission. Als Ein-Euro-Jobber ist er, wie schon sein Kollege [Jörg], zum Team gestoßen.
Um halb zehn wird er unruhig, sein Dienst auf dem Bahnhofsvorplatz beginnt. Er stopft vier Thermoskannen Kaffee in den Rucksack. Kurze Kontrolle, ob er auch an alles gedacht hat, dann macht er sich auf den Weg. Sein erster Kunde lässt nicht allzu lange auf sich warten, [Martin] schenkt den ersten Kaffee aus. Da [Martin] bis vor ein paar Monaten sehr zurückgezogen gelebt hatte, musste er erst lernen, wie man sich auf der Straße verhält. Vor dem Hauptbahnhof wird er das erste Mal von einem Mann erkannt, der auf der Straße lebt. Bei einem kurzen Plausch werden die Neuigkeiten des Tages ausgetauscht: Ein Obdachloser ist am Vorabend ins Krankenhaus gekommen. [Martin] kennt ihn, er fragt: „Was ist mit seinem Hund?“ „Der ist bei einer Freundin“, die Antwort beruhigt ihn. [Martin] hat selbst einen Hund: Spike, ein Husky.
Auf dem Weg durch den Bahnhof zur Bürgerweide geht [Martin] das Schicksal des Obdachlosen nicht aus dem Kopf. Vermutlich muss er das Krankenhaus nach drei Tagen schon wieder verlassen:
„Der ist nämlich nicht krankenversichert. Dann werden die ihn nicht so lange dabehalten. Ich denke ja manchmal, mir geht es beschissen, aber wenn ich das hier dann alles sehe … Auch wenn ich so meine Probleme habe, dagegen geht es mir richtig gut.“ Auf der Straße gelebt hat er nie, aber durch Schicksalsschläge vor vielen Jahren ist sein Leben nicht gerade ideal verlaufen. „Zwar habe ich keinen Job gelernt, aber damals immer gearbeitet. Gabelstapler bin ich viel gefahren und im Lager habe ich gearbeitet, hatte ein Auto und alles!“ Genauer möchte [Martin] seine Geschichte nicht erzählen.
Auf der Bürgerweide angekommen, schallt es ihm aus einer kleinen Gruppe schon entgegen: „Moin Maddin! Wie immer, pünktlich auf die Minute, da kannst du die Uhr nach stellen.“ Die sechs Männer sind fast immer hier, sie fiebern dem kostenlosen Kaffee entgegen. Martins erste Thermoskanne ist leer, und etwa zehn Minuten später geht es weiter durch den Nelson-Mandela-Park. Eigentlich wollte [Martin] den Job gar nicht. „Aber Jonas (Streetworker der Inneren Mission, Anmerkung der Redaktion) hat immer genervt, und irgendwann habe ich dann zugestimmt. Der Job gibt meinem Tag Struktur und ich habe was zu tun.“ [Martins] Job umfasst die tägliche „Kaffeerunde“ und Helfertätigkeiten. Aber er ist auch nicht selten erste Anlaufstelle bei Problemen, gerade wenn er wie heute allein und nicht mit [Jonas] unterwegs ist.
Im Park ist nicht viel los. Beim Elefanten sitzen zwei Frauen auf einer Parkbank. Die jüngere der beiden ist von zu Hause ausgerissen.
Einen Kaffee möchten sie nicht, aber einen Rat: „Mit meinem Vater gibt es Stress zu Hause und ich will nicht wieder dahin zurück. Wo kann ich mich melden, wer kann mir helfen?“ „In deiner Situation: Geh mal am Besten ins Café Papagei. Da sind Menschen, die dir helfen können, die haben Ahnung.“
[Martin] ist nun eine Stunde unterwegs und gönnt sich eine Zigarette auf einer der Bänke. Eine kurze Pause. Danach geht es durch den Bahnhof zurück in die Stadt. Auf den Wegen in der Bahnhofsvorstadt leert sich die zweite Kanne. Auch in den Wallanlagen wird er schon erwartet. Die Gespräche an den Treffpunkten scheinen sich zu wiederholen, so wie die immer gleichen Fragen:
„Kaffee? Milch? Zucker?“ [Martin] ist einfach kein Mann der vielen Worte und eigentlich kennt er die Gewohnheiten seiner Stammkunden. „Schwarz wie die Nacht, schwarz wie meine Seele! Das weißt du doch, Maddin!“, sagt ein komplett schwarz gekleideter Mann nahe der Mühle.
Die anschließende Runde durch die Sögestraße, über den Domshof und zurück durch die Obernstraße ist heute schnell erledigt. Es ist wenig los, und inzwischen ist es warm geworden. Die letzte Kanne ist fast leer.
[Martin] wohnt in Gröpelingen und wenn er heute Abend zu seinem Hund nach Hause kommt, beginnt die andere Hälfte seines Alltages. Die ruhigen Abende und Wochenenden verbringt er dann mit Spike. Seine Fotos haben deshalb nichts mit seinem Job als Streetworker zu tun. „Ich liebe Schiffe, den Hafen, das Maritime. Meine Mutter war lange mit einem Seemann liiert, daher kommt das wohl.“ Angeln gehört dabei zu seinen liebsten Hobbys, stundenlang gibt er dann keinen Ton von sich. Denn eigentlich ist er ja nicht gerne unter Menschen. Trotzdem wird er auch morgen früh wieder pünktlich um neun Uhr seine Cola im Café Papagei bestellen.
Text: Sebastian Voss ist derzeit selbst von Wohnungslosigkeit betroffen und hält den „Fidget Spinner“ für eine der wichtigsten Erfindungen der Menschheit
Fotos: Martin ursprünglich veröffentlicht im Juli 2017
da haben wir es auf dem Weg in unsere kleine Sommerpause doch noch wieder ins Zentrum geschafft – und diesmal wirklich so mittenrein. Die Findorffstraße liegt nahe dem Hauptbahnhof und begrenzt Bürgerweide, Messegelände und (für die meisten vielleicht am interessantesten) das Freimarktareal im Nordwesten. Als Tunnel verbindet die Straße zudem zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen der Mitte Bremens: die nördlich und die südlich der Gleise nämlich.
Eine reine Durchfahrtsstraße ist die Findorffstraße darum aber nicht. Das Kulturzentrum Schlachthof, dem wir hier gleich zwei Texte gewidmet haben, ist vielmehr ein Ziel für inzwischen mehrere Generationen von KonzertgängerInnen. Wir werfen einen Blick auf die Geschichte des Kulturzentrums (Seite 22) und lernen das neue Bookingteam kennen, das im April seinen Dienst aufgenommen hat (Seite 24). Eine kulturelle Adresse ganz anderer Art ist das Bremer Rundfunkmuseum, dem wir ebenfalls einen Besuch abgestattet haben (Seite 28).
Dass es auch an der weithin bekannten Findorffstraße noch Geheimnisse zu entdecken gibt, haben wir im Tunnel gelernt, wo plötzlich scheinbar im Nichts Unmengen angeschlossener Fahrräder zu sehen sind. Und die Geschichte wird nicht weniger rätselhaft, wenn man daneben erst die hinter Dreck und Graffiti versteckte Tür in der Tunnelwand entdeckt hat (Seite 12). Wir hoffen, Sie haben Ihre Freude mit diesen und anderen Geschichten aus dem Zentrum Bremens – und verabschieden uns bis zur Oktoberausgabe, für die unser Seminar der Uni Bremen gerade an der Contrescarpe herumschleicht. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre!
Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann und das Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
08Zukunft im Angebot In den Bremer Messehallen informieren sich junge Menschen über die Arbeitswelt
12 Von Findorff nach Narnia Ein Hauch von Anderswelt im Findorff-Tunnel
14 Auf Rollen zum Himmel Bildstrecke
20 Der Markt regelt Flohmärkte zwischen Wunderwelten und Schrottplatz
22 Kulturort mit Geschichte Der Bremer Schlachthof hat eine lange und widersprüchliche Geschichte
24 … und weiter? Die neuen Booker*innen des Schlachthofs stellen sich vor
28 Antennen für Geschichte Ein Besuch im Bremer Rundfunkmuseum
Ab 5. August 2024 bei unseren Verkaufspersonen auf Bremens und Bremerhavens Straßen erhältlich!
Die Verkaufspersonen der Zeitschrift der Straße haben fest zugewiesene Verkaufsplätze. An diesen Standorten können Sie unsere Verkaufenden antreffen:
Sollten Sie wider Erwarten keine Verkaufsperson antreffen, können Sie Ausgaben in Ausnahmefällen online per Einzelbestellung erwerben. Die aktuellste Ausgabe ist jedoch nur auf der Straße zu erwerben.
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#33 FALKENSTRASSE. Eine Einladung führte ihn nach Bremen, wo er seit acht Jahren auf der Straße lebt
Wie man leicht hören kann, komme ich aus dem Rheinland, genauer gesagt aus Köln. Dort habe ich die ersten 25 Jahre meines Lebens gelebt. „Gewohnt“ kann man nicht unbedingt sagen, denn seit meinem 17. Lebensjahr lebe ich auf der Straße.
Damals bin ich bei meiner Mutter rausgeflogen, wir hatten uns ständig in den Haaren wegen des Kiffens und des Alkohols. Irgendwann hat es geknallt und ich stand auf der Straße. Zu meinem Vater konnte ich nicht, den hatte ich nie kennengelernt. Also bin ich umhergezogen, habe im ständigen Wechsel bei Freunden gewohnt oder eben auf der Straße gelebt.
Nach der Sonderschule habe ich eine Lehre als Maler und Lackierer angefangen.
Nach eineinhalb Jahren habe ich aber abgebrochen und mich stattdessen mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten. Als meine Alkoholprobleme immer heftiger wurden, habe ich eine Therapie gemacht und auch durchgezogen. Danach bin ich weg aus Köln, ich brauchte dringend einen Tapetenwechsel.
Nach Bremen kam ich dann aus Zufall, ich war zu einer Party eingeladen und bin einfach hiergeblieben. Wobei mir gleich zu Beginn mein Hund gestohlen wurde:
Dolly, ein Mischling aus Bordercollie und Berner Sennenhund. Ich habe am Bahnhof auf der Straße übernachtet, und während ich schlief, muss jemand Dolly einfach mitgenommen haben. Dolly war erst sechs Monate alt, ich hatte sie von klein auf. Keine Ahnung, wo sie jetzt steckt. Aber abgesehen davon gefällt mir Bremen wirklich gut, die Leute sind sehr umgänglich und entspannt. Gerade die Polizisten, mit denen wir es auf der Straße häufig mal zu tun bekommen, sind sehr freundlich. Da habe ich damals in Köln ganz andere Erfahrungen gemacht.
Meine Mutter ist vor zehn Jahren leider gestorben, und zu meinem jüngeren Bruder habe ich den Kontakt abgebrochen. Wir waren völlig zerstritten. Was bleibt, ist meine Straßenfamilie, Kumpels, die wie ich ohne feste Bleibe sind.
Bei der Zeitschrift der Straße bin ich fast von Anfang an, seit der zweiten Ausgabe.
Ich hatte damals einen Stammplatz am Bahnhof, aber seit dort so viele andere Verkäufer stehen, laufe ich lieber jeden Tag quer durch die Innenstadt und biete die Hefte Passanten an. Das läuft vor allem im Sommerhalbjahr sehr gut, wenn viele Menschen draußen im Café sitzen. Auf meiner üblichen Tour laufe ich von der Neustadt zur Domsheide, durchs Viertel zum Hauptbahnhof und dann durch die Altstadt wieder zurück in die Neustadt, wo ich derzeit auch auf der Straße übernachte.
Wie viele Kilometer ich pro Tag abreiße, weiß ich nicht, aber alle zwei Monate sind meine Schuhe völlig durchgetreten und ich brauche neue. Ab November habe ich ein WG-Zimmer in Gröpelingen, noch rechtzeitig vor dem Winter. Dann möchte ich auch wieder anfangen zu arbeiten, bei einer Zeitarbeitsfirma vielleicht oder als Lagerist.
#111 SCHARNHORSTSTRASSE. Kurz nach seinem 50. Geburtstag betrachtet unser Verkäufer Marco sein Leben. Er hat noch viel vor in den nächsten Jahren
Es ist ein regnerischer Samstagvormittag in der Findorffer Hemmstraße, eine von Marcos vielen Heimaten. Wir flüchten erst mal ins Trockene. Mit Blick auf die Martin-Luther-Kirche beginnt er über eine heiße Schokolade hinweg zu erzählen. Auf seine Geburt in Wittenberg folgt eine Kindheit im Berliner Osten: Endstation S1, Oranienburg.
Diese Zeit prägt ihn, das Leben in der DDR fühlt sich nach Gefangenschaft an. Es hat zwar alles seine Ordnung, aber Marco will wissen, was hinter der Mauer passiert. Im Geografieunterricht der fünften Klasse wird ihm eine Weltkarte gezeigt. Er bereist Hauptstädte mit dem Finger, die für ihn nur Punkte hinter der Grenze sind, welche nicht zu überwinden scheinen.
Dann endlich Neuland. Kurz vor dem Mauerfall flieht die Familie per Trabant über Österreich und Ungarn schließlich nach Bremen. Damals ist Marco siebzehn. Sein Berlinern wird schnell zum „sauberen Bremer Hochdeutsch“, Marco kommt an, aber irgendwie doch nie so ganz.
Nach dem Abitur überwältigt ihn das Lebensgefühl Post-Mauerfall: Freiheit, Grenzenlosigkeit, jung sein. Träume von Journalismus und Meeresbiologie münden in einer abgebrochenen Ausbildung. Wurzeln schlagen fällt ihm schwer, die Welt ist groß und Marco will sie sehen, nicht hier und jetzt Entscheidungen fällen, die seine Zukunft betreffen. Er lebt von Konzert zu Konzert, denkt von Winter zu Winter.
Er macht zahllose Jobs, von Gartenbau bis Sporthalle, aber nie länger als elf Monate, dann ist genug gespart, um den erstbesten Last-Minute-Urlaub zu buchen. Hauptsache, Welt reinlassen.
Marco will auf seinen Reisen die echten Menschen treffen, abseits vom Tourismus, will verstehen, wie die Gesellschaft, der Mensch funktionieren. In seinem Rhythmus zwischen Reisen und Fürs-Reisen-Arbeiten zieht es ihn nach Frankreich, Spanien, England und die Türkei. Es sind flüchtige Momente: Am zweiten Januar verkatert Schlange stehen für zwei Minuten Augenkontakt mit Mona Lisa oder den Grundstein der Sagrada Família berühren und zu fühlen, wie viel Geschichte der schon mitgemacht hat.
Marco wirkt ruhig in der Unruhe, hibbelig lebensfroh und interessiert. „Das Einzige, was mich hier hält, ist die Erdanziehungskraft“, sagt er. Manchmal beneidet er Menschen um eine Heimat, die sie schon immer hatten und immer haben werden. Für ihn ist Heimat schon lange kein Ort mehr, den hatte er nie wirklich.
Heimat sei da, „wo die Menschen sich freuen, mich zu sehen, und beim Abschied schon ans nächste Wiedersehen denken.
Heute, kurz nach seinem 50. Geburtstag, blickt er zurück und zieht Bilanz: Ihm gefällt sein Leben und er bleibt seiner Einstellung treu, aber die Flucht vor dem Ankommen, die Sehnsucht nach Ungebundenheit bleiben Dilemma und Überzeugung gleichzeitig. Frau und Kinder hätten ihm Grund gegeben, Wurzeln zu schlagen.
Die letzte gescheiterte Beziehung führte ihn in die Obdachlosigkeit. Da hat er es rausgeschafft, hat mittlerweile wieder ein Dach über dem Kopf, lebt und spart durch Zeitschriftenverkauf.
Ist er nur für sich selbst verantwortlich, fehlt ihm die Notwendigkeit, sich festzulegen. Und obwohl es klingt, als sei Bremen doch auch irgendwie eine Heimat geworden, schmiedet er fleißig Pläne für die Zukunft. Irgendwann mal zurück auf Anfang nach Wittenberg wäre cool, auch England und Irland stehen ganz oben auf der Liste. Diesen Winter aber erst mal: den Jakobsweg bis nach Santiago de Compostela wandern, für die richtige Pilgerausrüstung wird schon gespart.
Text: Pia Lehnert studiert Philosophie und Kulturwissenschaften an der Universität Bremen. In Marcos Geschichte hat sie sich teilweise selbst wiedererkannt.
Original Foto: Wolfgang Everding hat es gefallen, dass Marco die Gehwegplatten seines täglichen „Arbeitsumfeldes“ mit künstlerischen Zeichnungen und Malerei interessant gestaltet hat.
sie sind klein, allein und tauchen immer mal wieder auf: historische Häuser aus der Alten Hafenstraße in Vegesack. Wir haben uns in dieser Ausgabe einen lang gehegten Wunsch erfüllt, indem wir die Straße – oder jedenfalls Teile davon – auch fotografisch einmal durchs Heft laufen lassen. Wenn Sie durch diese Ausgabe blättern, begegnen sie Ihnen immer mal wieder, die denkmalgeschützten Häuser, versehen mit dem Baujahr. Es ist ein kleines Experiment und – wie wir festgestellt haben – gar nicht so leicht umzusetzen. Denn wie unsere Fotografin Beate C. Köhler, die die Häuser als Miniaturen für Sie eingefangen hat, bemerkte: Ganz so einfach ist das gar nicht, eine ganze Straße abzufotografieren. Immer steht etwas davor: eine Mülltonne, ein geparktes Auto, nur selten trifft man die Häuser pur und in ganzer Schönheit an. Deshalb erheben wir auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit, hoffen aber, die Bilder machen Ihnen Appetit auf einen Ortsbesuch mit Wiedererkennungswert.
Was Sie sonst noch zur Vorbereitung Ihres Vegesack-Besuchs wissen müssen, finden Sie natürlich ebenso in dieser Ausgabe. Da wäre zum Beispiel das Overbeck-Museum, dessen Leiterin Katja Pourshirazi uns im Interview verraten hat, was an Torfkanälen heute eigentlich noch spannend ist (S. 18). Spannend ist auch, was Ute Hannemann vom Fecht Club Bremen Nord zu erzählen hat. Denn der Sport ist nicht nur etwas für Rich Kids mit geerbtem Degen, sondern für jedermann – Hauptsache, man ist bereit für Fairness und Respekt (S. 8). Die Bildstrecke wiederum führt uns in den historischen Hafen und dort auf ein altes Löschboot, das nur noch dank ehrenamtlichem Engagement schwimmt (S. 13). Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre!
Karolina Meyer-Schilf, Jan-Paul Koopmann und das Team der Zeitschrift der Straße
Aus dem Inhalt:
08Von Eleganz und Fairness Stumpfes Draufhauen gibt es beim Fechten nicht
12 Bildstrecke Das LÖSCHBOOT 1 im Vegesacker Hafen ist ein Denkmal. Ehrenamtliche halten es über Wasser – und haben viel Spaß dabei
18 Interview Die Leiterin des Overbeck-Museums, Dr. Katja Pourshirazi, im Gespräch über Ausstellungskonzepte und den Reiz von Torfkanälen
24 Trödel Der Laden 38 bietet Trödel der ganz besonderen Art. Eine Führung mit dem Junior
28 Porträt „Wir müssen uns ganz neu erfinden“, sagt Jan-Paul Koopmann. Er leitet gemeinsam mit Karolina Meyer-Schilf die Zeitschrift der Straße
Ab 1. Juli 2024 bei unseren Verkaufspersonen auf Bremens und Bremerhavens Straßen erhältlich!
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Für alle Auswärtigen sowie für Bremer Vereine, öffentliche Einrichtungen, Kneipen, Cafés, Hotels, Arztpraxen, Frisiersalons, Anwaltskanzleien etc. gibt es die Zeitschrift der Straße übrigens auch im Abo.