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GESUCHT WIRD: EINE VISION

#42 WOLLKÄMMEREI – Was soll eigentlich aus der Wollkämmerei werden? Wir haben ein paar Leute gefragt, die sich mit so was auskennen

 

Das ganze Gelände ist größer als der Vatikan. Aber eine Brache, mehr oder weniger. Und das schon seit vielen Jahren: 2009 machte die Bremer Wollkämmerei endgültig dicht. Was geblieben ist? Eine „Perle der Industriekultur“, wie die Bremer Wirtschaftsförderer schreiben, und zwar eine mit „hohem Entwicklungspotenzial“. Aber was genau soll das heißen?

Anfrage bei Klaus Hübotter: Der Alt-Kommunist und Ehrenbürger hat als Kaufmann und Bauherr schon zahllose historische Gebäude in Bremen gerettet. Den Schlachthof und den Speicher XI, das Bamberger Haus, die Villa Ichon, den alten Sendesaal von Radio Bremen. Und so weiter! Wenn also irgendjemand eine gute Idee für die Wollkämmerei haben könnte, dann ist es Klaus Hübotter. Doch er sei „ohne Zeit und Ideen“, schreibt uns der Mittachtziger, mit besten Grüßen.

Vom Ghetto zur zentralen Vision

Mit seiner Architektur der Gründerzeit sei das Gelände „ideal als Bürofläche für Künstler, Designer, Ingenieure und Architekten, für Gastronomie oder als Veranstaltungsraum“, behaupten die Wirtschaftsförderer. „Das ist genau die Fantasielosigkeit, die Bremen kaputt macht“, sagt Arie Hartog, der Direktor des Gerhard-Marcks-Hauses, ein Mann, der sich gerne grundsätzliche Gedanken über die Stadt macht. „Wir denken solche Gebiete ja immer als Peripherie und Ghettos“, sagt Hartog – daher auch die Idee, Künstler dort anzusiedeln. „Es sind Reste. Also müssen wir die Denke umdrehen und behaupten: Das wird das Zentrum und es dann städtebaulich entwickeln.“ Diejenigen, die sich da dranmachen, sagt Hartog noch, die sollten mal Lucius Burckhardt und Doug Saunders lesen, „um den Kopf von stadtplanerischen Dogmen zu lösen“.

Der erste Versuch einer Vision für die Wollkämmerei

Noch sprechen die zuständigen Wirtschaftsförderer allerdings lieber von einem „Branchenmix aus Metall-, Maschinen- und Anlagenbau, Spedition, Chemiefaserproduktion und Heizkraftwerk.“ 2011 hat Bremen das Gelände für drei Millionen Euro gekauft, ein Jahr später wurde das Ensemble unter Denkmalschutz gestellt. Und der „Palast der Produktion“ zog ein. Es war dies der erste Versuch, so etwas wie eine Vision für die Wollkämmerei zu entwickeln: Vier Wochen lang durften 90 Kreative nach einem „Gegenmodell zur vereinzelten Erwerbsarbeit“ suchen. Möglich gemacht haben das damals die beiden Architekten Daniel Schnier und Oliver Hasemann von der „ZwischenZeitZentrale“ (ZZZ). In der ganzen Stadt denken die beiden sich Konzepte und Zwischennutzungen für leer stehende Häuser und Brachen aus, mittlerweile im offiziellen Regierungsauftrag.

Kreative Konzepte für die Wollkämmerei mit Brauerei und Kleingewerbe

Hasemanns Idee: In die ehemalige „Sortiererei“ der Wollkämmerei, 4.500 Quadratmeter groß, könnte „Schafs-Bräu“ einziehen, eine „Brauerei-Manufaktur“ für das, was man heute Craft Beer nennt. Zugegeben, auch Daniel Schnier hat diese Idee anfangs belächelt – andererseits: In der Union Brauerei in Walle funktioniert sie gut. Daneben würde Schnier gerne „Kleinstgewerbe“ ansiedeln, „mit Leuten, die mit ihren verrückten Ideen sonst keine Chance haben“. Die aber, beispielsweise, Lebensmittel produzieren wollen, regionale Produkte. Ein, zwei Jahre könnten Teile der Wollkämmerei oder einige der leer stehenden Läden drumherum mietfrei abgegeben werden, an Leute, die weder Raum noch Kapital haben und eigenverantwortlich arbeiten wollen.

Raum für Feiern und kreative Nutzungsmöglichkeiten

Auf den großen Investor zu warten lohnt jedenfalls nicht, sagt Schnier – und wenn, dann würde der wohl eh in die Überseestadt gelotst. „Und bevor die nicht voll ist, passiert auch in der Wollkämmerei nichts.“ Und was noch fehlt, in Bremen-Nord, das sind Räume für Feierlichkeiten, zum Beispiel, wenn man zehn Kids einlädt – oder auch viele Hundert Verwandte und Freunde, wie es auf Hochzeiten öfter vorkommt, gerade bei muslimischen. Und wer so etwas sucht, in Bremen, wird oft erst in Hannover fündig, sagt Schnier. Stattdessen treffen sich nun am Wochenende die Auto-Tuner auf dem Gelände, und manchmal gibt es auf der historischen Achse sogar kleine Rennen. Das passt dann irgendwie doch wieder ganz gut, wo doch oft vom „Detroit Bremens“ die Rede ist, wenn es um Blumenthal und die Wollkämmerei geht.

Über die Entwicklung von Industriebrachen und die Zukunft der Wollkämmerei

Verena Andreas ist eine, die viele solcher Industriebrachen kennt: „In Dortmund spazierte ich um den Phoenix-See – dort wo früher ein Stahlwerk stand. In Duisburg kletterte ich auf einen Hochofen, in Manchester ging ich zwischen alten Fabrikhallen entlang, in denen nun an Laptops gearbeitet wird, besuchte Plattenläden und Bars in einer alten Baumwollbörse. In Detroit freute ich mich über Bagelshops und Burgerläden, Urban Gardening und Kunstprojekte, die mir kurzzeitig Zuflucht vor den verfallenden Straßenzügen boten. Und wer heute in Barcelona an der Strandpromenade das Mittelmeer genießt, erahnt wohl kaum noch, dass dort vor 30 Jahren große rauchende Industrieanlagen die Stadt vom Meer abschnitten.“ Andreas ist Raumplanerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Uni Bremen. Dort beschäftigt sie sich mit Stadtplanung und -entwicklung; auf Reisen spaziert sie gern durch brachliegende Viertel in alten Industriestädten. Auch die Wollkämmerei kennt sie gut: Verena Andreas ist Mitautorin einer neuen Studie über die Entwicklung in Bremen-Nord.

Potenziale und die Notwendigkeit ganzheitlicher Stadtentwicklung

„Das Gelände hat besondere Qualitäten: die Weser und die nahe gelegenen Parkflächen sowie die besonderen Gebäude der historischen Achse“, sagt die Raumplanerin. „Warum wurden diese Qualitäten nicht für das allseits beliebte Wohnen am Wasser oder für kleine Startups und Dienstleistungsunternehmen erschlossen, so wie andere Städte dies mit vergleichbaren Flächen machen?“ Weil das Gelände ein Gewerbegebiet ist, das ganz viele Arbeitsplätze schaffen soll. „Aber es kann nur dann zu einem lebendigen und wirtschaftsstarken Arbeitsort und Entwicklungsmotor in der Stadt werden, wenn der Rest Blumenthals mit seinen gravierenden Problemlagen parallel entwickelt wird“, sagt Andreas: „Es braucht große Investitionen – öffentliche wie private.“ Damit ein Umfeld geschaffen wird, in dem sich Menschen wohlfühlen – als Arbeitnehmer und Bewohner. Ein Umfeld, in dem die Leute in der Mittagspause etwas essen gehen können, in dem sie attraktiven und bezahlbaren Wohnraum finden, dazu Kinderbetreuungsplätze und Schulen, auf die man seine Kinder gerne schickt.

„Dafür braucht es Eingriffe an der gesamten Achse zwischen Wätjens Park und Bahrsplate und später auch darüber hinaus.“ Es geht nicht allein um die Wollkämmerei, sagt die Wissenschaftlerin. Sondern darum, „das ganze Stadtteilumfeld von Arbeiten über Wohnen bis hin zur Bildung als Ganzes zu betrachten und zu entwickeln“.

Text:
Jan Zier
Foto:
Wolfgang Everding

#41 Osterstrasse

Hintergrundfoto: uncoolbob/flickr.com

EDITORIAL: Wachgeküsst

Die Osterstraße ist ein Ort, der über Jahre in einer Art Dornröschenschlaf vor sich hin träumte. Es war ein langer, ereignisarmer Schlaf. Doch dann kamen die Menschen, und mit ihnen ihre Ideen und Projekte. Das faszinierende an der Osterstraße ist heute, dass sie zu unterschiedlichen Zeiten ganz unterschiedliche Menschen anzieht. Tagsüber die Alteingesessenen, die Kioskgäste, die Krankenhausangestellten, die Besucher mit ihren Blumensträußen. Abends dann die Studierenden, die in die Kneipen einfallen, die sich entlang der Osterstraße neu angesiedelt haben. Und in den Zeiten und Räumen dazwischen: bunte Vögel, eigenwillige Ladenbesitzer, Künstler – und Lebenskünstler.

Unsere Fotografin Jasmin Bojahr, Meisterschülerin an der Hochschule für Künste, fasste es auf einer Redaktionskonferenz treffend zusammen: Die Straße oszilliert. Und auch unsere Texte atmen dieses Auf und Ab. Die Geschichte von Herma Siebrasse etwa, die nicht anders konnte, als ein künstlerisches Leben zu führen (Seite 20). Oder das Interview mit Christine Fischer, klein im Wuchs, aber großherzig im Leben (Seite 8). Ein ganzes Drama breiten wir Ihnen in unserem letzten Text in dieser Ausgabe aus. In den Hauptrollen: zwei Liebende, freundliche Musiker – und ein nicht immer freundliches Publikum (Seite 24).

Besonders ans Herz legen aber möchten wir Ihnen unseren Text über die Spekulation mit Wohnraum für Wohnungslose, wie sie exemplarisch derzeit auch an der Osterstraße geschieht (Seite 10). Ein wichtiges Thema, wie wir finden – gerade weil es keine einfachen Antworten gibt.

 

FLUCH DER GUTEN TAT?

#41 OSTERSTRASSE – In einem Altbau in der Rückertstraße sollen Wohnungslose untergebracht werden – die Mieter mussten deshalb weichen

Die Feuerschutztür liegt schon im Treppenhaus bereit. Für die Bewohner der letzten Wohn­gemeinschaft in der Rückertstraße 2 wirkt sie wie eine Drohung. Seit Monaten tauschen Handwerker alle Holztüren des Altbaus gegen graue Metalltüren aus. Das Treppenhaus ist nun halbhoch gefliest, das Geländer an manchen Stellen bereits grau gestrichen. Überall liegt feiner Staub. „Das war eine wandernde Baustelle“, sagt Ariane im Frühsommer 2016. Sie ist eine der letzten festen Mieterinnen des Hauses. Alle anderen haben es bereits verlassen – darunter eine Wohn­gemeinschaft mit zwei kleinen Kindern, der Lärm und Staub zu viel wurden. In dem Haus an der Ecke zur Osterstraße soll eine private Herberge für Obdachlose entstehen.

Seit Juli 2015 mietet das Land Bremen hier bereits eine der Vierzimmer­wohnungen als temporäre Unterkunft für Menschen, die sonst auf der Straße leben müssten. Jetzt sollen im gesamten Haus weitere wohnungslose Menschen einziehen. Die bisherigen Mieter fühlen sich mutwillig verdrängt, und das nicht nur durch den Baulärm.

Renovierung in vollem Gang
Renovierung in vollem Gang

Was bisher geschah: Im Januar 2015, das Haus ist gerade verkauft worden, schickt der neue Eigentümer Kündigungen an alle Mieter. Er will das Haus weiter­verkaufen – und zwar mieterfrei. „Der Eigentümer ist hier nie selbst aufgetreten“, sagt eine Mieterin, die nicht mit Namen genannt werden möchte. Stattdessen hätten sie schon bald den neuen Kauf­interessenten Yehya Masri im Haus angetroffen. Masri betreibt im Nachbarhaus seit 20 Jahren eine private Obdachlosen­herberge. Dort bringt die Zentrale Fachstelle Wohnen des Amts für Soziale Dienste Menschen ohne Obdach vorübergehend unter, die Kosten – laut Masri sind es 16 Euro pro Person und Nacht – trägt das Land Bremen. „Er hat recht schnell gesagt, dass er plane, hier Obdachlose und Geflüchtete unterzubringen“, erzählt die Mieterin. „Uns war klar, was mit unserem Wohnraum passieren soll.“ Sie legte, wie die anderen Mieter auch, Widerspruch gegen die Kündigung ein.

Nach einem weiteren Kündigungs­schreiben schließt der Eigentümer das Konto, auf das die Bewohner die Miete überweisen. „Man hat gemerkt, dass der Vermieter kein Interesse an uns hat“, sagt Jeffrey, der mit richtigem Namen anders heißt und mit seiner WG mittlerweile ausgezogen ist. Die Bewohner hinterlegen die Miete beim Amtsgericht, doch im August 2015 kommt eine Räumungsklage.

Der Vermieter aber scheint an einer Verhandlung gar nicht interessiert zu sein. Der erste Gerichts­termin platzt, der Anwalt des Vermieters sei erkrankt, heißt es. Einen Tag vor dem Ersatztermin wird die Räumungs­klage zurückgezogen. Dasselbe geschieht mit der zweiten Räumungs­klage im Februar 2016. Die Taktik hat Erfolg: Einige Monate später sind alle Bewohner ausgezogen, bis auf die WG im ersten Stock. Das Haus wird im Juni an Yehya Masri verkauft.

Masri sagt, es habe keine mutwillige Verdrängung der Mieter gegeben: „Die Leute haben eine anständige Abfindung bekommen und sind freiwillig ausgezogen.“ Auf die verbliebene Wohn­gemeinschaft angesprochen, sagt er: „Wenn sie die Wohnung behalten wollen – gerne. So lange sie sich an die Hausordnung halten, gibt es keine Probleme.“

Wie kommt es, dass die Unterbringung obdachloser Menschen – die ohne Zweifel nötig ist – unbeteiligte Mieter aus ihrem Zuhause drängt? 2014 waren in Deutschland etwa 335.000 Menschen wohnungslos, und es werden immer mehr: Die Bundes­arbeits­gemeinschaft Wohnungs­losen­hilfe schätzt, dass schon in zwei Jahren über eine halbe Million Menschen ohne eigene Wohnung leben müssen. Dazu zählen zwar auch Menschen in Notunter­künften, Wohnheimen und den Auffangstellen für Geflüchtete. Doch 39.000 Menschen leben in Deutschland buchstäblich auf der Straße, weil sie sich keine Wohnung leisten können.

Und wer auf der Straße übernachtet, begibt sich in Gefahr. Deshalb muss das Land Bremen gemäß Ortspolizei­recht obdachlosen Menschen eine kurzfristige – meist vierzehntägige – Unterkunft anbieten. Dies geschieht bevorzugt in vier Notunter­künften gemeinnütziger Träger. Weil die insgesamt 108 Plätze meist ausgelastet sind, arbeitet die Zentrale Fachstelle für Wohnen aber auch mit derzeit sieben privaten Vermietern und Einfachhotels wie der Herberge Masris zusammen. Solche Privat­unterkünfte sind in den letzten Jahren zunehmend auch mit Geflüchteten belegt. Die Auslastung ist aus Unternehmer­sicht erfreulich, weshalb mancher expandieren möchte.

Wie aber lässt sich temporärer Wohnraum für wohnungslose Menschen schaffen, ohne andere zu verdrängen? Jochim Barloschky, Sprecher des Aktionsbündnisses „Menschenrecht auf Wohnen“, sieht das Grundproblem in der zunehmenden Privatisierung in Bremen: „Dem Land Bremen gehört nur noch etwa ein Drittel des Stadtgebiets. Es hat sich damit der Kontrolle über seine eigene Entwicklung beraubt.“ In den 1990er-Jahren wurde beispielsweise die Bremische Wohnungs­bau­gesellschaft privatisiert – heute gehört sie Vonovia, dem größten Immobilien­konzern in Deutschland. 1991 gab es in Bremen noch 61.000 Sozial­wohnungen, 30 Jahre später waren es nur noch 8.000. Joachim Barloschky fordert daher eine Kehrtwende, mehr Wohnungen in kommunalem Eigentum: „Dann kann man solche Dinge als Stadt entscheiden und muss sie sich nicht von der privaten Wohnungs­wirtschaft vorschreiben lassen.“

Gert Brauer, der als Anwalt für Mietrecht für den Bremer Mieter­schutz­bund arbeitet, ist skeptisch: „In vielen Bremer Stadtteilen sind mittler­weile alle Wohnungen vergeben. Im Stadtgebiet selber wird man es nicht schaffen, Obdachlosen ohne Verdrängung Wohnraum zu gewähren.“ Daran werden auch die 40 Millionen Euro wenig ändern, die das Land Bremen privaten Bauherren als Kredite zur Verfügung stellen will.

Wie es in der Rückertstraße nun weitergeht, ist noch offen. „Das muss mit dem Amt noch besprochen werden“, sagt Masri. Zwar hat der Senat öffentlich zugesichert, keine Wohnungen mit Obdachlosen zu belegen, sollten sie durch eine „Räumungsklage oder eine andere Form von Zwang frei gemacht worden sein“. Doch wann fängt Zwang an? „Uns wurde damals von Vermieterseite keine andere Möglichkeit angeboten“, sagt Jeffrey. Als ein Mitglied seiner WG auszog, habe der Vermieter die Aufnahme eines Nachfolgers verweigert. „Eine Option zu bleiben, gab es so nicht.“

Für die letzten verbliebenen Bewohner ist ihr Wohnungskampf zu einem traurigen Hobby geworden: „Wir haben sehr viel gelernt – über Mietrecht, die Strukturen und wie in verschiedenen Stellen und Behörden zusammen­gearbeitet wird“, sagt Ariane. Ihr Plan für die Zukunft: „Ein Bewusstsein schaffen, dass so etwas passiert – nicht nur hier bei uns.“

Text:
Nina Sieverding
Fotos:
Sabrina Jenne

KOMMEN SIE IN UNSER VERTRIEBSTEAM!

Sie kennen und lieben die Zeitschrift der Straße? Sie wissen, dass Bremens Straßenmagazin von Studierenden als Lernprojekt erstellt wird? Sie haben vielleicht sogar Ihre Stammverkäuferin bzw. Ihren Stammverkäufer in der Stadt? Dann fragen Sie sich vielleicht, wie die StraßenverkäuferInnen eigentlich an die Hefte kommen, die sie verkaufen, und wer die VerkäuferInnen betreut.

Die Antwort auf fast alles ist (und hat) unser Vertriebsteam! Es besteht aus knapp einem Dutzend Ehrenamtlicher im Alter zwischen 20 und 70 Jahren. In zwei Schichten pro Tag zu je drei Stunden betreiben sie das Vertriebsbüro in der Innenstadt. Was bedeutet das?

Im Mittelpunkt steht immer der Kontakt mit den StraßenverkäuferInnen, die das Büro aufsuchen, um Hefte für 90 Cent zu kaufen, die sie anschließend auf der Straße für 2 Euro anbieten. Das Vertriebsteam prüft Verkäuferausweise, gibt Hefte aus, kassiert das Geld, trägt den Umsatz in eine Datenbank ein und macht am Ende der Schicht eine Abrechnung. Neuen VerkäuferInnen werden die Verkaufsregeln erklärt und Ausweise ausgestellt.

Ebenso wichtig wie der Heftverkauf sind die Gespräche mit den VerkäuferInnen, die mit ihren Sorgen und Nöten ins Vertriebsbüro kommen. Ein Becher Kaffee und etwas Aufmerksamkeit wirken da oft schon Wunder. Manche VerkäuferInnen haben aber auch konkrete Anliegen, brauchen einen Arzt, Kleidung, einen Schlafsack oder Schuldnerberatung. Oder sie wollen sich zur Uni der Straße anmelden.

Darauf ist unser Vertriebsbüro vorbereitet. Im Keller hat es Schlafsäcke. Auf dem gleichen Flur bietet die ärztliche Notversorgung kostenlose Sprechstunden an. Nebenan, im Café Papagei, können wohnungslose Menschen duschen, sich einkleiden und essen. Über den Verein für Innere Mission stehen außerdem Sozialarbeiter, Streetworker, Suchtberater und Notschlafplätze sogar im gleichen Gebäude zur Verfügung. Die Uni der Straße ist ebenfalls nur eine Tür weiter.

Engagiert für die Zeitschrift der Straße

Engagiert für die Zeitschrift der Straße

Unsere Ehrenamtlichen im Vertriebsteam werden intensiv eingearbeitet, erhalten Schulungen (z.B. in Suchterkennung und Deeskalation) und sind nie allein im Büro. Es gibt gemeinsame Grillnachmittage, Weihnachtsfeiern und immer wieder verblüffende zwischenmenschliche Begegnungen.

Wenn Sie Interesse haben, sich für drei Stunden pro Woche im Vertriebsteam der Zeitschrift der Straße zu engagieren, schauen Sie doch während der Öffnungszeiten im Büro vorbei oder melden Sie sich bei Rüdiger Mantei unter Tel: 0421/ 17504692 oder mantei@imhb.de. Wir freuen uns auf Sie!

 

Text und Bild: Michael Vogel

Gruppenbild der TeilnehmerInnen der INSP-Tagung 2016

TAGUNG DER STRASSENZEITUNGEN IN ATHEN

Am 13.-16. Juni 2016 fanden sich 120 Vertreterinnen und Vertreter von 59 Straßenzeitungen und -magazinen aus 30 Ländern in Athen ein (Bild oben). Dorthin hatte unser Dachverband INSP (International Network of Street Papers) zur Jahrestagung geladen. Ausgerichtet wurde die Tagung von Shedia, dem griechischen Straßenmagazin, das erst 2013 gegründet wurde, aber seither enorm erfolgreich agiert und viel Aufmerksamkeit erfährt. Dank einer Förderung des Stifterverbands konnte ich die Zeitschrift der Straße in Athen vertreten und von dort live über Twitter berichten.

Die Umstände der Tagung waren schwierig. Täglich streikten unterschiedliche öffentliche Verkehrsbetriebe. Ein Fluglotsenstreik lag in der Luft. Und das Hotel, in dem die meisten Teilnehmer wohnen sollten, hatte eine Woche vor Beginn der Tagung den Betrieb eingestellt und Insolvenz angemeldet. Das durch jahrelange Politik- und Wirtschaftskrise gestählte griechische Organisationsteam vermochte es trotzdem, eine nahezu perfekte Tagung zu zaubern.

Gastgeber der Tagung: Straßenmagazin Shedia

Gastgeber der Tagung: Straßenmagazin Shedia (Foto: bodo)

Im Kern dient die jährliche INSP-Tagung dem Erfahrungsaustausch, Training, gegenseitiger Beratung, dem Hervorheben besonderer Innovationen und neuer Entwicklungen sowie der Stärkung von Kooperation und Solidarität. Zusätzlich setzt jede Tagung eigene Akzente, die in Athen auf sozialem Unternehmertum und auf dem Thema Flucht lagen. Die vielen deutschsprachigen Straßenzeitungen veranstalteten wie üblich eine eigene Vorkonferenz. Das komplette Tagungsprogramm ist hier einsehbar.

Als Highlights der Veranstaltung empfand ich die Präsentation von Projekten, mit denen Straßenzeitungen Wohnungslosigkeit sichtbar machen, den Straßenverkauf als Arbeit von Betteln abgrenzen oder mit „nicht-traditionellen“ Verkäufergruppen arbeiten. Hier kurz zwei Beispiele.

Ein hervorragendes Filmprojekt des dänischen Magazins Hus Forbi thematisiert die „Unsichtbarkeit“ von Wohnungslosen, die mitten unter uns leben, denen aber die wenigsten Passanten in die Augen sehen können und sie deshalb lieber ignorieren. Der Kurzfilm im Stile eines Trailers für einen Mystery-Film wurde in vielen dänischen Kinos gezeigt. Der Überraschungsmoment für unvorbereitete BetrachterInnen kommt ganz am Ende.

Kurzfilm „The Invisible Man“

Ein zweites sehr  gelungenes Medienprojekt, das uns vorgestellt wurde, ist der Kalender 2016 des schwedischen Magazins Faktum. In markantem fotografischen Stil zeigt der Kalender im Großformat Straßenverkäuferinnen und -verkäufer nach getaner Arbeit. Die explizite Trennung von Arbeit und Freizeit soll unterstreichen, dass Straßenverkauf Arbeit ist und nicht Betteln oder gar Freizeit.

Kalender „After Work“

Bemerkenswert waren auch Teile der Rede des griechischen ex-Finanzministers, Ökonomie-Professors und „bad boy“ Yanis Varoufakis (Foto unten), der u.a. den Kauf/Verkauf von Straßenmagazinen als partiellen Austausch von Geschenken („partial gift exchange“) charakterisierte und ihn damit von der rational-ökonomischen Transaktion unterschied.

Weitere Highlights waren für mich die Vorstellung einiger junger griechischer Sozialunternehmen und -projekte (z.B. WiseGreece und City Plaza Hotel) und natürlich die vielen informellen Gespräche mit KollegInnen aus anderen Ländern.

Yanis Varoufakis bei seiner Ansprache

Yanis Varoufakis bei seiner Ansprache (Foto: M. Vogel)

Im Rahmen der Tagung hatte ich die besondere Gelegenheit, im Goethe-Institut Athen eine Podiumsdiskussion zum Thema Flucht zu moderieren. Am Podium nahmen Teil (von links nach rechts im folgenden Foto):

  • Paola Gallo, Geschäftsführerin des Schweizer Straßenmagazins Surprise
  • Efi Latsoudi, NGO-Koordinatorin und Mitbegründerin des offenen, rein zivilgesellschaftlich betriebenen Flüchtlingslagers auf der Insel Lesbos
  • ich
  • Lefteris Papagiannakis, stellvertretender Bürgermeister von Athen, zuständig für Migration und Flüchtlinge
  • Lisa Bolyos, Redakteurin bei der Straßenzeitung Augustin in Wien und Aktivistin im Bereich Migration und Flucht

Podium zum Thema Flucht

Podium zum Thema Flucht (Foto: Shedia)

Die Diskussion rief gerade uns Westeuropäern ins Bewusstsein, wie wenig gelöst die Flüchtlingssituation im Osten der EU ist. Auf der Insel Lesbos 10 km vor der türkischen Küste kommen weiterhin viele Flüchtlinge an, lebend und tot. Der Tourismus, normalerweise wichtigste Einnahmequelle der Insel, ist zu 80% kollabiert. Die Finanzkrise tut ein Übriges. Und Athen, wohin die meisten in Griechenland ankommenden Flüchtlinge gebracht werden, ist mit ihrer Unterbringung und Versorgung völlig überfordert, auch weil parallel die Zahl obdachloser Griechen enorm zunimmt.

Dort wie hier bei uns warten weiter große Aufgaben, denen wir uns nur mit viel Mut, Zuversicht und Unterstützung stellen können (apropos Unterstützung: hier geht es zu unserem Spendenformular…).

Abendprogramm in Exarcheia, dem alternativ-anarchistischen Viertel Athens

Abendprogramm in Exarcheia, dem alternativ-anarchistischen Viertel Athens (Foto: M. Vogel)

Text: Michael Vogel
Foto ganz oben: INSP

#40 Erdbeerbrücke

Hintergrundfoto: Jan Zier

EDITORIAL: Lauter Fotos, keine Erdbeere

Sie ist unauffällig und praktisch, die Erdbeerbrücke, da und dort vielleicht ein wenig zu wuchtig, zu kalt geraten, zu nützlich. Man will hier nicht verweilen, nur einfach schnell hinüberkommen, erst recht, weil es oft zieht. Und laut ist es auch. An Erdbeeren ist hier gar nicht mehr zu denken. Doch es gibt viele Geschichten an diesem Ort, von denen wir Ihnen – ausnahmsweise! – einmal vor allem in Fotos erzählen. Nicht, weil wir finden, dass Text eh überbewertet wird, sondern um in der Zeitschrift der Straße mal etwas ganz Neues auszuprobieren. Wir wollen uns der Stadt, dem Magazin noch einmal mit einem anderen Blick nähern.

Also waren wir in den Archiven, um erstmal der Frage nachzugehen, wer denn überhaupt dieser Karl Carstens war, nach dem die Brücke ja offiziell benannt ist, welche Spuren er hinterlassen hat. Später haben wir Hannelore Mönch besucht, die an diesem scheinbar unwirtlichen Ort lebt, und zwar schon seit sehr vielen Jahren, sommers wie winters. In einem Kaisenhaus, einer vom Aussterben bedrohten Bremer Lebensform. Außerdem waren wir, etwas unterhalb, aber noch in Sichtweite der Brücke, in einer Gärtnerei, die Raum und Platz und Zeit hat für jene Menschen, die von der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft sonst gerne ausgemustert werden. Und wie ist das eigentlich, nachts auf der Brücke?

Aber, geht das – fast nur Fotos? Wir finden: ja. Deshalb werden wir es wieder tun, am Ende des Jahres. Auf der Bürgerweide.

Ein Besuch bei Hannelore Mönch

DIE KAISENAUSWOHNERIN

#40 ERDBEERBRÜCKE – Schon seit Langem wohnt sie in ihrem Kleingarten direkt unter der Erdbeerbrücke. Ein Hausbesuch bei Hannelore Mönch

 

Sie ist hier geboren, kurz nach Kriegsende, in einem Jahrhundertwinter mit Temperaturen bis zu 30 Grad unter null. Sie ist hierher zurückgekehrt. Sie wohnt auf ihrer Parzelle – und sie darf das: Hannelore Mönch ist das, was man in Bremen eine Kaisenauswohnerin nennt.

Hannelore Mönch, Kaisenauswohnerin
Hannelore Mönch, Kaisenauswohnerin

„Der erhebliche Ausfall von Wohnungen durch den Krieg zwingt dazu, Bedenken gegen das Wohnen in Kleingärten zeitweise zurückzustellen“, schrieb SPD-Bürgermeister Wilhelm Kaisen 1945. Vier Jahre später wurde dieser „Kaisenerlass“ wieder zurückgenommen. Die Menschen blieben. Und wer bis 1974 schon hier wohnte, darf sein Häuschen auch noch „auswohnen“, also lebenslänglich bleiben.

Heute leben noch einige Hundert Menschen offiziell in Bremens Schrebergärten. Hannelore Mönch wohnte früher mit ihrer ganzen Familie in diesem „Behelfsheim“; über die Jahre hinweg hat sich aus dem niedrigen, lang gestreckten Häuschen eine Zweiraumwohnung mit großer Wohnküche, Wannenbad, WLAN, Spülmaschine und Gasheizung entwickelt. Es ist alles da. Was fehlt, ist die Kanalisation. Und ein Schutz gegen Hochwasser: Das Kaisenhaus an der Erdbeerbrücke steht im Überschwemmungsgebiet.

Kaisenhaus im Schrebergarten
Kaisenhaus im Schrebergarten

Ende der Sechziger ist Mönch mal ausgezogen, in ein, ähm, „richtiges“ Haus. Doch dann hinterließ ihr Mann ihr eine Viertelmillion an Schulden. „Er war eine Drecksau“, sagt sie und lacht. Also zog sie wieder auf die Parzelle. Denn irgendeine Mietwohnung, nein, das ist keine Alternative. „Ich hab das nie gelernt.“

Eine Zukunft hat dieses Haus nicht. Wenn Frau Mönch auszieht oder stirbt, darf die Stadt Bremen es abreißen, so wie andere Kaisenhäuser auch. Hannelore Mönch musste dafür schon unterschreiben.

Text und Fotos: Jan Zier

DIE UMFRAGE 2016

Liebe:r Leser:in der Zeitschrift der Straße,

drei Jahre sind verstrichen seit unserer letzten Umfrage. Durch Kommentare auf unserer Facebook-Seite, Leserbriefe, Korrespondenz, Telefonate und durch persönliche Treffen erhalten wir zwar fortlaufend Rückmeldungen. Aber für unsere Arbeit an Bremens Straßenmagazin ist es wichtig, dass wir hin und wieder auch ein breit angelegtes, systematisches Feedback einholen. Bitte nehmen Sie sich deshalb zehn Minuten Zeit, um unsere Fragen zu beantworten.

Canvasco-Tasche, Edition Zeitschrift der Straße 2013

Canvasco-Tasche, Edition Zeitschrift der Straße 2013

Als Dankeschön für Ihre Antworten haben Sie die Möglichkeit, an einer Verlosung teilzunehmen. Nach dem Ende der Umfrage im Herbst verlosen wir drei große Canvasco-Umhängetaschen der unverkäuflichen Edition Zeitschrift der Straße 2013. Der Aufdruck „Das Knistern der Straße“ ist eine Anspielung auf die Titelgeschichte der Ausgabe #1 SIELWALL vom Februar 2011. Darüber hinaus gibt es fünf Gutscheine für spannende und unterhaltsame Stadtführungen der Bremenlotsen zu gewinnen.

Das Team der Zeitschrift der Straße bedankt sich für Ihre Mithilfe.

Die Umfrage ist bereits beendet.

#39 Sonnenplatz

Hintergrundfoto: IamNotUnique/flickr.com

EDITORIAL: Neues wagen

Kattenturm ist einer der jüngsten Ortsteile Bremens. In den 1960er-Jahren entstanden hier, wo bislang Wiesen und Felder waren, etliche mehrgeschossige Wohnblöcke für Tausende Bewohner. In den Wirtschaftswunderjahren herrschte Wohnungsnot und Aufbruchstimmung zugleich, doch so recht wollte der Traum vom gemeinschaftlichen Leben in der Großwohnsiedlung auch hier nicht funktionieren. Mit den Jahren häuften sich die Probleme: Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Perspektivlosigkeit – Kattenturm wurde als sozialer Brennpunkt bekannt, und der Sonnenplatz bildete trotz seines schönen Namens keine Ausnahme.

Nicht dass mit einem Mal alles anders wäre, aber in letzter Zeit lässt sich ein klarer Aufwärtstrend erkennen. Der neu gestaltete Sonnenplatz, der im April offiziell wiedereröffnet wurde, ist ein Sinnbild dafür. Wie die angrenzenden Hochhäuser zu ihren freundlichen Graffitis gekommen sind, lesen Sie ab Seite 20.

Viele Menschen rund um den Sonnenplatz arbeiten dafür, dass es wieder oder weiter voran geht. Indem sie Neues wagen, wie der ehemalige Seemann Husseni Compaore, der als Sprach- und Kulturlotse Neuankömmlingen in Kattenturm bei der Integration hilft (Seite 8) und dafür mit seinen Kolleginnen und Kollegen den Hilde-Adolf-Preis erhalten hat. Oder wie Erwin und Marina Rach, die ihr Eiscafé kurzerhand um eine Kaffeerösterei ergänzten, weil sie die abnehmende Qualität der Kaffeelieferanten einfach nicht hinnehmen wollten (Seite 22).

Nicht mehr ganz neu ist die Roboterrobbe Ole, die bei der Betreuung von Alzheimerpatienten eingesetzt wird. Der ehrenamtliche Helfer Günter Ahrens erinnert sich, wie das Haus O’land damals die Robbe eingeführt hatte – als eines der ersten Seniorenheime im Lande (Seite 10).

Er kam, sah – und liebte seine neue Heimat Kattenturm

DER BOTSCHAFTER

#39 SONNENPLATZ – Vor über dreißig Jahren kam er aus Ghana nach Kattenturm. Heute liebt Husseni Compaore seine zweite Heimat – und hilft, wo er kann

 

Hoch schießen die 1960er-Jahre-Bauten in den Himmel. Mehr als jeder fünfte Kattenturmer hat keinen Arbeitsplatz. Und fast jedes zweite Kind unter 15 Jahren lebt von Hartz IV. Eine sorgenfreie Kindheit sieht anders aus.

Auch Husseni Baba Compaore kann keine Jobs aus dem Boden stampfen, doch der 58-Jährige hilft, wo er nur kann. Die Quartiersmanagerin Sandra Ahlers nennt ihn liebevoll „Baba, den Botschafter von Kattenturm“. Weil er nicht nur von den Schattenseiten Kattenturms erzähle. Oft schon wurde sie auf ihn angesprochen: Baba habe wieder einmal irgendwo von Kattenturm geschwärmt.

Geboren in Takoradi im Westen Ghanas, spricht er Twi und Hausa, natürlich auch Englisch und Deutsch. Seine Sprachkenntnisse sind der Schlüssel zu vielen Menschen in Kattenturm. Denn fast jeder Zweite hier hat einen Migrationshintergrund. Einige stammen aus dem westafrikanischen Ghana. Um sie sorgt sich Compaore besonders: „Vielen Menschen ist das System in Deutschland fremd. Und die schweren Wörter auf den Ämtern bereiten ja selbst Muttersprachlern Schwierigkeiten.“ Husseni Compaore unterstützt sie deshalb als Ehrenamtlicher im Verein Hilfe-Netzwerk, kurz HiNet. Er übersetzt Formulare, begleitet zum Arzt oder berät bei Problemen.

Als er vor über 30 Jahren kam, hätte er sich genau das gewünscht. Stattdessen schlug er sich allein durch. Er fuhr zur See. Seine Frau und die zwei Kinder lebten weiterhin in Ghana, denn eigentlich wollte er nur fünf Jahre bleiben. Deutsch lernte er statt im Kurs auf dem Meer.

Als ihm klarwurde, dass er in Deutschland bleiben wollte, holte er seine Familie nach. Zwei weitere Kinder kamen zur Welt. Waschechte Kattenturmer. So wie ihr Vater. „Ich bin mit Leib und Seele Kattenturmer. Ich kenne hier jeden und fast alles.“ Wie zur Bestätigung grüßt ihn nahezu jeder, der ihm entgegenkommt. Viele umarmen ihn. Er wirkt dabei fast überrumpelt – als rechne er gar nicht mit dieser Herzlichkeit. Er lächelt dann verlegen und fragt nach Neuigkeiten, bevor er bei seinem Lieblingsthema landet: Kattenturm.

Bisweilen ist er 18 Stunden pro Woche für seine Mitbürger im Einsatz. Viele profitieren dabei von seinen Kontakten. Hanneke Ruesink etwa vom Verein Haus der Familie Obervieland: „Baba ruft mich an und vermittelt mir Familien. Wir veranstalten dann zum Beispiel internationale Dinner und helfen bei der Integration.“

Im Verein Hilfe-Netzwerk sind sieben Menschen aktiv. Sie sprechen insgesamt zehn Sprachen, von Arabisch bis Zazaki. 31 Stunden sind die zwei Büros in der Woche besetzt. Per Handy sind die Ehrenamtlichen aber den ganzen Tag zu erreichen. Inzwischen rufen auch Menschen aus anderen Stadtteilen an.

Im vergangenen Jahr wurde HiNet mit dem Hilde-Adolf-Preis ausgezeichnet. Er wird für besonderes bürgerschaftliches Engagement verliehen. Die 3.000 Euro Preisgeld investierten Compaore und seine Kollegen gleich in Flyer, die den Verein noch bekannter machen sollen. Außerdem haben nun alle Diensthandys , sodass sie nicht auf eigene Kosten telefonieren müssen.

Doch ein Verein allein reicht Compaore nicht. Auch in der „Ghana Union“ und im Verein „Afrika ist auch in Bremen!“ engagiert er sich. „Ich bin ein richtiger Vereinsmeier“, sagt er. „Meistens ist mein Kalender voll – obwohl ich hauptberuflich gar nicht mehr arbeite.“ Auch Politik begeistert ihn sehr. Die lokale SPD schätzt ihr Mitglied als einen zuverlässigen Ansprechpartner. Wenn Klaus Möhle, Sprecher für Sozialpolitik in der Bürgerschaftsfraktion, etwas über Kattenturm wissen möchte, ruft er erst mal Baba an: „Er ist einfach ein super Typ, der unglaublich vernetzt ist.“

Kürzlich sollte Husseni Compaore für HiNet in einer Familie vermitteln, wo es zu häuslicher Gewalt gekommen war. Da war er dann ausnahmsweise mit seinem Latein am Ende. Solche Konflikte, sagt er, könne er nicht lösen. Er empfahl, sich an einen Psychotherapeuten zu wenden. Dennoch sieht er die Trends in Kattenturm positiv – wie es sich für einen Botschafter gehört. Er selbst möchte aus Kattenturm nicht mehr weg. Als er zuletzt in Ghana war, hatte er schon nach einer Woche Heimweh. „Ich liebe es einfach hier“, sagt er freudestrahlend. Untreu wird er der Heimatstadt nur beim Sport – wenn er dem Hamburger SV die Daumen drückt.

Text: Thilko Gläßgen
Foto: Sabrina Jenne