Die Verkäufer:innen der Zeitschrift der Straße erhalten ein neues rotes Outfit. Sie können mit Ihrer Spende helfen
Sehen ist der Ausgangspunkt vieler Beiträge in der Zeitschrift der Straße, denn es sind Beobachtungen auf der Straße, die die Autor:innen zu ihren Texten inspirieren. Für unsere Verkäufer:innen dagegen ist Gesehenwerden wichtig. Es ist die Voraussetzung für Kund:innenkontakte, Erfolgserlebnisse und ihren Verdienst.
Damit die Verkäufer:innen künftig noch besser zu erkennen sind, erhalten sie demnächst ein neues Outfit. Mit einer roten Schirmmütze wird jeder ausgestattet, der die Zeitschrift der Straße verkauft. Eine rote Weste und eine schwarze Umhängetasche gibt es für diejenigen, die schon länger dabei sind, regelmäßig verkaufen und gezeigt haben, dass sie es ernst meinen.
Liebe:r Leser:in, trotz der vielen beteiligten Studierenden und freiwillig Engagierten kosten Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift der Straße viel Geld. Wir erhalten keine öffentlichen Mittel und haben keine großen Sponsoren im Rücken. Um Menschen in Not zu helfen, sich selbst zu helfen, brauchen wir Ihre Unterstützung.
#27 SILBERPRÄGE: Wo einst Johnny Cash und Nirvana auftraten, treffen sich heute Hunderte Kohlfahrer. Ein Abstecher zum Aladin
Das Aladin also, einst Gaststätte und Kino, heute ein Ort zwischen Konzerthalle und Festzelt, das sich einen Namen mit Partys wie „Titty Twister“, „Endlich Freitag“ oder „Hüttengaudi“ gemacht hat. Ich sattle die Hühner und mache mich auf den Weg, in der Hand ein Gebräu, dessen Aufschrift heute meine Destination sein soll.
Es ist 3:13 Uhr in der Nacht, als ich von weitem den leuchtenden Schriftzug über dem Eingang prangern sehe. Heute stand die Rockin’ Kohlfahrt auf dem Plan. Dem Getümmel draußen nach zu urteilen ist es ein gelungener Abend gewesen. Drinnen werden gerade die Stühle hochgestellt, grobe Unreinheiten beseitigt und die Theken gewischt. Vor dem Gebäude erschöpfte Kohlfreunde, die sich nach und nach auf die Taxen verteilt.
Doch nicht alle wollen schon gehen; Thorsten und Ulli lehnen lässig am Gebäude und unterhalten sich. Ich nähere mich ihnen mit einer Zigarette im Anschlag. „Duu willst Feuer haben!“, sagt Thorsten. Ich zünde mir meine Zigarette an, während Thorsten mich fragt, ob ich Interesse an einer Flasche Koks hätte. „Das machd ihr aber under euch aus“, meint Ulli, der sich in diesen Handel lieber nicht einmischen möchte. „Jaaa, ich weiß, du willsd, warte nur kurz, ich ruf ma ebm jemand an.“ Noch bevor ich Ulli von seinem Vorhaben abhalten kann, kommt Jochen von hinten angestürmt und umarmt seine beiden Partykollegen: „Will denn jetzt keina hiä Kondome kaufn?!“ Offenbar ein Ort des regen Handels, an den ich hier geraten bin.
Jochen hat heute Geburtstag, erzählt er mir. Auf die Frage, ob er denn heute auch fleißig Kohl gegessen habe, entgegnet er mir: „Ich ess kein Schweinefleisch“, stratzt von dannen und versucht per Anhalter einen Bus zum Stehen zu bringen. Vergebens. Verärgert macht er sich auf den Weg zur nächsten Laterne, um ihr ordentlich die Meinung zu geigen. Er tritt mehrere Male gegen den Pfahl und gibt dabei jodelähnliche Töne von sich. Nach einigen Sekunden besinnt er sich, umarmt den Pfahl und steigt in ein Taxi.
Thorsten und Ulli unterhalten sich derweil über Nelson Valdez, einen Stürmer von Eintracht Frankfurt, der mal bei Werder Bremen spielte, wie Ulli sich erinnert. Von innen singt mich eine übergroße Johnny-Cash-Wandmalerei an, mein Bier ist auch bald leer, genau wie Hemelingen.
Kein Baum, kein Busch am Straßenrand, Gewerbebauten, so weit man blickt – der südöstliche Winkel der Überseestadt gleicht einer Einöde.
Unsere Autor:innen und Fotograf:innen ließen sich davon nicht entmutigen. Im Walfischhof und in der Baumstraße klopften sie an Türen und Tore und haben dahinter eine ganz wunderbar bunte Mischung von Menschen entdeckt.
Wilma Schneider etwa, 84, hat beinahe ihr gesamtes Leben in der Baumstraße verbracht. Als Kind fuhr sie per Anhalter noch auf Pferdekutschen in den Hafen. Nach dem Krieg erlebte sie, wie Lastwagen die Pferde verdrängten und aus dem Villenviertel um den Walfischhof – das als Schwachhausen des Westens galt – ein Gewerbegebiet wurde (S. 8).
Genau gegenüber von Frau Schneiders Haus betreibt August Smisl, zwei Meter groß, 125 Kilo schwer, ein hochmodernes Fitnessstudio. Statt über den Weg zum perfekten Körper sprach er mit der Zeitschrift der Straße über seine ganz persönlichen wunden Punkte (S. 22).
Diese und drei weitere Geschichten haben unsere Autor:innen für dieses Heft und für unsere Website aufgeschrieben. Viel Spaß beim Lesen wünschen ist das Bremer Straßenmagazin – ein gemeinsames Projekt von Studierenden, Journalist:innen, sozial Engagierten, Streetworker:innen, Hochschullehrer:innen und von Menschen, die von Wohnungslosigkeit und Armut bedroht oder betroffen sind.
Tanja Krämer, Philipp Jarke und das ganze Team der Zeitschrift der Straße
Das Logo der Zeitschrift der Straße, was stellt es dar? Abstrakte Grafik? Oder 7. auf dem Kopf stehend mit einer römischen II auf der Seite liegend („7. Februar“)? Oder ein stilisiertes Z und ein Gleichheitszeichen („Die Zeitschrift setzt sich für Gleichheit ein“)? Oder ein stilisiertes Z über Fahrbahnbegrenzungen („Zeitschrift + Straße“)? Oder ein Gesicht mit Auge, Nase und Mund („Die Zeitschrift zeigt das Gesicht der Straße“)? Oder die Bremer Stadtmusikanten mit Punkt = Hahn, Winkel = Katzenbuckel und zwei Strichen = Hund und Esel? Dies und mehr haben Menschen im Logo der Zeitschrift der Straße schon gesehen.
Auch der Designer unseres Logos, Glen Swart, mochte sich nicht auf eine einzige Deutung festlegen, wie seine Skizzen zeigen. Vielmehr spielte er mit Bedeutungsverschiebungen, indem er das Logo unterschiedlichen Kontexten aussetzte (siehe unten).
Mehrdeutigkeit ist wohl eine der Stärken des Symbols, das seit Anfang 2015 die Titelseite jeder Ausgabe ziert. Unsere studentischen Redakteurinnen und Redakteure müssen mit Mehrdeutigkeit umgehen, wenn sie über Straßen und Orte recherchieren und Beobachtungen, Erlebnisse und Begegnungen in Artikeln und Bildern verarbeiten. Und Mehrdeutigkeit zeigt sich auch in den Konflikten rund um den Umgang mit Menschen am Rande der Gesellschaft, wie z. B. Obdachlosen, Drogenabhängigen und Flüchtlingen.
Mehrdeutigkeit zuzulassen und zu akzeptieren ist gleichbedeutend mit Toleranz, dem Erfolgsgeheimnis des friedlichen und respektvollen Miteinanders. Allein schon deshalb verzichten wir darauf, dem Logo der Zeitschrift der Straße eine bestimmte Bedeutung zuzuschreiben. Wären wir aber gezwungen, uns festzulegen, könnten wir mit der Deutung des Logos als Zeichen für Toleranz sicher gut leben.
Text: Michael Vogel
Skizzen, Illustrationen und Fotos: Glen Swart
Vor einigen Wochen hatte ich ein super Erlebnis: Ich stand am Delmemarkt in der Neustadt vorm Rewe, da rief mich eine Frau aus ihrem Auto zu sich und bat mich, ihr die Zeitung zu verkaufen. Ein richtiger Drive-by, das war witzig. Selbst der Marktinhaber, der das zufällig mitbekommen hat, hat sich kaputt gelacht. Solche Momente sind es, die das Verkaufen so nett machen. Es passiert einfach immer etwas, das man nicht erwartet hätte. Außerdem zeigen mit meine Kunden, dass es ihnen Spass macht, bei mir zu kaufen. Manche bestellen sogar ältere Ausgaben und holen sie dann einige Tage später bei mir ab. Das ist doch mal ein Servcie, oder? Es ist auch schön zu sehen, dass sich die neuen Ausgaben recht gut verkaufen. Das hatte ich gehofft. Mir gefällt es auch, dass es jetzt ein Bild gibt auf dem Cover – auch wenn man natürlich diskutieren kann, ob man das jeweilige Foto nun gut findet oder nicht.
Die vergangenen Tage konnte ich leider nicht verkaufen. Ich war ich im Krankenhaus, wieder wegen meines entzündeten Fußes. Eine Woche lang habe ich mich dort erholt und ordentlich Kraft getankt. Nun fühle ich mich wieder topfit und starte in neue Projekte. Zum Beispiel will ich mich bald mal wieder als Heini im Schnoor präsentieren. Kommt doch mal vorbei!
Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße
#26 WALFISCHHOF – 100 Dezibel drücken auf die Ohren, wenn angehende Schlagzeuglehrer ihr Spiel verfeinern. Wer braucht schon Ruhe zum Lernen? Ein Besuch im Trommelwerk Bremen.
Ein langer schmaler Gang, Tür reiht sich an Tür, am Ende ein Konzertsaal. Pearls, Premiers und jede Menge Sonors stehen im Raum, vier Drummer setzen sich breitbeinig hinter die Schlagzeuge. „So, ohne dass wir nervös werden: den A-Teil mit Besen und dann Stickwechsel auf B“, sagt Stefan Ulrich, genannt Steff. Er unterrichtet Jazz für angehende Schlagzeuglehrer, seine Studenten sollen den Wechsel zwischen Drumsticks und Jazzbesen üben. Eine knifflige Koordinationsübung: Wohin mit dem überzähligen Stick? Der Trommelwerk-Schüler Daniel Schneiker sucht noch eine geeignete Ablage. „Man kann den anderen Stick super untern Arsch oder untern Arm klemmen“, rät Steff. Daniel nimmt den Hintern, los geht‘s. Den Besen in der linken Hand, streichelt er über das Fell der Snaredrum, rechts bringt der Stick Becken zum Scheppern, die Bassdrum wummert. Wechsel! Daniel legt den Besen in behutsamer Eile auf die große Trommel, zieht den zweiten Stick hervor und findet den verlorenen Takt wieder. Alles gut gegangen.
Die Wurzeln in der Musik
„Mein Vater war Schlagzeuger bei Revolver“, schwärmt der 32-Jährige. Die Band war eine in den 80er Jahren erfolgreiche Hardrock-Band. Mit 15 Jahren fing er selbst an zu spielen. „Immer schon Heavy Music“, sagt Daniel. Oder besser: fast immer. Ein paar Mal trommelte er als Playback-Schlagzeuger für die „Flippers“. Vom Hardcore-Punk zum Schmuse-Schlager – kein Tabubruch? „Mal herumkommen“, wollte er nur. Seit 2011 ist er Drummer der Amsterdamer Band „Vitamin X“. Seitdem tourt er durch die Welt: Japan, USA, England, Brasilien, und bald auch Indonesien. Sie spielen in besetzten Häusern, Jugendzentren, Clubs und auf großen Festivals wie „Wacken“.
Zum Leben reicht das noch nicht. „Ich will mehr lernen, mir ein zweites Standbein schaffen“, sagt Daniel, der ursprünglich Einzelhandelskaufmann gelernt hat. Derzeit verdiene er seinen Lebensunterhalt als Backliner in einer Musikverleihfirma in Scheeßel – ein Bürojob. Sich ganz auf die Musik konzentrieren und eine eigene Schlagzeugschule aufmachen – das sei sein Traum. Deshalb pendelt er fünf Tage die Woche von Hamburg nach Bremen, um sich im Trommelwerk zum Schlagzeugpädagogen ausbilden zu lassen.
Künstlerischer Freiraum statt starrem Curriculum
Innerhalb von zwölf Monaten lernen die Trommelwerk-Schüler alles rund ums Drumset: Musikgeschichte, Jazzgroove oder Bühnenpräsenz werden vermittelt. Staatlich anerkannt ist das Trommelwerk aber nicht. „Wir bieten künstlerischen Freiraum, ohne starres Curriculum“, sagt Andi Pfeifer, der das Trommelwerk mit Max Gebhardt vor drei Jahren gegründet hat. Wie man selbst unterrichtet, üben die angehenden Schlagzeug-Pädagogen an der Musikschule „nebenan“. Deren Leiter Dietmar Hussong ist gleichzeitig auch Dozent beim Trommelwerk, wenn er sich nicht gerade um seine eigenen 150 Schüler kümmert. Oder um die Überseestadt-Unternehmer in der Mittagspause, die statt Kaffee zu trinken lieber eine Stunde am Schlagzeug schmettern. In der Baumstraße 45 dreht sich alles ums Schlagzeug.
Alle Lehrer waren einmal Schüler
„So, einmal Stage-Stunde“, unterbricht Steff die Übung mit dem Jazzbesen. Obwohl keiner mehr spielen soll, trommeln alle Finger automatisch weiter. Schlagzeuger-Tick. „Niemals alte Becken wegwerfen! Rissige Becken klingen total geil und trashig“, sagt Steff. Er kramt sein Schlüsselbund aus der Hosentasche, legt es auf die Snaredrum und demonstriert den veränderten Sound. „Seid kreativ. Das macht gute Schlagzeuger aus.“
Also sucht sich Daniel Schneiker einige Perkussions-Instrumente zusammen, um ein atmosphärisches Intro zu erzeugen. Er schrammt mit der Cabasa-Rassel leicht über die Becken und streicht mit dem Jazzbesen über den Schellenring, bevor es mit der Übung weitergeht: den A-Teil mit Besen und dann Stickwechsel auf B. Alle Lehrer waren einmal Schüler.
Mein Highlight der vergangenen Tage war der Auftritt bei der Release-Party der Februar-Ausgabe unserer Zeitschrift der Straße. Da war ich wieder mal Heini Holtbeen, hab vor den Gästen eine kleine Rede gehalten. Das kann ich, so was ist einfach mein Ding.
Ansonsten ging es mir in der vergangenen Woche nicht so gut, ich hab meinen Fuß entzündet, musste Antibiotika nehmen und bin trotz der Kälte nur mit Sandalen gelaufen. Tagelang konnte ich deswegen nicht verkaufen. Das ist richtig blöd, denn wenn ich verkaufe, läuft es oft sehr gut. Manchmal schaffe ich es, in zwei Stunden ein knappes Dutzend Hefte an den Mann und die Frau zu bringen.
Am Montag dann aber hatte ich einen ganz schwarzen Tag: Da bin ich mit einer anderen Verkäuferin aneinander geraten. Wir haben uns darum gestritten, wer an einem bestimmten Platz stehen darf. Sogar die Polizei kam. Das Ende vom Lied: Keiner von uns durfte an dem Tag noch dort verkaufen. Das war schon eine gute Entscheidung, ich hab mir das ja auch zum Teil selbst zuzuschreiben. Ich hab es an dem Tag einfach drauf ankommen lassen. Im Nachhinein denke ich: Es ist einfach schade, dass wir Verkäufer nicht zueinander stehen, sondern uns bisweilen auch noch gegenseitig das Leben schwer machen. Dabei haben wir es doch eigentlich schon schwer genug.
Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße
#25 ZIEGENMARKT – Zu sauber, zu teuer, zu groß – der Neubau überm „Rewe“ ärgert viele. Hält nur Dreck Gentrifizierung auf? Die Geschichte von „Ziegenmarkt 21“
Herzlich willkommen im Steintor-Viertel
Das riesige rote X prangt wie ein Parkverbot vor dem Eingang des großen Wohn- und Gewerbeblocks am Ziegenmarkt. Ein Parkverbot für Menschen. Dieser Fleck soll frei bleiben, heißt das: Frei von vermeintlich bettelnden, nervigen Punks, frei von Junkies, Obdachlosen und allen anderen, die sich auf dem Platz gerne aufhalten. Die Glastür hinter dem X und die Platte mit den Klingeln ist sauber. Direkt daneben aber hängt alles voller Plakate, wild an die Backsteinfassade gekleistert. Vom strahlend weißen Putz der darüberliegenden Etagen leuchten bunte Farbbombenkleckse – Zeichen des Widerstands.
Verglichen mit dem benachbarten Ostertor ist das Steintor noch weit weniger geleckt. Der Ziegenmarkt, dieser Platz im spitzen Winkel von Friesenstraße und Vor dem Steintor, ist das soziale Zentrum des Steintorviertels, direkt an dessen Pulsader gelegen. Dreimal die Woche ist das buckelige Kopfsteinpflaster vollgestellt mit Marktbuden. Abends treffen sich hier Alkoholiker und solche, die es werden wollen; in den umliegenden Kneipen und Spelunken ist Betrieb bis in die frühen Morgenstunden. Linke-Szene-Demonstrationen starten oft von hier. Ein Gedenkstein am Rand erinnert an die vielen Drogentoten. Die Rotlichtgasse liegt gleich gegenüber. Über all dem thront seit 2012 der fünfstöckige weiße Kasten mit dem Supermarkt im Erdgeschoss. Der Neubau dominiert den Ziegenmarkt, er überschattet ihn und integriert sich auch optisch nicht in sein Umfeld.
Wie „Stuttgart 21“, nur viel kleiner
Gut zwanzig Meter entfernt, buchstäblich im Schatten des weißen Gebäudes, steht das Jugendzentrum „Die Friese“. Unzählige bunte Plakate an den Wänden erzählen von Veranstaltungen, von lauten Punk-, Metal-, Trash- und Hardcorekonzerten, von linken Demos, von politischem und menschlichem Engagement. Drinnen sitzt Michael Quast, seit Urzeiten Geschäftsführer der sozialen Einrichtung. Kurz geschorene Haare, abgewetzte Jeansjacke, Ohrring. Ihm gefällt überhaupt nicht, wie es vor knapp vier Jahren zu dem Neubau gegenüber kam. Angekündigt ist nämlich zunächst nur eine Modernisierung des maroden, damals noch einstöckigen Supermarktgebäudes. Nur durch Zufall bekommen die unmittelbar betroffenen Ziegenmarkt-Nachbarn dann mit, dass der Flachbau samt der angrenzenden Häuser in diesem Zug durch einen fünfstöckigen Wohn- und Gewerbekomplex ersetzt werden soll: schicke, vergleichsweise teure Wohnungen mitten im Steintor.
„Historisch haben da ja schon immer Häuser gestanden“, sagt Quast. „Es war nur kein so großer Klotz.“ Fünf bis sieben Meter breit waren die Gebäude hier traditionell, mit kleinen Läden unten drin. „Das hätte man ja wieder aufnehmen können.“ Seine Kritik zielt aber nicht nur auf die Architektur. „Es sind ja letztlich hier am Ziegenmarkt zehn oder fünfzehn kleine Grundstücke, die zusammengeführt wurden, um da höherwertige Wohn- und Aufenthaltsqualitäten zu schaffen für eine bestimmte Klientel.“
Quast ist nicht der Einzige, der sich daran stört. Zusammen mit anderen Empörten gründet er eine Bürgerinitiative. Ihren Namen wählen sie in Anlehnung an die zeitgleichen massiven Proteste gegen die milliardenschwere Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs: „Ziegenmarkt 21“. Sie drucken Protestpostkarten und Plakate, sammeln Unterschriften und organisieren Veranstaltungen. Indes: Die Baugenehmigung für den umstrittenen Gebäudekomplex ist bereits erteilt. Immerhin lässt sich die Baufirma nach langer Diskussion und mit Moderation des Ortsamtes auf einen Fassadenwettbewerb ein – und zwar einen, der nur für Bauplaner aus der Nachbarschaft ausgeschrieben wird. „Der Hintergrund war, dass die Architekten, die das dann verbraten, das auch täglich sehen sollen“, erinnert sich Quast. Der Kubus allerdings, der Baukörper selbst, steht nicht mehr zur Debatte. „Die Höhen, der Würfel, …“, ärgert sich Quast: „Dieser Klotz war schon ein Klotz. Die konnten da nicht mehr viel retten.“ Der Wettbewerb bleibt einer um die Fassade.
Angekündigt ist zunächst nur eine Modernisierung des Supermarktgebäudes
Die Mitglieder der Bürgerinitiative hätten sich weitaus mehr gewünscht: eine Debatte nicht nur über den Bau an sich, sondern über den gesamten Ort, über den Ziegenmarkt als einen zentralen Platz des Steintors, mit dem Ziel, diesen zu einem möglichst angenehmen Aufenthaltsort für alle Bewohner:innen zu machen. Immerhin ist dessen Gestaltung als Treffpunkt schon in den Jahren zuvor immer wieder mal öffentliches Thema. Es gibt zahlreiche Bürgerversammlungen und Diskussionen, unter anderem über eine partielle Begrünung der Fläche, darüber, Sitzbänke aufzustellen, sogar ein kleiner Park mit Hügel ist im Gespräch. Mit der erteilten Baugenehmigung ohne jede Vorabinformation der Öffentlichkeit stößt die Stadt all jene vor den Kopf, die sich darüber Gedanken gemacht haben.
Auch wenn es in diesem Fall keine juristische Handhabe mehr gibt, will die Initiative zumindest ein politisches Zeichen gegen willkürliche Stadtplanung setzen – schon allein, damit das Beispiel nicht Schule macht. „Wir wollten zeigen, dass es sich für Investoren nicht lohnt, zehn alte Häuser aufzukaufen, abzureißen und was Neues hinzusetzen“, sagt Quast. Der Beirat diskutiert, derlei für die Zukunft mithilfe einer Gestaltungssatzung zu verhindern – bis heute gibt es keine. Auch die Idee, eine öffentliche Diskussion über die Gestaltung des Rest-Ziegenmarktes zu führen, versandet.
Heute, nach vier Jahren, ist das neue Erscheinungsbild des Ziegenmarktes zur Normalität geworden und der Protest gegen den weißen Klotz an dessen Ostseite verhallt. Nur die vereinzelten Farbkleckse an der Wand, die hin und wieder übertüncht und dann wieder erneuert werden, erinnern noch an den Unmut, den er ausgelöst hat.
Die Mietpreisspirale dreht sich
Dass sich ganze Stadtteile von sozial schwächeren, durchmischten Gebieten zu monokulturellen, kommerzialisierten Wohn- und Aufenthaltsgegenden entwickeln, die aufgrund der steigenden Mietpreise nur noch der höheren Mittel- und der Oberschicht vorbehalten sind, ist schon seit dem vorletzten Jahrhundert zu beobachten – dieses Phänomen bestimmt die Stadtentwicklung auf der ganzen Welt und nun eben auch in Bremen. „Bei der Gentrifizierung gibt es so viele kleine Rädchen, die ineinandergreifen“, sagt Quast. „Es ist nur ein Mosaiksteinchen: Es ist ja nicht so, dass durch diesen einen Bau sich plötzlich ganz viele Leute das nicht mehr leisten können, hier zu wohnen. Das ist ja so schleichend. Es gibt viele Faktoren, die da eine Rolle spielen.“
Der Prozess der Gentrifizierung läuft häufig nach demselben Schema ab: Sobald sich ein Gebiet durch bestimmte Faktoren wie besondere Kulturangebote, Architekturstile oder anderes als besonders hip oder attraktiv herausstellt, beginnen finanzkräftige Interessengruppen, in die bis dahin vernachlässigte Baustruktur zu investieren. Gastronomie und Dienstleistungsgewerbe siedeln sich auf zu dem Zeitpunkt noch günstigen Gewerbeflächen an. Durch die Steigerung der Lebensqualität und des Warenangebotes im Umfeld wird es auch für Vermieter und Immobilienmakler rentabler, in ihr Eigentum zu investieren und dann höhere Mieten zu verlangen – die Mietpreisspirale beginnt, sich zu drehen. Stück für Stück wird auf diese Weise die alte, gewachsene Struktur verdrängt und mit ihr alle, die sich die gestiegenen Lebenshaltungskosten nicht mehr leisten können. Weil diese Entwicklung mehrere Jahre dauert, merken die meisten nicht, wie die Menschen, die nicht so zahlungskräftig sind, nach und nach aus dem Stadtbild verschwinden. Quast beobachtet dies auch im Steintor. „Früher war das Viertel ja mal multikulti. Jetzt ist es nur noch bunt, weil der Anteil der Migranten mit geringem Einkommen spürbar nachgelassen hat.“
Bei der Gentrifizierung gibt es so viele kleine Rädchen, die ineinandergreifen
Auch die zunehmende Tendenz, den öffentlichen Raum zu kommerzialisieren, sieht Quast als Teil des Problems. „Das ist auch Gentrifizierung, wenn es nur noch möglich ist, sich für Geld dort aufzuhalten.“ Der neue gastronomische Betrieb in den Räumen der früheren Hirsch-Apotheke etwa: „Ich sehe, dass da Tische und Stühle rausgestellt werden. Das sind die Anfänge einer gastronomischen Eroberung des Platzes. So fangen sie klein an.“ Nicht zuletzt deshalb hofft er, dass die Gestaltung des Ziegenmarktes noch mal zur Diskussion gestellt wird. „Nicht, dass hier schleichend noch mehr Gastro stattfindet und der Ziegenmarkt dann irgendwann weg ist für die Allgemeinheit.“
Im Steintor hängen inzwischen immer mal wieder Plakate, die gegen die Aufwertung des Viertels Position beziehen. Das beste Rezept gegen steigende Mieten lautet demnach: „Steintor bleibt dreckig.“
#25 ZIEGENMARKT – Als Hippie suchte er das Neue. Ostasien ließ ihn nicht mehr los. Eine Teezeremonie mit Harald Lührs in seiner „Buddhawelt“
Man kann hier auch Buddhas kaufen. Vor allem geht es Harald Lührs aber um die Möbel
Die Buddhastatue ist schon von Weitem zu entdecken. Unübersehbar sitzt sie auf dem Bürgersteig, weißer Stein, bestimmt einen Meter groß. Harald Lührs hat viele Buddhastatuen in seinem Laden, große und kleine, aus Stein, Holz und Bronze, die meisten aus China, aber auch aus Sri Lanka, Indonesien und anderen Ländern. Es sind Heiligtümer der unterschiedlichsten buddhistischen Richtungen, im Tempel dürfte man sie nicht einmal fotografieren. Hier aber kann man sie kaufen, die kleinsten für 20 Euro, die großen für ein paar Tausender.
Die Buddhas haben es ihm angetan. Seine erste Statue kaufte er mit 17, in den 1960ern. „Hippiezeit“, sagt Harald Lührs, und dass er, wie alle in seinem Umfeld damals, auf der Suche nach einer neuen Sichtweise auf die Welt und gegen bestehende Systeme und Hierarchien war. „Wir wollten neue Dinge ausprobieren.“ Asiatische Kultur faszinierte ihn, besonders der Buddhismus. „Aber dass ich einmal Teehausbesitzer sein würde, das dachte ich damals noch nicht.“
Traditionell wird der erste Aufguss weggekippt. Lührs serviert ihn trotzdem
Tatsächlich sind die Buddhas, die seinen Laden vor dem Steintor zieren, vor allem Beiwerk. Auch wenn er ihn „Buddhawelt“ genannt hat: Eigentlich und in erster Linie verkauft Harald Lührs Tee. Chinesische und japanische Tees, in ganzen Blättern, alle bekannten Sorten, die meisten aus der chinesischen Provinz Zhejiang, die in China für den besten Tee bekannt ist. Man kann die Tees einfach kaufen oder sie bei und mit ihm trinken. Harald Lührs nimmt dann das hölzerne Teetablett und richtet darauf die Teeschalen an. In der kleinen Küche kocht er Wasser. Am Tresen wählt er ein paar Blätter Long Jing aus, zeigt sie und trägt sie in die Küche. Kurz darauf bringt er die Kanne. Fünf Minuten Ziehzeit. Lührs gießt den ersten Aufguss, den „Aufguss des guten Geruchs“, in die Schalen. Traditionell wird dieser weggekippt; er serviert ihn trotzdem. Zweimal füllt er die kleinen Schälchen nach, dann ist die Kanne leer. Lührs holt neues Wasser und bringt Kuchen – auch das ein den hiesigen Kundenbedürfnissen geschuldeter Traditionsbruch: In China würde man zum Tee niemals etwas essen. Der zweite Aufguss schließlich, der „Aufguss des guten Geschmacks“ schmeckt deutlich besser, weil weniger bitter.
Auch wenn Tee Lührs’ Hauptgeschäft ist: In den großen Schaufenstern seines Ladens kommt er ebenfalls nur indirekt vor: Gläser, Tassen und anderes Geschirr stapeln sich dort, aus Japan, China, Korea, Indonesien, alles bunt gemischt – Asien eben. Nur wer genauer schaut, entdeckt im Hintergrund den großen Tresen mit dem Teeregal, auf dem Packungen und Dosen Hunderter verschiedener Teesorten nebeneinander aufgereiht sind.
Ruhige Kunden, ruhiger Laden
Draußen lärmt die Straße. Drinnen ist es auffallend still. Keine Musik. Nur das leise „Plingpling“, das ertönt, wenn die Tür geht. So still ist es, dass man zunächst denkt, kein Mensch sei im Laden. Obwohl man Harald Lührs gleich sieht, wie er hinter einem Tisch sitzt und in einer Zeitung liest. Gut 60 Jahre alt ist er, die Haare schon weiß-grau, auf der Nase trägt er eine Brille. Er schweigt. So viel Ruhe strahlt er aus, dass er selbst wie eine Buddhastatue wirkt. Man möchte nicht stören. Erst auf Nachfrage sagt er freundlich: „Schaut euch gerne überall um.“
Eine Wendeltreppe führt ins Obergeschoss des Geschäfts, das sehr an ein Museum erinnert. Großformatige Gemälde und Kalligrafien schmücken die Wand. Buddhafiguren auch hier, sorgsam mit Blumen, Vasen und porzellanen Räucherstäbchenhaltern auf niedrigen Tischen arrangiert wie in einer Ausstellung. Daneben ein traditionelles chinesisches Schlafgemach mit kleinem Betttisch, an der Wand dahinter eine tibetische Stickerei. Im Nachbarraum ein kunstvoll geschnitzter, übermannshoher Altar mit Buddhastatue, Kerzen und Räucherstäbchen, weiter verschiedenste Musikinstrumente und Teppiche. Alles wirkt sehr authentisch, bis auf den Kühlschrank: Auf dem klebt ein Foto von Tutanchamun.
Alles wirkt sehr authentisch, bis auf den Kühlschrank: Auf dem klebt ein Foto von Tutanchamun
Harald Lührs ist fasziniert von Ostasien. Schon in seiner Kindheit, erzählt er, habe die zauberhafte und mystische Welt jenes Erdteils, auch wenn er sie nur aus Geschichten kannte, eine wichtige Rolle für ihn gespielt. Später habe er sich sehr viel Literatur über das alte China gekauft und begonnen einzutauchen in die alte legendäre Welt Chinas und der Ming-Dynastie. Nach seinem Kunstgeschichtsstudium geht er für einige Jahre auf Entdeckungsreise nach Indonesien und Sri Lanka. Seine beiden Söhne kommen dort zur Welt.
Menschen, Kultur und Geschichte Ostasiens beeindrucken den Bremer so sehr, dass er sie zum festen Teil seines inzwischen wieder norddeutschen Lebens macht. In den 1980ern eröffnet er seinen Laden. Zunächst verkauft er dort asiatische Kleidung. Vor gut zehn Jahren steigt er schließlich auf Tee um: Der verkauft sich hierzulande besser.
Liebhaberinnen und Liebhaber traditioneller chinesischer Tees sind ruhige Kunden. Die Atmosphäre, in die sie in Lührs’ Laden eintauchen, tut ihr Übriges: Keine Spur von Hektik, alles ist ziemlich ruhig und relaxt hier. Das Ambiente hilft ihm aber nicht nur beim Tee, sondern trägt auch zum Verkauf der Möbel und Buddhastatuen bei. Wobei Lührs den größten Teil seines Umsatzes mit den Tees macht; die Möbel, sagt er, verkaufe er nur zum Vergnügen.
Der Tee, sagt Harald Lührs, verbinde die Menschen in der ganzen Welt. Neben den Stammkundinnen und Stammkunden kämen auch viele Touristen in seinen Laden. Das sei immer sehr interessant, weil jedes Land seine eigene Teekultur habe. Nur Chinesen kämen eher selten, bedauert Lührs – ob die sich alle privat mit Tee versorgen oder ihnen der in Lührs’ Laden schlicht zu teuer ist, bleibt offen.
Regelmäßig fährt er nach China, Indonesien und Sri Lanka, um seine Produktpalette zu erweitern. Freunde, die er auf seinen vielen Reisen dort kennengelernt hat, beraten ihn beim Einkauf sowohl der Tees als auch der Möbel und Buddhas. Selbst spricht er nur wenig Chinesisch, ein bisschen Indonesisch und etwas Singhalesisch.
Faszination Ming-Dynastie
Mehr noch als Tee und Teekultur fesseln ihn jedoch asiatische Möbel. Besonders von der Ming-Dynastie ist er fasziniert, von ihren Möbeln und ihrer Kultur, die in China immer noch zu spüren ist. „Die kunstvolle Verarbeitung der traditionellen Möbel, Bilder und Skulpturen sind unvergleichlich“, schwärmt er. „Auch die Formen und Farben sind faszinierend.“ Lange Zeit waren diese Produkte kaum zugänglich für Europäer. Als es vor einigen Jahren dann einfacher wurde, damit zu handeln, verwirklichte sich Lührs einen persönlichen Traum und nahm neben den Tees auch Möbel und Kunstgegenstände in sein Programm. Er zitiert gern einige der alten Texte und man merkt, dass chinesische Lebensweisheiten und Philosophie auch zu seinen eigenen geworden sind.
Die antiken Möbel und die zahllosen Statuen schaffen eine fast spirituelle Atmosphäre in Lührs’ Laden. Alles wirkt wie bei einem gläubigen Buddhisten zu Gast – der Lührs nach eigenen Angaben nicht ist. Er sei ursprünglich streng christlich erzogen worden und habe die strikten Regeln des Christentums oft als erdrückend empfunden, erzählt er. Im Gegensatz dazu gefalle ihm die Leichtigkeit des Buddhismus. Lührs versteht diesen nicht als Religion, sondern als Lebensphilosophie. Diese Leichtigkeit, die daraus atme, spiegele sich auch in der Teekultur und in den Möbeln im Stil der Ming-Dynastie wieder. Aus dieser Perspektive betrachtet wäre Lührs’ Laden sehr harmonisch.
#25 ZIEGENMARKT – Ein Zeichen für den ersten Sex, für Mord und Totschlag oder einfach für nichts? Eine Suche nach der Wahrheit über die Schuhe an der Leine
Nach Hause geht’s barfuß
„Vielleicht ist es ja auch einfach eine Fiesheit unter verfeindeten Schülern und so“, vermutet das Mädchen. „Also, man klaut einem die Schuhe und wirft sie hoch, dass sie hängen bleiben, und sagt: ‚Hol sie dir!‘“ Neun sind es an der Zahl. Sportliche Versionen, an den Schnürsenkeln zusammengebunden, immer paarweise. Man muss den Kopf schon ziemlich in den Nacken legen, um sie zu sehen. Sie hängen unterm Bremer Himmel, genauer: über dem Drahtseil, an dem auch die Straßenlaterne hoch über der Kreuzung befestigt ist. Und nicht nur hier. „Shoefiti“, zusammengesetzt aus den englischen Wörtern „shoe“ und „graffiti“. Wie auch Graffiti und „Urban Knitting“, das Umhäkeln von Parkpollern, Masten und anderem, ist die Schuhinstallation eine Form, in den öffentlichen Raum gestaltend einzugreifen – Guerillakunst also. Unter Insidern gilt schon das Werfen an sich, im Fachjargon „Shoetossing“ genannt, als Performance. Dass Schuhe an Kabeln, Bäumen, Ampeln und Laternen baumeln, ist längst ein weltweites Phänomen.
Die Kreuzung auf der Friesenstraße ist wenig befahren. Ab und an kommen Passanten vorbei, weniger schlendernd als mit einem sicheren Ziel. Sie wirken geschäftig und die Frage nach den Schuhen da oben über ihnen und was es damit auf sich hat, irritiert sie. „Vielleicht waren sie alt und jemand wollte nur seinen Müll loswerden“, vermutet ein Mann um die 40, die lederne Aktentasche unterm Arm; dann eilt er weiter Richtung Innenstadt. Lederschuhe, wie er sie trägt, gehören bisher nicht zum Repertoire der hängenden neun. Möglicherweise habe es etwas mit Banden zu tun, die ihr Revier markieren, vermuten andere. Oder: „Heimatlose, die hier wohnen.“ Wobei einige der Schuhe noch fast ungetragen aussehen. „Eventuell sind die Besitzer auch tot, bleiben so aber in Erinnerung.“
Soli-Aktion für Kurzkriegshelden
Auf den Stufen der Eckkneipe sitzt einer mit seinem Nachmittagsbier, gedankenverloren. Seine kamelbraune Jacke, die lange Hose, die Mütze und die Wollsocken in seinen Turnschuhen sind viel zu warm für die späten Sonnenstrahlen des Tages. Er folgt dem Blick nach oben und verzieht keine Miene. Mehr als die Schuhe selbst verwundert ihn das Interesse an dem Phänomen. Die Frage hat er erwartet. Mit einer Antwort jedoch lässt er sich Zeit, zündet sich erst einmal eine Zigarette an. Sehr leise, mit belegter Stimme, sagt er dann, dass er nichts darüber wisse, außer dass es ein Trend aus Amerika sei. Das jedenfalls erzählten die Medien. Er ist schon sehr lange regelmäßiger Gast im „Horner Eck“, sitzt immer hier, mit Blick auf die Kreuzung. Seit wann die Schuhe dort oben hängen, kann er allerdings auch nicht sagen. „Irgendwann waren sie einfach da.“
„Eventuell sind die Besitzer tot, bleiben so aber in Erinnerung“, vermutet einer
Er rät, den Wirt zu befragen. Der schießt gerade mit vollem Tablett nach draußen. Am Tresen ist noch ein Platz frei. Es ist recht dunkel hier drinnen und von allen Seiten blickt, neben einigen anderen bekannten Gesichtern, Frank Zappa von den Wänden, in den verrücktesten Posen. Manche der Bilder sind handsigniert. Auf seinem Rückweg hinter den Tresen schnackt der Wirt kurz mit einigen Stammgästen. Mich beachtet er nicht.
Ich bestelle ein Bier und schiebe mein Anliegen direkt hinterher: Was hat es mit den Schuhen da draußen an der Leine auf sich? Die strenge Miene des Alt-68ers mit weiß-grau meliertem Pferdeschwanz, Hut und runder Brille erhellt sich. Er beginnt direkt voller Begeisterung von dem US-Film „Wag the Dog – Wenn der Schwanz mit dem Hund wedelt“ zu erzählen. „Ein Klassiker mit den ganz Großen – den muss man doch kennen!“ Die Schuhe da draußen hätten „auf jeden Fall“ damit zu tun, ist er überzeugt. In dem Film von Barry Levinson aus dem Jahr 1997 geht es um Gerüchte, die Manipulation von Medien und Scharfmacherei im US- Präsidentenwahlkampf. Um einen Skandal um den Präsidenten zu vertuschen, inszeniert einer seiner Berater einen fiktiven Kurzkrieg gegen Albanien und erfindet einen Helden. Dieser William Schumann alias „Old Shoe“ bleibt am Ende des Krieges angeblich als Gefangener hinter den feindlichen Linien zurück. Die US-Bevölkerung setzt sich daraufhin für eine Befreiungsaktion ein und hängt als Zeichen der Anteilnahme alte Schuhe an Bäumen und Strommasten auf. „Eine echt coole Story“, wiederholt der Wirt und zapft dabei blind ein Bier nach dem anderen. „Deswegen, denke ich, hingen die ersten Schuhe hier. Das war wohl die Inspiration durch den Film. Also im Prinzip nur aus Jux – ohne eine eigene Ideologie. Und andere Schuhe kamen dann ganz ohne Grund hinzu.“
Die neugierigen Blicke auf die Schuhgirlande
Auch die drei Männer, die draußen an dem Tisch direkt neben der Schuhgirlande gemütlich bei Weizenbier und gutem Essen zusammensitzen, vermuten nicht viel hinter dem Schuh-Trend. Sie bemerken die Fußbekleidung über ihren Köpfen auch erst jetzt. „Ja, stimmt, die hängen ja inzwischen überall.“ – „In der Zeitung hat letztens davon mal was gestanden in Verbindung mit dem Vietnamkrieg“, erinnert sich der mit der Glatze, den seine Tischnachbarn als „Herr Professor“ vorstellen, kauend. Sie seien als eine Art Grabdenkmal beschrieben worden. Die Treter hier seien aber wohl eher ein Scherz, fügt er noch hinzu, bevor der nächste Bissen in seinem Mund landet: „Von ‚Splashern‘, die zu viel Geld haben.“ Sein jüngerer Kollege tippt auf Kinder, eine besondere Idee stecke nicht dahinter: „Ich habe mal einen beobachtet, der war kaum 1,60 groß.“ Dementsprechend lange habe es gedauert, bis das Schuhpaar oben geblieben sei. Das Werfen habe bestimmt seinen Reiz. „Man hat ja keine Leiter oder so.“ Für manche sei das sicher eine Art Sport. Die eigentlich interessante Frage aber sei doch, wirft er lachend ein: „Bringt man die Schuhe extra mit oder geht man dann barfuß heim?“ Einstimmiges Gelächter. Der Herr Professor ergänzt, es sei eine Mode. „Wie die hängenden Hosen: Die kamen ja auch von irgendwoher und dann hatten sie plötzlich nichts mehr mit Knast und so zu tun.“
Fußabdrücke hinterlassen
Es liege in der Natur des Menschen, der Bedeutungslosigkeit des Lebens etwas entgegenstellen und Fußabdrücke hinterlassen zu wollen, erklären Psychologen, Zeichen zu setzen, selbst wenn niemand wisse, wofür. Es gibt ganze Internetforen, die sich mit dem Schuh-Phänomen beschäftigen, und Filme, die ihm nachgehen. Die Ursprünge liegen demnach in den USA und in Schottland. In den USA stehen die Luft-Treter vor allem mit Bandenkriminalität in Verbindung, dienen als Reviermarkierung und erinnern an Todesopfer. In Schottland ist der Brauch angeblich noch älter und ein stolzes Zeichen für den ersten Sex. Im Steintor-Viertel tippt die Freundin des Mädchens, das einen bösen Streich unter Mitschülern vermutet, eher auf eine Mutprobe. Die Aufgabe bestehe darin, die Schuhe wieder runter zu holen. Aber, wendet sie dann selbst ein: „Dabei kann man sicher leicht krepieren.“
„Gefährlich? Quatsch!“, kommentiert der Wirt spöttisch und signalisiert mit einer Handbewegung, wie beschränkt er diese Annahme findet. „Wer will denn da oben drankommen?“ Außerdem hingen diese neun Schuhpaare nun schon eine ganze Weile dort. Wie lange genau, weiß er aber auch nicht. Die hängenden Schuhe kümmerten offensichtlich niemand. „Mögen oder nicht mögen? Ich habe keine Meinung dazu“, sagt er schließlich. „Ohne die Schuhe wäre es ja auch nicht schöner.“
Die Frage ist doch: Bringt man die Schuhe extra mit oder geht man dann barfuß heim?
Erfahre man von Schuhen, die an Kabeln oder Leitungen hingen, heißt es bei der SWB, so prüfe man, ob dadurch Schäden entstanden seien oder eine Gefährdung von Leib und Leben vorliege. Gegebenenfalls würden Mitarbeiter die Treter dann entfernen. Die Bremer Polizei teilt mit, dass das Werfen von Schuhen auf Kabel, Ampeln oder Bäume nach dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz als Ordnungswidrigkeit gelte; es drohe ein Verwarnungsgeld von 35 Euro. Ob die hängenden Schuhe darüber hinaus eine Gefährdung darstellten, müsse jeweils im Einzelfall geprüft werden; zuständig sei in erster Linie das Stadtamt.
Die Turnschuhe der jungen, groß gewachsenen Frau, die mit ihrem Hund gerade die Kreuzung am Horner Eck überqueren möchte, sehen einem der Schuhpaare, die hoch über ihr baumeln, sehr ähnlich: „Chucks“ der Marke „Converse“. Weiß sie vielleicht, was es mit dem ominösen Luftschmuck auf sich hat? „Das ist so, wie irgendwas an die Häuser sprühen oder wie dieses Häkeln, glaube ich“, sagt sie, und dass es wohl aus den USA komme. „Aber genau verstehe ich das auch nicht.“ Sie lächelt entschuldigend.