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#25 ZIEGENMARKT – Sie wollten die Verelendung aufhalten – die einen die der Junkies, die anderen die des Viertels. Ein Rückblick auf das Ende einer der größten Drogenszenen Deutschlands

Zeichnung einer Ziege, Umrandung aus Spritzen

„Meine Damen und Her­ren, liebe Jun­kies, heute ver­tei­len wir sau­be­re Sprit­zen, wer tut es mor­gen?“, steht auf den gro­ßen Schil­dern, die sich die Stu­die­ren­den um­ge­hängt haben. Sie ste­hen auf dem Markt­platz und im Vier­tel, rund ums Siel­walleck. Sie haben Eimer dabei für die Sprit­zen. Vor allem aber in­for­mie­ren sie dar­über, wie man Dro­gen­ab­hän­gi­gen hel­fen kann.

Es ist 1991 und die of­fe­ne Dro­gen­sze­ne im Bre­mer Stein­tor­vier­tel gilt als eine der größ­ten in ganz Deutsch­land. Fast alle der Süch­ti­gen sind ob­dach­los und kon­su­mie­ren auf of­fe­ner Straße. Die Jun­kies und ihre Hin­ter­las­sen­schaf­ten sind über­all zu fin­den: in Vor­gär­ten, in Haus­ein­gän­gen, auf Spiel­plät­zen. Schul­hö­fe blei­ben wäh­rend der Pau­sen wegen her­um­lie­gen­den Sprit­zen oder be­nutz­ten Kon­do­men ge­schlos­sen. Dieb­stäh­le, Ein­brü­che, Dea­le­rei und Pro­sti­tu­ti­on sind an der Ta­ges­ord­nung – ir­gend­wo­her muss das Geld für die gan­zen Dro­gen kom­men. Bil­der von aus­ge­mer­gel­ten Ge­sich­tern und sprit­zen­über­sä­ten Vor­gär­ten schmü­cken die Zei­tungs­co­ver bun­des­weit.

23 Jahre spä­ter: Im Kon­takt-Café der „Drobs“ – das steht für „Dro­gen­be­ra­tungs­stel­le“ – im Ti­vo­li-Hoch­haus sitzt eine Hand­voll So­zi­al­ar­bei­te­rIn­nen um den Tisch. Nach­mit­tags kriegt man hier ’nen Kaf­fee, vor­mit­tags nut­zen die Mit­ar­bei­te­rIn­nen den Raum für Be­spre­chun­gen. Sie sind alle um die 50 und alle seit meh­re­ren Jahr­zehn­ten an dem Thema dran. „Heute ist im Vier­tel nix“, sagen sie, und auch der ein­zi­ge junge Street­wor­ker-Kol­le­ge, der mit da­bei­sitzt, nickt. Ins Vier­tel geht er gar nicht mehr auf sei­nen Tou­ren.

At­trak­ti­ves Flair für Süch­ti­ge

Da­mals ge­hö­ren die Frau­en mit zu den Ers­ten über­haupt, die sich hier in Bremen um Jun­kies küm­mern. „Dro­gen­ar­beit und Ka­pi­tal“ heißt ihre stu­den­ti­sche Ar­beits­grup­pe, die sich, un­ter­stützt von ein paar Pro­fes­so­ren, kun­dig macht und Kon­takt zu den Süch­ti­gen sucht. Sie fah­ren nach Hol­land, wo die Dro­gen­sze­ne schon län­ger groß ist, um sich zu in­for­mie­ren, ler­nen Sprit­zen­au­to­ma­ten und Druck­räu­me ken­nen. Ihr Ziel: „Die Ver­elen­dung der Jun­kies auf­hal­ten.“

An­de­re wol­len eher die „Ver­elen­dung des Vier­tels“ auf­hal­ten. Wäh­rend der 1950er- und 1960er-Jah­ren lebt hier ein bunt ge­misch­ter Hau­fen, Hip­pies, Wohn­ge­mein­schaf­ten, Stu­die­ren­de, Im­mi­gran­ten und Jun­kies. Viele Ge­bäu­de sind her­un­ter­ge­kom­men, die Miet­prei­se dem­entspre­chend güns­tig. Hier fin­den alle Platz, die To­le­ranz un­ter­ein­an­der ist ziem­lich groß – auch ge­gen­über der Dro­gen­sze­ne. „Man hatte seine Dea­ler, seine Ab­hän­gi­gen und seine Pen­ner und man kann­te sie“, drückt es ein An­woh­ner aus.

Das Viertel wird herausgeputzt

Dass es ir­gend­wann zum Kon­flikt kommt, der ab den 1980ern rich­tig es­ka­liert, hängt in den Augen der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen mit der schon da­mals ein­set­zen­den Gen­tri­fi­zie­rung zu­sam­men: Nach dem Aus für die vier­spu­ri­ge „Mo­zart­tras­se“ quer durchs Quar­tier und die Hoch­haus-Plä­ne wird das Vier­tel wie­der her­aus­ge­putzt. Die Haus­be­sit­zer, man­che ehe­mals Haus­be­set­zer, wer­den älter, be­kom­men Kin­der, wün­schen sich schö­ne Vor­gär­ten und eine „si­che­re“ Um­ge­bung. „Die woll­ten schon, dass das Vier­tel span­nend ist, aber nicht so“, drückt es eine der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen aus.

Das Stadt­bild wan­delt sich – nur die Jun­kies, die blei­ben. Haupt­dro­ge ist He­ro­in, ein Gramm be­reits für 60 DM zu be­kom­men. Ge­fahr, von der der Po­li­zei „auf­ge­knöpft“ zu wer­den, be­steht erst ab zehn Gramm. Nir­gend­wo an­ders sind die Prei­se so güns­tig und die Ge­setz­ge­bung so li­be­ral; das Flair zieht wei­te­re Dro­gen­ab­hän­gi­ge an. Die vor­mals so to­le­ran­te Nach­bar­schaft spal­tet sich in zwei Lager, die sich ge­gen­sei­tig in die Quere kom­men. Flug­blät­ter von „Jun­kie-Ak­ti­ons­wo­chen“ wet­tern gegen die „ver­kack­ten Arsch­gei­gen die­ser Welt“: „Kommt ihr euch über­haupt nicht doof vor, auf die Straße zu gehen ‚für sau­be­re Stra­ßen‘?“

Flug­blät­ter von „Jun­kie-Ak­ti­ons­wo­chen“ wet­tern gegen die
„ver­kack­ten Arsch­gei­gen die­ser Welt“

„Rich­ti­ge Ori­gi­na­le“ seien das da­mals ge­we­sen, die Jun­kies, er­zäh­len die So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen. Es klingt wie: Nicht so be­ne­belt vom Me­tha­don wie die Sub­sti­tu­ier­ten heute. Die Stu­die­ren­den und So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen er­grei­fen da­mals nicht nur Par­tei für die Süch­ti­gen. Weil es staat­li­che An­ge­bo­te bis dato kaum gibt, or­ga­ni­sie­ren die Ak­ti­vis­tIn­nen auch ganz prak­ti­sche Hilfe, etwa durch Haus­be­set­zun­gen, um Un­ter­künf­te und Druck­räu­me zu schaf­fen.

Erst als 1988 im Ge­sund­heits­res­sort nicht mehr Hen­ning Scherf das Zep­ter in der Hand hält, be­kom­men die Street­wor­ke­rin­nen auch mehr staat­li­che Un­ter­stüt­zung für ihre Ar­beit. Ein VW-Bus dient als „Schutz­raum“ für die bis zu 50 Pro­sti­tu­ier­ten auf dem Dro­gen­strich in der Frie­sen­stra­ße. Die haben nicht nur Stress mit den Frei­ern, son­dern auch mit den Pro­sti­tu­ier­ten aus der He­le­nen­stra­ße, denen sie das Ge­schäft ver­mie­sen. Im Bus wer­den Wun­den ver­sorgt, Ein­weg­sprit­zen und Kon­do­me ver­teilt. Ein ähn­li­ches An­ge­bot schafft das neue Drobs-Café in der Bau­ern­stra­ße und der „Kon­takt­la­den“ in der We­ber­stra­ße. Hilfe gegen Hun­ger, Kälte und Ver­let­zun­gen – das lin­dert das Elend. Und na­tür­lich gibt es immer auch Be­ra­tung.

Überlastung durch die wachsende Nachfrage

Das An­ge­bot der Street­wor­ker kann dem An­sturm nicht stand­hal­ten. Ge­ra­de in den Win­ter­mo­na­ten sind der Frau­en­bus und die Be­ra­tungs­stel­le in der Bau­ern­stra­ße für viele le­bens­not­wen­dig. Was als An­ge­bot mit viel per­sön­li­chem Kon­takt und of­fe­nem Ohr für eine über­schau­ba­re An­zahl an Dro­gen­ab­hän­gi­gen ge­dacht war, wird von den un­zäh­li­gen Jun­kies re­gel­recht über­flu­tet. Die Mit­ar­bei­ter kön­nen das kaum noch be­wäl­ti­gen, 86 Dro­gen­to­te in einem Jahr schrei­ben einen neuen Re­kord. „Da die Ab­hän­gi­gen immer mehr ver­elen­den, war un­se­re Ar­beit zu­neh­mend auf die Ver­sor­gung re­du­ziert. Mit un­se­rem bis­he­ri­gen Kon­zept sind wir ge­schei­tert“, ge­steht Anton Bart­ling, der da­ma­li­ge Lei­ter des Drobs-Cafés, im De­zem­ber 1991 in einem In­ter­view.

In den Win­ter­mo­na­ten 1990/1991 sind die Lo­ka­le in der Bau­ern- und We­ber­stra­ße zeit­wei­lig so über­lau­fen, dass es zu re­gel­rech­ten Aus­schrei­tun­gen kommt. Den Street­wor­kern bleibt nichts an­de­res übrig, als beide An­lauf­stel­len zeit­wei­se zu schlie­ßen, um sich selbst nicht zu ge­fähr­den. Der Ver­such, die Räume zu er­wei­tern, schei­tert am star­ken Pro­test von An­woh­nern und La­den­be­sit­zern. Auch all­ge­mein wächst der Druck: Mit De­mons­tra­tio­nen, Flug­blät­tern und öf­fent­li­chen Dis­kus­sio­nen macht sich eine Bür­ger­be­we­gung rund um den Os­ter­tor­stein­weg gegen die Dro­gen­sze­ne stark. „Die woll­ten, dass das alles ein­fach ver­schwin­det“, er­in­nert sich eine der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen. „Die Angst vor HIV war grö­ßer als die Angst vor zu vie­len Dro­gen­to­ten.“

Jun­kie-Sitz­blo­cka­de auf der Kreu­zung

Auch die Po­li­tik ist unter Druck. Im Sep­tem­ber 1992 be­schließt der Senat die „Rück­bil­dung der of­fe­nen Dro­gen­sze­ne mit dem Ziel ihrer Auf­lö­sung“. Viele neh­men das zu­nächst nicht ernst. Die Jun­kies ge­hör­ten zum Vier­tel, rund um die Uhr. „Kei­ner konn­te sich vor­stel­len, dass sich das je än­dert“, sagt eine der So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen. „Da hing ja auch eine kom­plet­te In­fra­struk­tur dran.“

Doch neben der Be­reit­stel­lung von de­zen­tral über die ganze Stadt ver­teil­tem Wohn­raum be­deu­tet der Se­nats­be­schluss auch mas­si­ve Re­pres­sio­nen gegen Süch­ti­ge und Pro­sti­tu­ier­te sowie einen Abbau der be­ste­hen­den Hilfs­an­ge­bo­te im Vier­tel. Von „Er­pres­sung“ spre­chen die So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen: Zwar gibt es mehr Mit­tel für ein frau­en­spe­zi­fi­sches Me­tha­don­pro­gramm. Der Bus, der als An­lauf­stel­le für die Dro­gen­pro­sti­tu­ier­ten in der Frie­sen­stra­ße dien­te, muss aber im Ge­gen­zug sein An­ge­bot ein­stel­len. Der Sprit­zen­au­to­mat am Eck wird im Ok­to­ber 1992 ab­ge­baut. Und auch die Jun­kie-Sitz­blo­cka­de auf der Siel­wall­kreu­zung kann das Aus für die An­lauf­stel­len in der Bau­ern- und We­ber­stra­ße nicht ver­hin­dern.

Dro­gen­ab­hän­gi­ge, die beim Kon­su­mie­ren er­wischt wer­den, be­kom­men nun Buß­gel­der, Platz­ver­wei­se oder wer­den di­rekt aufs Po­li­zei­re­vier ge­bracht. Die ört­li­chen Zel­len sind so über­füllt, dass die Be­am­ten die Ab­hän­gi­gen manch­mal ein­fach nur in einem an­de­ren Stadt­teil ab­set­zen. Mit Kon­trol­len und Buß­gel­dern geht die Po­li­zei auch gegen die Pro­sti­tu­ier­ten und Frei­er in der Frie­sen­stra­ße vor – nicht, um die Dro­gen­pro­sti­tu­ti­on zu ver­hin­dern, son­dern, um sie an den Holz­ha­fen zu ver­le­gen. In „Bür­ger-In­for­ma­tio­nen“, die sich an Frei­er rich­ten, kün­digt der In­nen­se­na­tor „Vor­la­dun­gen an Ihre Woh­nungs­an­schrift“ an und warnt vor „pein­li­chen Si­tua­tio­nen“. Dro­gen­ab­hän­gi­ge Pro­sti­tu­ier­te, die wei­ter­hin im Sperr­ge­biet ihre Diens­te an­bie­ten, lan­den rei­hen­wei­se im Ge­wahr­sam – 35 Frau­en täg­lich sind es Mitte der 1990er.

Die Angst vor HIV war grö­ßer als die Angst vor zu vie­len Dro­gen­to­ten

1995 zieht die Drobs von der Bau­ern­stra­ße ins Ti­vo­li-Hoch­haus um. Die Zahl der Süch­ti­gen, die mit Me­tha­don sub­sti­tu­iert wer­den, steigt von 200 im Jahr 1991 auf 1.000. „Im Stein­tor ist es so ruhig wie seit zehn Jah­ren nicht mehr“, kon­sta­tiert der Po­li­zei­re­vier­lei­ter. Die Lei­te­rin der Drobs zieht 1996, ein Jahr nach dem Umzug, eine ge­misch­te Bi­lanz: Zwei Drit­tel ihrer Kli­en­tIn­nen aus dem Vier­tel kämen wei­ter­hin vor­bei, dafür such­ten nun auch Ab­hän­gi­ge Rat, die zuvor das Um­feld der of­fe­nen Szene im Vier­tel ge­scheut hät­ten. Die Si­tua­ti­on der Jun­kies im Vier­tel aber habe sich mas­siv ver­schlech­tert: Das Klima sei rück­sichts­lo­ser ge­wor­den, die Ver­elen­dung habe zu­ge­nom­men.

Die So­zi­al­ar­bei­te­rin­nen, die einst im VW-Bus in der Frie­sen­stra­ße hal­fen und in­zwi­schen bei der Come­back GmbH im Ti­vo­li-Hoch­haus ar­bei­ten, sind bis heute wü­tend über das ra­bia­te Vor­ge­hen von Po­li­tik und Po­li­zei da­mals. Das Wohl der Süch­ti­gen habe keine Rolle mehr ge­spielt, ur­tei­len sie: „Un­se­re Be­mü­hun­gen wur­den zer­schla­gen.“

Text: Char­lett Wenig
Bild: Susan Buckow

LÄUFT BEI MIR

Es ist gut drei Wochen her, es regnete heftig und ich hatte wie immer keinen Schirm dabei. War zu knapp bei Kasse einen zu kaufen, und solange es trocken ist, denkt man ja auch nicht dran. Als ich an der Wilhelm-Kaisen-Brücke über die Kreuzung ging, fiel – zack – nicht weit von mir ein Schirm auf die Straße. Ich fragte eine Radfahrerin, ob das ihrer wäre. Nein, sagte sie, der sei wohl vom Himmel gefallen. Nun ja, vielleicht ist er auch aus einem Auto herausgefallen, oder jemand hat ihn vonm Balkon geschmissen. Mir jedenfalls kam er sehr zupass, und obendrein war er lila, meine Lieblingsfarbe.

Einen Schirm hatte ich nun, was noch fehlte war eine Lesebrille. Meine alte war vor Wochen zerbrochen und nun sogar ganz weg.

Einige Tage später, ich stehe vorm Edeka am Dobben und verkaufe. Drei Jugendliche, eher finstere Typen im Gangstyle, kommen auf mich zu, einer streckt den Arm raus und hält mir, ohne ein Wort, eine Brille hin und geht weiter. Die Brille passt und hat sogar in etwa die richtige Stärke.

Wieder ein paar Tage später kauft ein Mann bei mir eine Zeitung und fragt mich, ob ich Handschuhe bräuchte. Ich habe zwar welche, aber die sind aus Stoff und immer im Nu nass. Er reicht mir ein Paar schwarze Lederhandschuhe, die habe er im Zug gefunden, er selbst brauche die nicht. Ich hab sie gern genommen.

Wie es ausschaut, kommen die Dinge, die ich brauche, derzeit einfach auf mich zu. Mit trockenen Handschuhen und Schirm bin ich gewappnet gegen die nasse Kälte der letzten Winterwochen. Bin gespannt, was sonst noch so kommt.

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

RELEASE DER #25 ZIEGENMARKT

 

Wir laden Sie herzlich ein, das neue Heft und uns kennenzulernen.

Am Montag, den 2. Februar 2015 um 18 Uhr im neuen Vertriebsbüro der Zeitschrift der Straße, Auf der Brake 10-12 (Nähe Hauptbahnhof)

Programm:

  • Redakteur Armin Simon präsentiert die druckfrische Ausgabe
  • Uwe macht Musik der Straße
  • Studentin Susan Buckow liest ihren Artikel „Haariger Beweis“
  • Gelegenheit zum Gespräch mit Redaktion, Vertrieb und weiteren Aktiven

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Wir freuen uns auf Sie!
Ihr Team der Zeitschrift der Straße

#25 Ziegenmarkt

Hintergrundfoto: Hans-Jörg Aleff/flickr.com

EDITORIAL: Happy Birthday

Zum Geburtstag gibt’s Überraschungen, das gilt auch für die Zeitschrift der Straße. Vier Jahre ist das Bremer Straßenmagazin nun alt, im Schnitt sind sechs Ausgaben pro Jahr erschienen. Künftig, Überraschung Nummer eins, werden es zehn pro Jahr sein. Freuen Sie sich mit uns auf mehr Orte, mehr Geschichten und mehr Einblicke in das einzigartige Zeitschriftenprojekt, das unlängst auch vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft ausgezeichnet wurde (Seite 28).

Zweitens gibt sich die Zeitschrift der Straße zu ihrem Geburtstag ein neues Gewand. Was es damit auf sich hat und welche Neuerungen das mit sich bringt, lesen Sie auf Seite 27.

Neu ist drittens unsere Adresse. Statt im Lloydhof finden Sie uns nun hinterm Siemens-Hochhaus Auf der Brake 10–12, fußläufig zwischen Hauptbahnhof und City gelegen – schauen Sie gerne einmal vorbei.

Was bleiben wird, sind spannende Geschichten, nach denen wir an jedem Ort aufs Neue suchen. Am Ziegenmarkt wimmelte es nur so davon. Acht haben wir aufgeschrieben; die eine Hälfte hier im Heft, die andere auf www.zeitschrift-der-strasse.de, unserer (ebenfalls neu gestalteten) Internetseite.

Zu sauber, zu teuer, zu groß – der Neubau überm „Rewe“ ärgert viele. Hält nur Dreck Gentrifizierung auf? Die Geschichte von „Ziegenmarkt 21“

Als Hippie suchte er das Neue. Ostasien ließ ihn nicht mehr los. Eine Teezeremonie mit Harald Lührs in seiner „Buddhawelt“

Ein Zeichen für den ersten Sex, für Mord und Totschlag oder einfach für nichts? Eine Suche nach der Wahrheit über die Schuhe an der Leine

Sie wollten die Verelendung aufhalten – die einen die der Junkies, die anderen die des Viertels. Ein Rückblick auf das Ende der größten Drogenszene Deutschlands

ÜBERFALL AM DOBBEN

Weihnachten, Zeit der Barmherzigkeit – von wegen. Am Dienstagnachmittag, es ist schon dunkel, stehe ich vorm Edeka am Dobben und verkaufe. Ein älterer Herr möchte eine Zeitschrift und öffnet sein Portemonnaie. Ich gehe etwas auf Abstand – gehört sich einfach so –, da kommen zwei Jugendliche und greifen nach der Geldbörse! Der ältere Herr hält sie fest, im Gerangel fallen 20 Euro raus. Ich stelle meinen Fuß drauf, dann geben die Angreifer auf und rennen weg. Ich hinterher, aber ich kann sie nicht mehr einholen.

Als sich der ältere Herr wieder gesammelt hat, kauft er mir noch die Zeitschrift ab. Die Polizei will er nicht rufen.

Diesen ärgerlichen Fall möchte ich zum Anlass nehmen und alle Kunden bitten: Passen Sie auf, wenn Sie auf der Straße ihre Geldbörse herausnehmen! Gerade in der Weihnachtszeit. Und ich werde in Zukunft noch mehr auf das Umfeld achten, wenn ein Kunde bezahlt. So etwas möchte ich nicht noch einmal erleben.

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

DER VERHINDERTE STRAFZETTEL

Neulich stehe ich vor der Stadtbibliothek und verkaufe. Nicht weit entfernt parkt eine Frau im Halteverbot und geht in die Bibliothek. Und wie es halt so ist, kommen bald zwei Polizisten und schreiben ihr einen Strafzettel. Ich bin sofort in die Bibliothek, um die Fahrerin zu warnen. Hab sie zum Glück schnell gefunden. Sie eilt zu ihrem Wagen und diskutiert mit den Polizisten. Und sie erlassen ihr doch tatsächlich den Strafzettel! Die Frau hat sich bei mir bedankt und mir auch gleich eine Zeitschrift abgekauft.

Leider gibt es auch ganz andere Tage. Das nasskalte Wetter macht mir zu schaffen, ich bin noch immer krank, ständig erkältet. Das nervt mich gewaltig. Auch bei der Wohnungssuche geht es nicht so richtig weiter. Ich bin oft kurz davor aufzugeben. Ich setz mich für den Rest meines Lebens auf eine Parkbank, hab ich neulich gedacht. Eine halbe Stunde hab ich das ausgehalten, das ist mir zu langweilig. Ich muss unter Leute und was machen. Und gerade jetzt in der Weihnachtzeit läuft der Verkauf auch gut, es macht richtig Spaß.

Auch wenn ich eigentlich mit Weihnachten nichts am Hut habe: Ich möchte mich bei allen Kunden herzlich bedanken, ich wünsche allen ein frohes Weihnachtsfest und alles Gute fürs neue Jahr!

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

#1 SIELWALL lebt

Kaum zu glauben, aber in einem Büro in Bremerhaven ist tatsächlich noch ein halbes Kistchen #1 SIELWALL aufgetaucht. Habe mich gleich eingedeckt und konnte auch ganz gut verkaufen. Ein paar hab ich noch zurückbehalten, man weiß ja nie, was noch kommt … Und meinen Standort vorm „Edeka“ am Dobben habe ich auch wieder zurückgewonnen. Einige gute Nachrichten also. Jetzt hoffe ich bloß noch, dass ich bald ’ne richtige Wohnung finde, in der ich mir auch wieder was kochen kann – dann brauch ich nicht mehr so viel Geld fürs Essen.

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße

BITTE DRAUSSEN BLEIBEN

#24 FUCHSBERG – Sie kommen rein, damit sie nicht rein kommen: Ein Projekt führt straffällig gewordene Jugendliche mit Gefangenen zusammen, die erzählen, wie es ist im Knast. Eine Lehrstunde der Abschreckung

Bildschirmfoto 2014-11-17 um 09.43.49

Alle paar Meter trennen Sicherheitstüren die schmalen, mit blauem PVC-Boden ausgelegten Gänge der Justizvollzugsanstalt Bremen-Oslebshausen. Alle paar Meter schiebt sich die Handvoll Jungen zu einem kleinen Menschenhaufen zusammen, bevor der Mechanismus der stählernen Pforten den nächsten Gang freigibt. Und noch einer. Und noch einer. Dann der Hof. An dessen anderen Ende geht es, begleitet von zahllosen, neugierigen Blicken der Gefängnisinsassen, geradewegs in das backsteinerne Schulgebäude der JVA. In der sommerlich heißen Luft liegt nicht nur die penetrant-explosive Mischung diverser Aftershaves und pubertärer Ausdünstungen, sondern vor allem eins: Anspannung. Wer hier landet, steht mit einem Bein im Knast. Buchstäblich. Was beruhigt, ist allein die Gewissheit, die JVA am Ende des Tages wieder unversehrt und als freier Mensch verlassen zu können. Diesmal jedenfalls noch.

In einem altmodischen Klassenraum warten Ben* und Riadh* in einem Stuhlkreis bereits auf die Gruppe, jede einzelnen begrüßen sie mit Handschlag. Nervöse Blicke wandern von einer Seite zur anderen. Von der notdürftig geputzten Kreidetafel zur gegenüberliegenden Wand, die bunt ausgemalte Mandalas zieren, neben einem Plakat mit der Aufschrift „Du kannst nix!“. „Ich würde gerne mit einer Vorstellungsrunde beginnen“, schlägt Andre Galdia vom Pädagogischen Dienst der JVA vor. Und ergänzt: „Natürlich wäre es schön, wenn ihr noch hinzufügen würdet, was ihr so auf dem Kerbholz habt.“

„Gefangene helfen Jugendlichen“ heißt das Projekt, das Jugendliche ab 14 Jahren, die bereits Bekanntschaft mit Bremens Gesetzeshütern gemacht haben, mit den Konsequenzen ihrer Missetaten konfrontiert. Es ist es dem gleichnamigen Verein in Hamburg angeschlossen, wo es bereits 1998 von Häftlingen ins Leben gerufen wurde und sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. In Bremen läuft es seit drei Jahren; Galdia betreut es gemeinsam mit Katharina Sylvia Lorenz. Auf seinen Animationsversuch entgegnet die Gruppe erst einmal mit großem Schweigen. Schließlich erbarmt sich David*. „Ich bin 18 und, joah …, hab Diebstähle gemacht, Sachbeschädigung …, was es da halt so gibt.“ Ihm folgen Acun*, Emir*, Sören* und Marik*, der „schon mal vier Tage in U-Haft saß“ und „das echt nich’ geil fand“.

Nur Playstation 1

Erst jetzt gilt die Aufmerksamkeit den beiden Häftlingen, die die Jugendlichen erwartet haben. Ben ist 29 und sitzt seit anderthalb Jahren in der JVA Oslebshausen ein. Insgesamt 12 Jahre hat er bereits hinter Gittern verbracht in seinem jungen Leben. Die Liste seiner Straftaten ist lang: „Körperverletzung, Diebstahl, Drogenhandel“, sagt er, leise seufzend, unterbricht sich schließlich selbst und gibt das Wort an seinen Mitinsassen weiter. Drei Jahre und neun Monate hat Riadh für mehrere kleinere und größere Diebstähle und Raub zu verbüßen. „2017 komme ich raus“, sagt der 28-Jährige. Die Jugendlichen nicken brav. Ihre Blicke verharren die meiste Zeit auf dem grauen, kratzigen Teppichboden, die Arme fest vor der Brust verschränkt. Als nächstes steht eine Fragerunde auf der Tagesordnung, und ohne Ordnung läuft insbesondere im Knast nichts.

Galdias Versuch, die Gruppe zum Reden zu bewegen, läuft zunächst erneut ins Leere. „Nichts, was ihr von den Häftlingen wissen möchtet?“, hakt er ungläubig nach. Wieder ist es David, der das Schweigen bricht. „Also, was ich schon immer mal wissen wollte“, stottert er: „Wie soll ich sagen … – habt ihr hier drinnen eure eigenen Gangs?“ Ben krallt sich an seine blaue „Alpha Industries“-Cap. Unter seinem hellgelben Shirt blitzen nicht nur einige Tattoos am rechten Oberarm, sondern in erster Linie Adern hervor, die sich wie Gartenschläuche bis runter zum Handgelenk schlängeln.

„Hier drinnen kämpft jeder für sich“, gibt er trocken zurück. Klar sei man auch Teil einer Gruppe, aber dennoch die meiste Zeit „ziemlich allein“. Die zweite Frage – der 19-jährige Sören stellt sie – lautet: „Kann man hier ’ne Playstation oder ’nen DVD-Player haben?“ „Eine Playstation 1, ja“, erklärt Riadh. Konsolen mit integrierten Festplatten und USB-Anschlüssen seien hingegen tabu. „Playstation und Gangs – sind das die wirklich wichtigen Dinge für euch?“, fragt Ben in die Runde. Eine Antwort wartet er nicht ab. „Das ist doch alles nicht wichtig!“, sagt er. „Was ist denn mit Familie, Freunden?“ Dann beginnt er zu erzählen. Ungefragt, aber auch ununterbrochen. „Freunde könnt ihr vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Das Leben da draußen geht weiter – hier drinnen steht’s!“ Sein rotblonder Dreitagebart ist so akkurat gestutzt, dass er nur erahnen lässt, wie viel Zeit ein Häftling jeden Tag in seiner Zelle verbringt.

„Und Besuch“, führt er fort, „dürft ihr zwei Mal im Monat für jeweils eine Stunde bekommen, von maximal drei Leuten – aber redet mal mit jemandem über das, was euch bedrückt, wenn Mitinsassen nur wenige Meter von euch entfernt sitzen. Das hältst du nicht aus! Da heulst du los. Und ihr könnt euch nicht vorstellen, was ihr euren Familien damit antut.“

Was Frauen nicht wollen

Das Eis ist gebrochen, Frage folgt auf Frage. Ben und Riadh geben geduldig Auskunft über ihren Haftalltag: Über Freigänge, die daraus bestehen, eine Stunde wie getriebenes Vieh im Kreis über den Gefängnishof zu laufen. Über das Essen, an das sich ein Häftling mit normal funktionierenden Geschmacksnerven wohl niemals gewöhnt, und über das Glück, sich seine Zeit mit Arbeit zu vertreiben, die im besten Fall mit 1,60 Euro pro Stunde entlohnt wird.

Das Schweigen der Jugendlichen ist an diesem Nachmittag lauter als jedes gesprochene Wort. „Es geht nicht um Abschreckung und Konfrontation, sondern um sachliche Aufklärung“, steht auf der Internetseite der JVA Oslebshausen geschrieben. Erst neulich sei ein Häftling von Mitinsassen mit einem Besenstiel vergewaltigt worden, erwähnt Riadh beiläufig, während er den Reißverschluss seiner marineblauen und offensichtlich zu großen Trainingsjacke in unregelmäßigen Abständen auf und zu zieht. Drei Kleidergrößen habe er in den vergangenen drei Wochen abgenommen. „Habt ihr Freundinnen?“, will Riadh von den Jugendlichen wissen. Zwei der fünf nicken monoton, der Rest perfektioniert sein Schweigen. „Wenn du hier einsitzt, bist du das absolute Gegenteil von dem, was eine Frau will“, erklärt Ben. Es habe Zeiten gegeben, in denen er versucht habe, von hier drinnen aus eine Beziehung zu führen, doch „du machst dir immer einen Kopf um sie, fragst dich, was sie dort draußen treibt, während du hier drin sitzt. Du stehst mit ihr auf und gehst mit ihr schlafen – aber alles nur in deinem Kopf.“

Thematisiert werden auch berufliche Aussichten. „Ich will ab Oktober wieder zur Schule gehen“, berichtet Sören, „und danach Hotelmanagement studieren.“ „Schön“, freut sich Andre Galdia: „Aber glaubst du, das ist noch möglich, wenn du weiter Mist baust?“ Auch Ben mustert den Jungen mit rotbraunen Haaren: Jeans, „Adidas“-Hoodie und blitzeblanke „Nike“-Treter. „Kannst’e vergessen“, sprudelt es aus ihm heraus. Nicht einmal zum Putzen werde ein Ex-Knacki noch eingestellt heutzutage. „Hat denn noch jemand einen Plan? Vielleicht einen Traum?“, hakt Galdia nach. Schweigen. „Setzt alles auf Bildung, Leute!“, sagt Riadh schließlich. „Ihr könnt dealen, klauen, prügeln, aber das ist alles nur ein Spiel auf Zeit – vergesst das nicht.“

Nach rund anderthalb Stunden endet das ungewöhnliche Treffen. Die Verabschiedung fällt wesentlich herzlicher und vertrauter aus, als die Begrüßung. Auf dem Rückweg über den Hof lugt ein Häftling zwischen den Gitterstäben seiner Zelle hervor und ruft sichtlich erfreut in Richtung der Gruppe: „Ey Emir, was machst’n du hier?“ Man kennt sich halt.

*Alle Namen der Jugendlichen und Gefangenen geändert

Text: Sonja Gersonde
Illustration: Leonard Rokita

Die Die Räume der Zeitschrift der Straße VOR ORT im Lloydhof

RELEASE DER #24 FUCHSBERG

Bild: VOR ORT, das Büro der Zeitschrift der Straße

Einladung zur Präsentation der neuen Ausgabe #24 FUCHSBERG

  • am Mo, 10. November 2014 um 18 Uhr
  • in den Räumen der Zeitschrift der Straße
  • VOR ORT im Lloydhof

Verkäufer Andreas Kuhlmann alias „Heini Holtenbeen“ präsentiert die druckfrische Ausgabe #24 FUCHSBERG. Jan, Uwe und Heini machen Musik der Straße. Autorin Laura Beck liest ihre  Kurzgeschichte „Wie Karussellfiguren“. Verkäufer Alexander Kowalski liest seinen Text „Mein Freund ist tot“.

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VERKAUF MIT FLAPPE

Sommer, Sonne, Malle: schön war’s. Aber der Alltag hat mich brutal schnell wieder eingeholt. Also bitte nicht wundern, wenn ich beim Verkaufen gerade ’ne ziemliche Flappe ziehe: Mir gehts einfach nicht gut. Ich bin gesundheitlich angeschlagen, meinen Stammplatz vorm Edeka am Dobben schnappt mir dauernd jemand weg und die Bude, in der ich wohne, macht mich auch fertig. Ich muss so schnell wie möglich raus da – nur wohin? Sachdienliche Hinweise gerne ans Büro der Zeitschrift der Straße.

Text: Andreas Kuhlmann, Verkäufer der Zeitschrift der Straße