Leseprobe

SANDRA UND ANGELA

#57 SCHWEIZER VIERTEL – Sie lernten sich in der Notunterkunft kennen und wurden Freundinnen. Derzeit verkaufen sie gemeinsam die Zeitschrift der Straße

 

Angela und Sandra sind auch heute zusammen auf dem Weg zum Vertriebsbüro der Zeitschrift der Straße. Ein guter Tag, die Sonne scheint, die Menschen sind gut drauf. Die beiden Freundinnen auch, sie lachen, als sie zur Tür hereinkommen. Von Montag bis Freitag, immer zwischen zehn und halb elf, kaufen Angela und Sandra ihre Zeitschriften. Sie begrüßen mich, holen mich ab. Sandra kauft morgens gerne sechs oder sieben Zeitschriften und nachmittags nochmal ein oder zwei. Angela ist mit ein oder zwei Zeitschriften unterwegs und kauft neue, sobald ihre verkauft sind.

Zusammen geht’s nach draußen. Heute früh waren sie schon zwei Stunden unterwegs und haben verkauft. Angela und Sandra haben keinen festen Platz, sie bewegen sich gern und halten sich meist in der Nähe des Hauptbahnhofes auf, ab und zu geht es in die Innenstadt. Sie sind bei jedem Wetter draußen. An diesem kalten Februartag tragen sie je zwei Hosen und drei Pullover. Angela verkauft seit Dezember, Sandra seit Ende Januar.

Kennengelernt haben sie sich in ihrer Notunterkunft. Sandra und ihr Freund hatten eine Wohnung, in der es einen Wasserschaden gab. Sie mussten die Wohnung bis auf Weiteres verlassen. Etwas verloren wandten sie sich ans Amt, von dort wurden sie in die Notunterkunft geschickt. Dort sind sie zusammen untergebracht, in einem Vierbettzimmer. Sandra würde gern wieder mit ihrem Freund in eine eigene Wohnung ziehen. Angela hatte Sandra von der Zeitschrift der Straße erzählt, nachdem diese ihr anvertraut hatte, dass sie von
ihrem Hartz-IV-Regelsatz nur 280 Euro bekommt, weil sie noch ein Darlehen abbezahlen muss.

Sandra kommt aus Ostfriesland, aus Aurich. Dort machte sie eine Ausbildung zur Pharmazeutisch-technischen Assistentin. Doch immer wieder auftretende Schmerzen bringen sie ins Krankenhaus. Sandra hat Endometriose, hier wächst ein gebärmutterschleimhautähnliches Gewebe nicht nur in der Gebärmutterhöhle, sondern auch
an Stellen, wo es eigentlich nicht hingehört. Diese Krankheit bringt sie für längere Zeit ins Krankenhaus.

Nachdem sie für vier Wochen krankgeschrieben war, riet ihr ein Berufsschullehrer, die Ausbildung abzubrechen, weil sie den versäumten Stoff nicht aufholen könne. Traurig erzählt sie von ihrer Gebärmuttererkrankung, die mit starken Schmerzen während der Menstruation einhergeht. Dann kam noch die Nachricht der Ärzte, die ihr sagten, ihre Chance, schwanger werden zu können, betrage nur noch 20 Prozent. Sie hätte so gern Kinder!

Sandra achtet auf ihr Äußeres. „Wer obdachlos ist, muss nicht obdachlos aussehen!“, findet sie. (Foto: Petra Kettler)

Wie Angela. Schüchtern erzählt Angela von ihren Kindern. Sie sind 16, 13 und 11 und leben bei der Großmutter. Angela selbst ist in Köln aufgewachsen. Nach Bremen kam sie, weil sie zu Hause häusliche Gewalt erlebte. Sehr distanziert und neutral spricht sie über ihre Situation, sie gibt wenig preis über sich. Mit dem Vater ihrer Kinder war sie 14 Jahre lang verheiratet. Ihre Tante vermittelte ihr einen Job als Reinigungskraft. Als sie schwanger wurde, wurde es schwieriger für sie zu arbeiten.

Eine Ausbildung hat sie nicht. Sie schmunzelt, als sie auf Kölsch sagt, sie sei ja „schließlich Hausfrau und Mutter“ gewesen. Sie vermisst ihre Kinder sehr, telefoniert fast täglich mit ihnen. Besuchen konnte sie ihre Kinder nicht, dafür reichte das Geld nicht. Sie bekommt Hartz IV und verkauft die Zeitschrift der Straße, viel bleibt da nicht übrig.

Während sie erzählt, fällt ihr eine Geschichte aus einem Frauenhaus ein. Dort kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einer anderen Mutter. Angela spricht wieder distanziert, lässt nur vorsichtig durchblicken, dass es für sie schwer ist zu sehen, wenn Kinder Gewalt ausgesetzt sind. Die Situation ging übel aus. Besonders für Angela: Sie flog raus. Es gibt eine kurze Gesprächspause.

Sandra übernimmt das Reden. Das Verkaufen der Zeitschrift der Straße ist für sie ein spannender Job. Sie mag es, dabei in Gespräche verwickelt zu werden. Freundlich zu bleiben fällt ihnen aber nicht immer leicht, etwa, wenn sie beleidigt werden. Sandra erzählt, wenn jemand sie abwertend anguckt und dann sagt: „Warum gehst du nicht anschaffen?“ oder: „Wie eine Obdachlose siehst du aber nicht aus“, fehlen ihr im ersten Moment die Worte. Hier hilft es, dass die Freundinnen sich stündlich für eine Zigarettenpause treffen und reden. Die Beleidigungen sind dann vergessen.

Für Angela geht es bald wieder zurück nach Köln zu ihren Kindern. Mit ihrem Ex-Mann hat
sie keinen Kontakt mehr. Sie fühlt sich bereit zurückzufahren. Ohne Angst.

Text und erstes Foto: Ann-Kathrin Just