Meldung

TAGUNG DER STRASSENZEITUNGEN IN ATHEN

Gruppenbild der TeilnehmerInnen der INSP-Tagung 2016

Am 13.-16. Juni 2016 fanden sich 120 Vertreterinnen und Vertreter von 59 Straßenzeitungen und -magazinen aus 30 Ländern in Athen ein (Bild oben). Dorthin hatte unser Dachverband INSP (International Network of Street Papers) zur Jahrestagung geladen. Ausgerichtet wurde die Tagung von Shedia, dem griechischen Straßenmagazin, das erst 2013 gegründet wurde, aber seither enorm erfolgreich agiert und viel Aufmerksamkeit erfährt. Dank einer Förderung des Stifterverbands konnte ich die Zeitschrift der Straße in Athen vertreten und von dort live über Twitter berichten.

Die Umstände der Tagung waren schwierig. Täglich streikten unterschiedliche öffentliche Verkehrsbetriebe. Ein Fluglotsenstreik lag in der Luft. Und das Hotel, in dem die meisten Teilnehmer wohnen sollten, hatte eine Woche vor Beginn der Tagung den Betrieb eingestellt und Insolvenz angemeldet. Das durch jahrelange Politik- und Wirtschaftskrise gestählte griechische Organisationsteam vermochte es trotzdem, eine nahezu perfekte Tagung zu zaubern.

Gastgeber der Tagung: Straßenmagazin Shedia

Gastgeber der Tagung: Straßenmagazin Shedia (Foto: bodo)

Im Kern dient die jährliche INSP-Tagung dem Erfahrungsaustausch, Training, gegenseitiger Beratung, dem Hervorheben besonderer Innovationen und neuer Entwicklungen sowie der Stärkung von Kooperation und Solidarität. Zusätzlich setzt jede Tagung eigene Akzente, die in Athen auf sozialem Unternehmertum und auf dem Thema Flucht lagen. Die vielen deutschsprachigen Straßenzeitungen veranstalteten wie üblich eine eigene Vorkonferenz. Das komplette Tagungsprogramm ist hier einsehbar.

Als Highlights der Veranstaltung empfand ich die Präsentation von Projekten, mit denen Straßenzeitungen Wohnungslosigkeit sichtbar machen, den Straßenverkauf als Arbeit von Betteln abgrenzen oder mit „nicht-traditionellen“ Verkäufergruppen arbeiten. Hier kurz zwei Beispiele.

Ein hervorragendes Filmprojekt des dänischen Magazins Hus Forbi thematisiert die „Unsichtbarkeit“ von Wohnungslosen, die mitten unter uns leben, denen aber die wenigsten Passanten in die Augen sehen können und sie deshalb lieber ignorieren. Der Kurzfilm im Stile eines Trailers für einen Mystery-Film wurde in vielen dänischen Kinos gezeigt. Der Überraschungsmoment für unvorbereitete BetrachterInnen kommt ganz am Ende.

Kurzfilm „The Invisible Man“

Ein zweites sehr  gelungenes Medienprojekt, das uns vorgestellt wurde, ist der Kalender 2016 des schwedischen Magazins Faktum. In markantem fotografischen Stil zeigt der Kalender im Großformat Straßenverkäuferinnen und -verkäufer nach getaner Arbeit. Die explizite Trennung von Arbeit und Freizeit soll unterstreichen, dass Straßenverkauf Arbeit ist und nicht Betteln oder gar Freizeit.

Kalender „After Work“

Bemerkenswert waren auch Teile der Rede des griechischen ex-Finanzministers, Ökonomie-Professors und „bad boy“ Yanis Varoufakis (Foto unten), der u.a. den Kauf/Verkauf von Straßenmagazinen als partiellen Austausch von Geschenken („partial gift exchange“) charakterisierte und ihn damit von der rational-ökonomischen Transaktion unterschied.

Weitere Highlights waren für mich die Vorstellung einiger junger griechischer Sozialunternehmen und -projekte (z.B. WiseGreece und City Plaza Hotel) und natürlich die vielen informellen Gespräche mit KollegInnen aus anderen Ländern.

Yanis Varoufakis bei seiner Ansprache

Yanis Varoufakis bei seiner Ansprache (Foto: M. Vogel)

Im Rahmen der Tagung hatte ich die besondere Gelegenheit, im Goethe-Institut Athen eine Podiumsdiskussion zum Thema Flucht zu moderieren. Am Podium nahmen Teil (von links nach rechts im folgenden Foto):

  • Paola Gallo, Geschäftsführerin des Schweizer Straßenmagazins Surprise
  • Efi Latsoudi, NGO-Koordinatorin und Mitbegründerin des offenen, rein zivilgesellschaftlich betriebenen Flüchtlingslagers auf der Insel Lesbos
  • ich
  • Lefteris Papagiannakis, stellvertretender Bürgermeister von Athen, zuständig für Migration und Flüchtlinge
  • Lisa Bolyos, Redakteurin bei der Straßenzeitung Augustin in Wien und Aktivistin im Bereich Migration und Flucht
Podium zum Thema Flucht

Podium zum Thema Flucht (Foto: Shedia)

Die Diskussion rief gerade uns Westeuropäern ins Bewusstsein, wie wenig gelöst die Flüchtlingssituation im Osten der EU ist. Auf der Insel Lesbos 10 km vor der türkischen Küste kommen weiterhin viele Flüchtlinge an, lebend und tot. Der Tourismus, normalerweise wichtigste Einnahmequelle der Insel, ist zu 80% kollabiert. Die Finanzkrise tut ein Übriges. Und Athen, wohin die meisten in Griechenland ankommenden Flüchtlinge gebracht werden, ist mit ihrer Unterbringung und Versorgung völlig überfordert, auch weil parallel die Zahl obdachloser Griechen enorm zunimmt.

Dort wie hier bei uns warten weiter große Aufgaben, denen wir uns nur mit viel Mut, Zuversicht und Unterstützung stellen können (apropos Unterstützung: hier geht es zu unserem Spendenformular…).

Abendprogramm in Exarcheia, dem alternativ-anarchistischen Viertel Athens

Abendprogramm in Exarcheia, dem alternativ-anarchistischen Viertel Athens (Foto: M. Vogel)

 

Text: Michael Vogel
Foto ganz oben: INSP