Jahr: 2015

#27 SILBERPRÄGE

EDITORIAL: ALTES EISEN, JUNGER BEAT An der Silberpräge, das ist ein Name mit Tradition. Und Tradition ist etwas, auf das die Hemelinger stolz sind. Alteingesessene Betriebe, inhabergeführte Läden, Fabriken, in denen man gern zur Arbeit ging – das hat den Stadtteil geprägt. Heute wirken manche Orte entlang der Silberpräge und der Hemelinger Bahnhofstraße trist. Geschäfte stehen leer, so manches Gebäude könnte einen neuen Anstrich vertragen. Doch wie so oft finden sich auch hinter grauen Mauern wunderbare Geschichten. Die eines türkischen Kulturvereins etwa, der es schafft, die scheinbaren Gegensätze von Tradition und Moderne zu vereinen, und dem es so gelingt, für Jugendliche interessant zu bleiben – egal, ob sie Volksmusik machen wollen oder Hip-Hop (Seite 8). Oder die von Arnold Mudder, dem Besitzer der Modellbahnbörse. Gott und die Welt hat er gesehen, mit Hinz und Kunz einen Schnack gehalten, und vermutlich würde er selbst mit Petrus an der Himmelspforte noch erfolgreich um den Preis einer Modellbahn feilschen (Seite 22). Tradition, wenn nicht gar Legende, sind auch die Partys in der „Blauen Villa“. Seit über dreißig Jahren …

DAMIT SIE ROT SEHEN

Die Verkäufer der Zeitschrift der Straße erhalten ein neues rotes Outfit. Sie können mit Ihrer Spende helfen   Sehen ist der Ausgangspunkt vieler Beiträge in der Zeitschrift der Straße, denn es sind Beobachtungen auf der Straße, die die Autorinnen und Autoren zu ihren Texten inspirieren. Für unsere Verkäuferinnen und Verkäufer dagegen ist Gesehenwerden wichtig. Es ist die Voraussetzung für Kundenkontakte, Erfolgserlebnisse und ihren Verdienst. Damit die Verkäuferinnen und Verkäufer künftig noch besser zu erkennen sind, erhalten sie demnächst ein neues Outfit. Mit einer roten Schirmmütze wird jeder ausgestattet, der die Zeitschrift der Straße verkauft. Eine rote Weste und eine schwarze Umhängetasche gibt es für diejenigen, die schon länger dabei sind, regelmäßig verkaufen und gezeigt haben, dass sie es ernst meinen. Liebe Leserin, lieber Leser, trotz der vielen beteiligten Studierenden und freiwillig Engagierten kosten Herstellung und Vertrieb der Zeitschrift der Straße viel Geld. Wir erhalten keine öffentlichen Mittel und haben keine großen Sponsoren im Rücken. Um Menschen in Not zu helfen, sich selbst zu helfen, brauchen wir Ihre Unterstützung. Sie können dazu beitragen, dass unsere Verkäuferinnen …

DER WEG WAR DAS ZIEL

#29 SILBERPRÄGE: Wo einst John­ny Cash und Nir­va­na auf­tra­ten, tref­fen sich heute Hun­der­te Kohl­fah­rer. Ein Ab­ste­cher zum Ala­din   Das Ala­din also, einst Gast­stät­te und Kino, heute ein Ort zwi­schen Kon­zert­hal­le und Fest­zelt, das sich einen Namen mit Par­tys wie „Titty Twis­ter“, „End­lich Frei­tag“ oder „Hüt­ten­gau­di“ ge­macht hat. Ich satt­le die Hüh­ner und mache mich auf den Weg, in der Hand ein Ge­bräu, des­sen Auf­schrift heute meine De­sti­na­ti­on sein soll. Es ist 3:13 Uhr in der Nacht, als ich von wei­tem den leuch­ten­den Schrift­zug über dem Ein­gang pran­gern sehe. Heute stand die Ro­ckin’ Kohl­fahrt auf dem Plan. Dem Ge­tüm­mel drau­ßen nach zu ur­tei­len ist es ein ge­lun­ge­ner Abend ge­we­sen. Drin­nen wer­den ge­ra­de die Stüh­le hoch­ge­stellt, grobe Un­rein­hei­ten be­sei­tigt und die The­ken ge­wischt. Vor dem Ge­bäu­de er­schöpf­te Kohl­freun­de, die sich nach und nach auf die Taxen ver­teilt. Doch nicht alle wol­len schon gehen; Thors­ten und Ulli leh­nen läs­sig am Ge­bäu­de und un­ter­hal­ten sich. Ich nä­he­re mich ihnen mit einer Zi­ga­ret­te im An­schlag. „Duu willst Feuer haben!“, sagt Thors­ten. Ich zünde mir meine Zi­ga­ret­te an, wäh­rend Thors­ten …

#26 WALFISCHHOF

EDITORIAL: AUSSEN GRAU, INNEN BUNT Kein Baum, kein Busch am Straßenrand, Gewerbebauten, so weit man blickt – der südöstliche Winkel der Überseestadt gleicht einer Einöde. Unsere AutorInnen und Fotografinnen ließen sich davon nicht entmutigen. Im Walfischhof und in der Baumstraße klopften sie an Türen und Tore und haben dahinter eine ganz wunderbar bunte Mischung von Menschen entdeckt. Wilma Schneider etwa, 84, hat beinahe ihr gesamtes Leben in der Baumstraße verbracht. Als Kind fuhr sie per Anhalter noch auf Pferdekutschen in den Hafen. Nach dem Krieg erlebte sie, wie Lastwagen die Pferde verdrängten und aus dem Villenviertel um den Walfischhof – das als Schwachhausen des Westens galt – ein Gewerbegebiet wurde (S. 8). Genau gegenüber von Frau Schneiders Haus betreibt August Smisl, zwei Meter groß, 125 Kilo schwer, ein hochmodernes Fitnessstudio. Statt über den Weg zum perfekten Körper sprach er mit der Zeitschrift der Straße über seine ganz persönlichen wunden Punkte (S. 22). Diese und drei weitere Geschichten haben unsere AutorInnen für dieses Heft und für unsere Website aufgeschrieben. Viel Spaß beim Lesen wünschen ist das …

LOGO ALS ZEICHEN FÜR TOLERANZ

Das Logo der Zeitschrift der Straße, was stellt es dar? Abstrakte Grafik? Oder 7. auf dem Kopf stehend mit einer römischen II auf der Seite liegend („7. Februar“)? Oder ein stilisiertes Z und ein Gleichheitszeichen („Die Zeitschrift setzt sich für Gleichheit ein“)? Oder ein stilisiertes Z über Fahrbahnbegrenzungen („Zeitschrift + Straße“)? Oder ein Gesicht mit Auge, Nase und Mund („Die Zeitschrift zeigt das Gesicht der Straße“)? Oder die Bremer Stadtmusikanten mit Punkt = Hahn, Winkel = Katzenbuckel und zwei Strichen = Hund und Esel? Dies und mehr haben Menschen im Logo der Zeitschrift der Straße schon gesehen. Auch der Designer unseres Logos, Glen Swart, mochte sich nicht auf eine einzige Deutung festlegen, wie seine Skizzen zeigen. Vielmehr spielte er mit Bedeutungsverschiebungen, indem er das Logo unterschiedlichen Kontexten aussetzte (siehe unten). Mehrdeutigkeit ist wohl eine der Stärken des Symbols, das seit Anfang 2015 die Titelseite jeder Ausgabe ziert. Unsere studentischen Redakteurinnen und Redakteure müssen mit Mehrdeutigkeit umgehen, wenn sie über Straßen und Orte recherchieren und Beobachtungen, Erlebnisse und Begegnungen in Artikeln und Bildern verarbeiten. Und Mehrdeutigkeit …

DRIVE-BY AM DELMEMARKT

Vor einigen Wochen hatte ich ein super Erlebnis: Ich stand am Delmemarkt in der Neustadt vorm Rewe, da rief mich eine Frau aus ihrem Auto zu sich und bat mich, ihr die Zeitung zu verkaufen. Ein richtiger Drive-by, das war witzig. Selbst der Marktinhaber, der das zufällig mitbekommen hat, hat sich kaputt gelacht. Solche Momente sind es, die das Verkaufen so nett machen. Es passiert einfach immer etwas, das man nicht erwartet hätte. Außerdem zeigen mit meine Kunden, dass es ihnen Spass macht, bei mir zu kaufen. Manche bestellen sogar ältere Ausgaben und holen sie dann einige Tage später bei mir ab. Das ist doch mal ein Servcie, oder?Es ist auch schön zu sehen, dass sich die neuen Ausgaben recht gut verkaufen. Das hatte ich gehofft. Mir gefällt es auch, dass es jetzt ein Bild gibt auf dem Cover – auch wenn man natürlich diskutieren kann, ob man das jeweilige Foto nun gut findet oder nicht. Die vergangenen Tage konnte ich leider nicht verkaufen. Ich war ich im Krankenhaus, wieder wegen meines entzündeten Fußes. Eine …

WER BRAUCHT SCHON RUHE ZUM LERNEN?

#26 WALFISCHHOF – 100 Dezibel drücken auf die Ohren, wenn angehende Schlagzeuglehrer ihr Spiel verfeinern. Wer braucht schon Ruhe zum Lernen? Ein Besuch im Trommelwerk Bremen.   Ein langer schmaler Gang, Tür reiht sich an Tür, am Ende ein Konzertsaal. Pearls, Premiers und jede Menge Sonors stehen im Raum, vier Drummer setzen sich breitbeinig hinter die Schlagzeuge. „So, ohne dass wir nervös werden: den A-Teil mit Besen und dann Stickwechsel auf B“, sagt Stefan Ulrich, genannt Steff. Er unterrichtet Jazz für angehende Schlagzeuglehrer, seine Studenten sollen den Wechsel zwischen Drumsticks und Jazzbesen üben. Eine knifflige Koordinationsübung: Wohin mit dem überzähligen Stick? Der Trommelwerk-Schüler Daniel Schneiker sucht noch eine geeignete Ablage. „Man kann den anderen Stick super untern Arsch oder untern Arm klemmen“, rät Steff. Daniel nimmt den Hintern, los geht‘s. Den Besen in der linken Hand, streichelt er über das Fell der Snaredrum, rechts bringt der Stick Becken zum Scheppern, die Bassdrum wummert. Wechsel! Daniel legt den Besen in behutsamer Eile auf die große Trommel, zieht den zweiten Stick hervor und findet den verlorenen Takt …

DAS ENDE VOM LIED

Mein Highlight der vergangenen Tage war der Auftritt bei der Release-Party der Februar-Ausgabe unserer Zeitschrift der Straße. Da war ich wieder mal Heini Holtbeen, hab vor den Gästen eine kleine Rede gehalten. Das kann ich, so was ist einfach mein Ding. Ansonsten ging es mir in der vergangenen Woche nicht so gut, ich hab meinen Fuß entzündet, musste Antibiotika nehmen und bin trotz der Kälte nur mit Sandalen gelaufen. Tagelang konnte ich deswegen nicht verkaufen. Das ist richtig blöd, denn wenn ich verkaufe, läuft es oft sehr gut. Manchmal schaffe ich es, in zwei Stunden ein knappes Dutzend Hefte an den Mann und die Frau zu bringen. Am Montag dann aber hatte ich einen ganz schwarzen Tag: Da bin ich mit einer anderen Verkäuferin aneinander geraten. Wir haben uns darum gestritten, wer an einem bestimmten Platz stehen darf. Sogar die Polizei kam. Das Ende vom Lied: Keiner von uns durfte an dem Tag noch dort verkaufen. Das war schon eine gute Entscheidung, ich hab mir das ja auch zum Teil selbst zuzuschreiben. Ich hab es …

FREMDKÖRPER MIT PARKVERBOT

#25 ZIEGENMARKT – Zu sauber, zu teuer, zu groß – der Neubau überm „Rewe“ ärgert viele. Hält nur Dreck Gentrifizierung auf? Die Geschichte von „Ziegenmarkt 21“   Das rie­si­ge rote X prangt wie ein Park­ver­bot vor dem Ein­gang des gro­ßen Wohn- und Ge­wer­be­blocks am Zie­gen­markt. Ein Park­ver­bot für Men­schen. Die­ser Fleck soll frei blei­ben, heißt das: Frei von ver­meint­lich bet­teln­den, ner­vi­gen Punks, frei von Jun­kies, Ob­dach­lo­sen und allen an­de­ren, die sich auf dem Platz gerne auf­hal­ten. Die Glas­tür hin­ter dem X und die Plat­te mit den Klin­geln ist sau­ber. Di­rekt da­ne­ben aber hängt alles vol­ler Pla­ka­te, wild an die Back­stein­fas­sa­de ge­kleis­tert. Vom strah­lend wei­ßen Putz der dar­über­lie­gen­den Eta­gen leuch­ten bunte Farb­bom­ben­kleck­se – Zei­chen des Wi­der­stands. Verglichen mit dem benachbarten Ostertor ist das Steintor noch weit weniger geleckt. Der Ziegenmarkt, dieser Platz im spitzen Winkel von Friesenstraße und Vor dem Steintor, ist das soziale Zentrum des Steintorviertels, direkt an dessen Pulsader gelegen. Dreimal die Woche ist das buckelige Kopfsteinpflaster vollgestellt mit Marktbuden. Abends treffen sich hier Alkoholiker und solche, die es werden wollen; in den umliegenden …

DIE LEICHTIGKEIT DES BUDDHA

#25 ZIEGENMARKT – Als Hip­pie such­te er das Neue. Ost­asi­en ließ ihn nicht mehr los. Eine Tee­ze­re­mo­nie mit Ha­rald Lührs in sei­ner „Bud­dha­welt“   Die Bud­dha­sta­tue ist schon von Wei­tem zu ent­de­cken. Un­über­seh­bar sitzt sie auf dem Bür­ger­steig, wei­ßer Stein, be­stimmt einen Meter groß. Ha­rald Lührs hat viele Bud­dha­sta­tu­en in sei­nem Laden, große und klei­ne, aus Stein, Holz und Bron­ze, die meis­ten aus China, aber auch aus Sri Lanka, In­do­ne­si­en und an­de­ren Län­dern. Es sind Hei­lig­tü­mer der un­ter­schied­lichs­ten bud­dhis­ti­schen Rich­tun­gen, im Tem­pel dürf­te man sie nicht ein­mal fo­to­gra­fie­ren. Hier aber kann man sie kau­fen, die kleins­ten für 20 Euro, die gro­ßen für ein paar Tau­sen­der. Die Bud­dhas haben es ihm an­ge­tan. Seine erste Sta­tue kauf­te er mit 17, in den 1960ern. „Hip­pie­zeit“, sagt Ha­rald Lührs, und dass er, wie alle in sei­nem Um­feld da­mals, auf der Suche nach einer neuen Sicht­wei­se auf die Welt und gegen be­ste­hen­de Sys­te­me und Hier­ar­chi­en war. „Wir woll­ten neue Dinge aus­pro­bie­ren.“ Asia­ti­sche Kul­tur fas­zi­nier­te ihn, be­son­ders der Bud­dhis­mus. „Aber dass ich ein­mal Tee­haus­be­sit­zer sein würde, das dach­te ich da­mals noch …