Jahr: 2017

#45 HUMBOLDTSTRASSE

EDITORIAL: ETWAS TEURER, NOCH ERLESENER Schön, dass Sie sich eine Zeitschrift der Straße gekauft haben! Vielleicht haben Sie dabei gestutzt: Unser Magazin ist etwas teurer geworden. Und nicht dicker. Aber wir können Ihnen das erklären! Tun wir natürlich auch, in aller gebotenen Ausführlichkeit: auf den Seiten 28 und 29. Dafür bekommen Sie jetzt ein paar Geschichten aus der Humboldtstraße, die Sie sonst noch nirgendwo gelesen haben! Zum Beispiel haben wir einen wunderbaren Künstler entdeckt, der dort sein Atelier hat, aber völlig zu Unrecht noch nie irgendwo ausgestellt wurde: Fabian Schulze (Seite 14). Außerdem haben wir uns in der Friedensgemeinde mit einem Iraner getroffen, der in seiner alten Heimat vom Tod bedroht ist – weil er Bibelkurse besucht. Jetzt hat er erstmals mit einer Journalistin gesprochen (Seite 24). Schon früher wurden AnwohnerInnen der Humboldtstraße verfolgt. Die Stolpersteine erinnern deshalb an sie. Aber wer waren diese Menschen eigentlich? (Seite 20). Weil diese Ausgabe im Viertel spielt, ist auch seine Gentrifizierung ein Thema für uns – also die schleichende Verdrängung einkommensschwächerer BewohnerInnen durch die Aufwertung der östlichen Vorstadt …

WARUM WIR TEURER WERDEN

Die Zeitschrift der Straße kostet jetzt 50 Cent mehr. Das hilft den VerkäuferInnen auf der Straße – und schafft einen neuen Arbeitsplatz   Sie haben es gemerkt: Die Zeitschrift der Straße ist 50 Cent teurer geworden. Seit Bremens Straßenmagazin vor genau sechs Jahren erstmals erschien, ist dies die erste Preiserhöhung. In der Zwischenzeit ist vieles teurer geworden: Heute kriegen Sie für 2,50 Euro einen großen Kaffee bei McDonald’s oder ein Beck’s in der Kneipe an der Ecke. Das Einzelticket für Bus oder Straßenbahn kostet mit 2,75 Euro mittlerweile schon mehr als die Zeitschrift der Straße. Für ein Micky-Maus-Heft zahlen Sie 3,50 Euro und für ein Päckchen Zigaretten im Schnitt 5,80 Euro. Der Grund für den höheren Preis der Zeitschrift der Straße sind aber nicht etwa höhere Redaktions-, Papier-, Druck- oder Lagerkosten, denn die sind, pro Heft gerechnet, sogar leicht gefallen – weil die verkaufte Auflage gestiegen ist. Und Verwaltungskosten haben wir ohnehin fast keine. Vielmehr haben wir den Preis erhöht, um der sozialen Mission der Zeitschrift der Straße besser gerecht zu werden. Vom neuen Verkaufspreis …

DER TRAUM DES PASTORS

#45 HUMBOLDTSTRASSE – Wer in den Bibelkreis in der Friedensgemeinde kommt, dem droht zu Hause im Iran der Tod. Reza Yazdi zum Beispiel   Reza Yazdi (Name von der Redaktion geändert) kommt aus dem Iran und ist überzeugter Christ. Zurückkehren kann er nicht. Denn er hat sich taufen lassen. Wer Muslim war und zum Christentum konvertiert ist, dem droht im Iran die Todesstrafe. Seit über einem Jahr lebt Yazdi nun in Deutschland. Er hofft, dass er seine Familie nachholen kann. Und darauf, dass ihn im Iran niemand mit christlichen Aktivitäten in Zusammenhang bringt. Ansonsten würden seine Verwandten und Freunde verfolgt, sagt Yazdi. Deshalb redet er auch nicht über sein Engagement im Iran. Deshalb will er auch seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er erwähnt nur kurz, dass er an einer iranischen Universität mit anderen christlichen Studierenden entdeckt wurde. Mehr könne er nicht sagen. Es ist das erste Mal überhaupt mit der Presse spricht. „Es gab schon viele Anfragen von Journalisten“, sagt Pastor Bernd Klingbeil-Jahr von der Friedensgemeinde, aber Reza Yazdi wollte nie mit ihnen …

DIESES VERDAMMTE WOCHENENDGEFÜHL

Freitagnachmittag. Das Wochenende steht bevor. Für Unzählige das rettende Ufer nach einer strapaziösen Arbeitswoche. Sie alle arbeiten auf das Wochenende hin. Unternehmungslust oder Ruhezeit stehen auf dem Plan. Obdachlose sind in der Woche auch eher rastlos, versuchen durchzukommen, eine ebenso stressige Woche, aber nicht unbedingt mit der Hoffnung verbunden, ein tolles Wochenende zu haben. Wochenende bedeutet für sie oft Leere: eine trostlose, fast menschenleere Bremer Innenstadt, unterbrochen nur vom Lärm der Discothekenbesucher am Wochenende. Man muss die Zeit rumbringen, irgendwie diesen Wochenendtrip wieder überstehen. Und für einige der Betroffenen endet das Wochenende im Vollrausch, um zu vergessen. Das Wochenende auf der Straße zeigt sich oft monoton, doch nicht nur das. „Du ahnst, es war nicht das letzte Wochenende auf der Straße. Unzählige werden folgen. Wieder alles auf Null. Am liebsten das Wochenende überspringen, beiseiteschieben, um direkt zum Montagmorgen zu kommen, denkst du.“ Diese Gefühle kennen viele Obdachlose. Irgendwann am Wochenende erfasst es jeden. Das melancholische Loch ist vor allem auf der Straße tief. Menschen, die dort leben, haben keine räumliche Ausweichmöglichkeit, keinen emotionalen Fluchttunnel. Überempfindlichkeit …

17 OBDACHLOSE DURCH GEWALT GESTORBEN

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat eine Bilanz für das Jahr 2016 vorgestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Gewalt, der obdachlose Menschen ausgeliefert waren. So starben mindestens 17 Obdachlose durch Gewalt. Neun der 17 TäterInnen waren selbst ohne Wohnung. Den 128 bekannt gewordenen Fällen von Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und bewaffneten Drohungen gegen wohnungslose Menschen steht eine hohe Dunkelziffer gegenüber, da obdachlose Menschen aus Angst vor den TäterInnen und aus mangelndem Vertrauen in die Behörden Übergriffe nicht anzeigen. Folgenden Text veröffentlichte die Bundesarbeits­gemeinschaft Wohnungs­losen­hilfe heute in Berlin. „Gewalt gegen wohnungslose Menschen bleibt alltägliches Problem – mindestens 17 Todesfälle im Jahr 2016 in Deutschland. BAG Wohnungslosenhilfe fordert besseren Schutz für wohnungslose Menschen Gewalt gegen wohnungslose Menschen bleibt ein alltägliches Phänomen in unserer Gesellschaft. Laut Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W), dem bundesweiten Dachverband der Wohnungslosenhilfe in Deutschland, gab es im Jahr 2016 mindestens 17 Todesfälle durch Gewalt gegen wohnungslose Menschen. In acht Fällen waren die Täterinnen und Täter selber nicht wohnungslos. Seit 1989 gab es somit in Deutschland mindestens 502 Todesfälle durch Gewalt gegen wohnungslose Menschen. Zudem gab …

KÄLTE, HILFE, WOHNUNGSLOSE, FLÜCHTLINGE

Am 5. Januar posteten wir auf Facebook und Twitter einen Aufruf, besonders in der kalten Jahreszeit mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, auf ausgekühlte Menschen und Draußenschläfer zu achten und ihnen ggf. Hilfe zu leisten. Der Aufruf, den wir eigentlich schon im November letztes Jahr verfasst und auf unserer Website veröffentlicht hatten, wurde innerhalb von zwei Tagen über 5000 Mal aufgerufen. Für unsere Verhältnisse ist das eine hohe Zahl, die wohl dadurch zustande kam, dass wir dem Aufruf den Bericht über eine erfrorene obdachlose Frau in Düsseldorf beigefügt hatten (siehe Foto oben). In der Folge erreichten uns einige Nachfragen und Kommentare zu dem Aufruf. Sinngemäß ging es darum, warum im reichen Deutschland eigentlich noch immer Menschen auf der Straße leben (müssen) und ob der Staat da nicht genug tue, weil er zu sehr mit Flüchtlingen beschäftigt sei. Zur Frage, warum Menschen auf der Straße leben, ist im Magazin ‚brand eins‘ im Jahr 2012 ein Artikel erschienen, der einige der Gründe darlegt und vor allem deutlich macht, warum Wohnungslosigkeit nur  unzureichend mit fehlendem Wohnraum …