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DER TRAUM DES PASTORS

#45 HUMBOLDTSTRASSE – Wer in den Bibelkreis in der Friedensgemeinde kommt, dem droht zu Hause im Iran der Tod. Reza Yazdi zum Beispiel

 

Reza Yazdi (Name von der Redaktion geändert) kommt aus dem Iran und ist überzeugter Christ. Zurückkehren kann er nicht. Denn er hat sich taufen lassen. Wer Muslim war und zum Christentum konvertiert ist, dem droht im Iran die Todesstrafe. Seit über einem Jahr lebt Yazdi nun in Deutschland. Er hofft, dass er seine Familie nachholen kann. Und darauf, dass ihn im Iran niemand mit christlichen Aktivitäten in Zusammenhang bringt. Ansonsten würden seine Verwandten und Freunde verfolgt, sagt Yazdi. Deshalb redet er auch nicht über sein Engagement im Iran. Deshalb will er auch seinen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er erwähnt nur kurz, dass er an einer iranischen Universität mit anderen christlichen Studierenden entdeckt wurde. Mehr könne er nicht sagen.

Es ist das erste Mal überhaupt mit der Presse spricht. „Es gab schon viele Anfragen von Journalisten“, sagt Pastor Bernd Klingbeil-Jahr von der Friedensgemeinde, aber Reza Yazdi wollte nie mit ihnen reden, bis heute. Die Gemeinde bietet einen Bibelkreis für iranische Christ:innen an. Auch Reza Yazdi geht dorthin. Wir dürfen nicht mit rein. Ungefähr 30 Personen sitzen an den Tischen im Café Pax verteilt und lauschen aufmerksam der Pastorin Ulrike Hardow. Alle wollen anonym bleiben: Die Angst vor Verfolgung ist groß.

Reza Yazdi ist Ende 20, sein Händedruck warm, Schädel und Gesicht sind frisch rasiert. Er lächelt, sucht bestimmt und freundlich den Blickkontakt. Nichts ist davon zu spüren, dass er seine Familie im Iran zurücklassen musste. „Du kannst als Christ deinen Glauben heimlich im Iran praktizieren“, sagt Yazdi, „aber du hast immer Angst. Du kannst auf keinen Fall konvertieren.“ Ein weicher, rollender Akzent mischt sich in sein nahezu makelloses Deutsch. In nur einem Jahr hat er das nötige Sprachniveau für eine Ausbildung absolviert. Er arbeitet heute in einem IT-Unternehmen.

Schon früh kam er mit dem Christentum in Berührung. Die Staatsreligion des Islam war dabei kein schwerwiegendes Hindernis, auch wenn seine Eltern Muslime sind. Denn sie sind – wie die Mehrheit der Muslime im Iran – sehr liberal: Sie trinken Alkohol und gehen fast nie in die Moschee. Dazu ist ihnen der Koran eher ein Rätsel: „Viele Iraner verstehen den Koran überhaupt nicht, weil er auf Arabisch ist“, sagt Yazdi – und im Iran spricht man Farsi. Seine Mutter verstehe nicht einmal die Suren, die sie betet. „Es gibt den Islam im Iran, aber es nicht klar, was das ist.“ Für seine Eltern sei es wohl eher eine gängige Ethik, mit der sie aufgewachsen sind, als ein überzeugter Glaube. Vielleicht gerade deshalb verunsicherte sie das Interesse ihres Sohns für das Christentum. „Am Anfang hatten wir viele Diskussionen“, sagt er.

Am Christentum faszinierte Yazdi besonders Jesus: „Ich habe in Jesus den gefunden, dem ich nachfolgen möchte. Das ist mein Herzgefühl. Jesus war sehr liberal, er hat die Gesellschaft nicht getrennt. Er hat immer über Vergebung gesprochen. Das brauchen wir eigentlich in meinem Land. Wenn du jemanden im Iran tötest, wirst du auch getötet. Dort geht es um Rache. Vergeben und ein gutes Herz haben, das sind die Themen, die kannst du im Islam nicht so deutlich finden“, sagt er. Schon im Iran hat er viel zum Christentum gelesen – soweit es ging. Damit war er nicht allein. „Viele im Iran wussten einiges über das Christentum“, sagt Yazdi. In Bremen seien viele jedoch Anfänger und hätten keine Nachweise über ihre christliche Glaubenspraxis in ihrem Herkunftsland.

Genau aus diesem Grund stehen iranische Christ:innen in Deutschland häufig unter einem Generalverdacht: Sie könnten ja einfach zum Christentum konvertieren, um ein solides Abschiebehindernis zu schaffen. Denn Christ:innen darf Deutschland nicht in den Iran abschieben. Und zur Taufe gehört nicht viel: Man muss sich nur in einer christlichen Gemeinde anmelden, an der Taufzeremonie teilnehmen. Schon ist man Christ.

Doch das reicht den deutschen Gerichten nicht mehr. Mittlerweile müssen Iraner:innen hieb- und stichfeste Beweise für ihren Glauben erbringen, sagt Pastor Klingbeil-Jahr. Unter anderem dafür gibt es den Bibelkreis der Friedensgemeinde im Viertel. Am Ende des Kurses stellt Klingbeil-Jahr bei Bedarf eine Art Teilnahmebestätigung aus. Bei neuen Christ:innen wie Reza Yazdi verfasst er auch mal einen Brief für die Behörden und bestätigt sein ehrenamtliches Engagement in der Gemeinde.

Bereits 200 Iraner:innen wurden in den vergangenen zwei Jahren in der Friedensgemeinde getauft. Die Entscheidung dazu würde jedoch im Bibelkreis sorgfältig vorbereitet, sagt der Pastor. Er versucht in dem Kurs, sensibel auf die Teilnehmer:innen und ihre Hintergründe einzugehen. Dafür behandelt er auch Bibelpassagen, in denen es um Flucht und Vertreibung geht. Und davon gibt es viele. Auch in der Weihnachtsgeschichte: „Gott zeigt sich in Jesus, einem schutzlosen Kind, dessen Eltern geflüchtet sind“, sagt der Pastor. „Es ist eure Geschichte!“, sagt er den Iraner:innen. „Aber das verwundert viele“, erzählt er. Denn häufig wäre Gott für die iranischen Geflüchteten eher ein zorniger alter Mann mit Rauschebart. Ob dieses Bild aus dem Islam komme? „Nein, das ist Hollywood“, sagt Klingbeil-Jahr.

Generell seien die Iraner:innen im wöchentlichen Bibelkurs recht diskussionsfreudig, sagt der Pastor. Reza Yazdi übersetzt dort und manchmal auch im Gottesdienst. Während unseres Gesprächs schaut er immer wieder unruhig durch die Glastür, hinüber zu seinem Bibelkreis: „Die Leute warten auf mich“, sagt er, lächelt – und verabschiedet sich. Gearbeitet wird zweisprachig, mit schwarzen, gebundenen Bibelausgaben in Farsi. Für den Pastor geht es in der christlichen Exegese der Texte stets auch um Freiheit und tolerantes Zusammenleben. Sein Gesicht nimmt einen träumerischen Ausdruck an: „Schon in der Bibel heißt es, dass einst im neuen Jerusalem Menschen aller Sprachen und Herkünfte friedlich zusammenleben werden.“

Das funktioniert auch im Viertel nicht immer. Neben Bernd Klingbeil-Jahr hängt das Plakat der Theatervorstellung der „10 Gebote“, die 2003 in der Friedensgemeinde stattfand. Damals demonstrierten Menschen vor der Kirche gegen das Stück über einen dunkelhäutigen Flüchtling, der in Deutschland Schutz sucht. Die Aufführung fand unter Polizeischutz statt, wie auch die im vergangenen November aufgeführte „Messe für den Frieden“ mit einem Muezzin.

Vorher bekam der Pastor rund hundert Droh-Mails.

Text:
Eva Przybyla
Foto:
Hartmuth Bendig

 

DIESES VERDAMMTE WOCHENENDGEFÜHL

Freitagnachmittag. Das Wochenende steht bevor. Für Unzählige das rettende Ufer nach einer strapaziösen Arbeitswoche. Sie alle arbeiten auf das Wochenende hin. Unternehmungslust oder Ruhezeit stehen auf dem Plan.

Obdachlose sind in der Woche auch eher rastlos, versuchen durchzukommen, eine ebenso stressige Woche, aber nicht unbedingt mit der Hoffnung verbunden, ein tolles Wochenende zu haben. Wochenende bedeutet für sie oft Leere: eine trostlose, fast menschenleere Bremer Innenstadt, unterbrochen nur vom Lärm der Discothekenbesucher am Wochenende. Man muss die Zeit rumbringen, irgendwie diesen Wochenendtrip wieder überstehen. Und für einige der Betroffenen endet das Wochenende im Vollrausch, um zu vergessen.

Das Wochenende auf der Straße zeigt sich oft monoton, doch nicht nur das.

„Du ahnst, es war nicht das letzte Wochenende auf der Straße. Unzählige werden folgen. Wieder alles auf Null. Am liebsten das Wochenende überspringen, beiseiteschieben, um direkt zum Montagmorgen zu kommen, denkst du.“

Diese Gefühle kennen viele Obdachlose. Irgendwann am Wochenende erfasst es jeden. Das melancholische Loch ist vor allem auf der Straße tief. Menschen, die dort leben, haben keine räumliche Ausweichmöglichkeit, keinen emotionalen Fluchttunnel. Überempfindlichkeit wechselt mit Unempfindlichkeit.

„Du brauchst Härte auf der Straße. Vor allem zu dir selbst. Manchmal auch zur Gemeinschaft, die dich umgibt.  Immer stark sein ist die einzige Devise, die dich durchbringt. Das ist keine Floskel. Du musst lernen, Stimmungslagen überspielen und wegdrücken zu können. Gute Miene zum bösen Spiel unter den Bedingungen draußen.“

Gegen Einsamkeit und Leere entwickeln Obdachlose unterschiedliche Strategien. Ronny († 2016) beispielsweise, langjähriger Verkäufer der Zeitschrift der Straße, zeichnete Unterhaltungen auf.

„Die letzten Gespräche mit Freunden oder netten Leuten auf der Straße festhalten. Die Dialoge immer wieder vorspielen, wieder anhören. Auch wenn es nur kurze Sequenzen sind. Das hilft, hält die Verbindung mit der Außenwelt aufrecht. Überbrückt das eine oder andere Stimmungstief.“

Dieses Rezept geht aber nicht immer auf. Es gibt auch viele, die haben für sich gedanklich schon den Strick geknüpft. Haben schon Abschied genommen. Bei vielen blieb und bleibt es glücklicherweise nur beim Gedankenspiel. Dennoch, Wochenenden und Feiertage stellen für Menschen auf der Straße eine besondere Selbstgefährdung dar.

„Die Straße verändert dich. Wochenende um Wochenende. Nicht zum Guten.“

 

Text: Reinhard „Cäsar“ Spöring nach einem Gespräch mit unserem Straßenverkäufer Ronny († 2016; siehe Ausgabe #42)
Bild: blxentro/flickr.com (nachbearbeitet)

17 OBDACHLOSE DURCH GEWALT GESTORBEN

Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat eine Bilanz für das Jahr 2016 vorgestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Gewalt, der obdachlose Menschen ausgeliefert waren. So starben mindestens 17 Obdachlose durch Gewalt. Neun der 17 Täter:innen waren selbst ohne Wohnung. Den 128 bekannt gewordenen Fällen von Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und bewaffneten Drohungen gegen wohnungslose Menschen steht eine hohe Dunkelziffer gegenüber, da obdachlose Menschen aus Angst vor den Täter:innen und aus mangelndem Vertrauen in die Behörden Übergriffe nicht anzeigen.

Folgenden Text veröffentlichte die Bundesarbeits­gemeinschaft Wohnungs­losen­hilfe heute in Berlin.

„Gewalt gegen wohnungslose Menschen bleibt alltägliches Problem – mindestens 17 Todesfälle im Jahr 2016 in Deutschland. BAG Wohnungslosenhilfe fordert besseren Schutz für wohnungslose Menschen

Gewalt gegen wohnungslose Menschen bleibt ein alltägliches Phänomen in unserer Gesellschaft. Laut Erhebungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W), dem bundesweiten Dachverband der Wohnungslosenhilfe in Deutschland, gab es im Jahr 2016 mindestens 17 Todesfälle durch Gewalt gegen wohnungslose Menschen. In acht Fällen waren die Täter:innen selber nicht wohnungslos. Seit 1989 gab es somit in Deutschland mindestens 502 Todesfälle durch Gewalt gegen wohnungslose Menschen.

Zudem gab es im Jahr 2016 mindestens 128 Fälle von Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und bewaffneten Drohungen gegen wohnungslose Menschen in Deutschland. In 76 Fällen waren die Täter:innen selber wohnungslos, in 52 Fällen waren sie nicht wohnungslos. In den letzten Jahren sind die erhobenen Fallzahlen bei den nicht-tödlichen Gewaltfällen auf einem konstant hohen Niveau. Diese Zahlen der Gewaltfälle werden durch eine systematische Pressebeobachtung erhoben und zeigen mithin nur Mindestwerte an. Das nicht-erfasste Dunkelfeld der Gewalt gegen wohnungslose Menschen dürfte noch deutlich größer sein. In der Presse erscheinen in der Regel nur die schwereren Fälle von Gewalt.

Nicht-wohnungslose Täter:innen sind meist jüngere Männer oder Jugendliche, die zum Teil als Gruppe oder aus Gruppen heraus gewalttätig werden. Ihre Opfer sind in der Regel einzelne Männer im mittleren oder höheren Alter, die oft erkennbar schutzlos sind. Viele Opfer zeigen Gewalt gegen sich gar nicht erst an, aus Angst vor den Täter:innen und aus mangelndem Vertrauen in die Behörden.

Bei den Gewalttaten gegen wohnungslose Menschen von Täter:innen, die selber nicht wohnungslos sind, spielen nach Erkenntnissen der BAG W menschenverachtende und rechtsextreme Motive häufig eine zentrale Rolle. Die Täter:innen weisen dabei aber nicht notwendigerweise ein geschlossen rechtsextremes Weltbild auf und sind auch nicht unbedingt in rechtsextremen Zusammenhängen organisiert. Vorurteile und Abwertungen gegenüber wohnungslosen Menschen kommen in breiten Schichten der Bevölkerung vor. Letzteres belegen vor allem auch einschlägige Studien des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld. Unter den mindestens 179 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit 1990 sind ca. 20 Prozent wohnungslose Menschen.

Bei den Gewalttaten wohnungsloser Menschen untereinander spielen häufig Alkohol- und Drogenkonsum, Streit um knappe Güter des alltäglichen (Über-)Lebens und beengte Verhältnisse in den Obdachlosenunterkünften eine wichtige Rolle. Schon geringfügige Anlässe können aufgrund der schwierigen persönlichen und sozialen Lebensumstände der wohnungslosen Menschen die Gewalt untereinander eskalieren lassen.

Wohnungslose Frauen erleiden häufig auch sexuelle Gewalt. Dies geschieht u.a. im Zuge von Mitwohnverhältnissen, bei denen teilweise sexuelle Dienstleistungen als Gegenleistung für die Gewährung einer Unterkunft eingefordert werden. Aber auch in den häufig männlich dominierten Obdachlosenunterkünften und Straßenszenen kommt es zu sexuellen Übergriffen. Bei sexueller Gewalt gegen wohnungslose Frauen wird ebenfalls ein großes, polizeilich nicht bekannt gewordenes Dunkelfeld vermutet, da viele Frauen Angst vor den Tätern und kein Vertrauen zu den Behörden haben.

Die BAG W fordert, dass Gewalt gegen wohnungslose Menschen durch präventive und nachsorgende Konzepte und Maßnahmen sowie konsequente Strafverfolgung eingedämmt werden. Vor allem müssen dringend Wohnungen für alle wohnungslosen Menschen bereitgestellt werden, denn eine eigene Wohnung bietet meist den besten Schutz vor Gewalt. In Unterkünften für wohnungslose Menschen sind ausreichend Privatsphäre und Schutz vor Diebstahl zu gewährleisten. Wohnungslose Frauen müssen sicher und in ausschließlich Frauen vorbehaltenen Unterkünften untergebracht werden können. Es ist mehr wissenschaftliche Forschung zu den Ursachen und zu Präventionsmöglichkeiten bezüglich dieser Gewalt nötig; insbesondere menschenverachtende und rechtsextreme Motive und Hintergründe der Gewalt müssen dokumentiert und wissenschaftlich sowie politisch aufgearbeitet werden. Zudem müssen mehr zielgruppengerechte Beratungs- und Präventionsangebote für Opfer sowie Therapieangebote für Täter:innen geschaffen werden.“

Quelle: http://www.bagw.de/de/presse/index~129.html
Bild: Havang/Wikipedia

KÄLTE, HILFE, WOHNUNGSLOSE, FLÜCHTLINGE

Am 5. Januar posteten wir auf Facebook und Twitter einen Aufruf, besonders in der kalten Jahreszeit mit offenen Augen durch die Stadt zu gehen, auf ausgekühlte Menschen und Draußenschläfer zu achten und ihnen ggf. Hilfe zu leisten.

Der Aufruf, den wir eigentlich schon im November letztes Jahr verfasst und auf unserer Website veröffentlicht hatten, wurde innerhalb von zwei Tagen über 5000 Mal aufgerufen. Für unsere Verhältnisse ist das eine hohe Zahl, die wohl dadurch zustande kam, dass wir dem Aufruf den Bericht über eine erfrorene obdachlose Frau in Düsseldorf beigefügt hatten (siehe Foto oben).

In der Folge erreichten uns einige Nachfragen und Kommentare zu dem Aufruf. Sinngemäß ging es darum, warum im reichen Deutschland eigentlich noch immer Menschen auf der Straße leben (müssen) und ob der Staat da nicht genug tue, weil er zu sehr mit Flüchtlingen beschäftigt sei.

Zur Frage, warum Menschen auf der Straße leben, ist im Magazin ‚brand eins‘ im Jahr 2012 ein Artikel erschienen, der einige der Gründe darlegt und vor allem deutlich macht, warum Wohnungslosigkeit nur  unzureichend mit fehlendem Wohnraum zu erklären ist. In erster Linie ist Wohnungslosigkeit das Ergebnis einer Kombination aus Lebensumständen und persönlicher Verfassung. Die Bereitstellung von günstigem Wohnraum hilft, keine Frage. Jedoch ist darüber hinaus viel Veränderung im Leben der Betroffenen nötig. Der Staat bzw. Wohlfahrseinrichtungen und ihre Sozialarbeiter können den langwierigen Veränderungsprozess unterstützen, aber ohne die Einsicht, den Willen und die aktive Mitarbeit der Betroffenen geht nichts.

Die zweite Frage, die mal mehr und mal weniger agressiv an uns gerichtet wurde, ist leichter zu beantworten. Einen negativen Zusammenhang zwischen Wohnungslosenhilfe und Flüchtlingshilfe sehen wir überhaupt nicht. In Bremen haben sich die Angebote der Wohnungslosenhilfe in den letzten Jahren tendenziell verbessert und dürften von der Flüchtlingshife sogar profitieren.

Denn im Rahmen der Flüchtlingsarbeit ist Infrastruktur entstanden, die sich auch für die Arbeit mit Wohnungslosen eignet. Durch einen gemeinsamen Bereich in der Verwaltung des Vereins für Innere Mission konnten Durchschnittskosten gesenkt werden. Und einige der vielen Bremer:innen, die sich zunächst in der Flüchtlingshilfe engagiert hatten, sind inzwischen in der Wohnungslosenhilfe und bei der Zeitschrift der Straße im Einsatz, was uns sehr freut.

PS: Hier ein kurzes Video des WDR zu den Möglichkeiten, Obdachlosen auf der Straße zu helfen:

https://www.facebook.com/aktuellestunde/videos/1151324064916141/

Text: Michael Vogel

UNSERE LOSUNG FÜR 2017

Seit über 25 Jahren engagieren sich Straßenmagazine weltweit für einige der schwächsten, verwundbarsten und am stärksten diskriminierten Mitglieder der Gesellschaft.

Nicht zufällig entstanden die ersten Straßenmagazine, als die marktradikalen Reformen von Präsident Reagan (US) und Premierministerin Thatcher (GB) ihre volle Wirkung entfalteten. Das Prinzip der Solidarität von Gemeinschaft wurde durch das Prinzip des Wettbewerbs aller gegen alle ersetzt. Und dieser Wettbewerb kennt viele Verlierer.

Derzeit wird das gesellschaftliche Klima nochmals deutlich rauher und kälter. Immer mehr populistische Spalter kommen an die Macht, profilieren sich durch Hetze gegen Verlierer und Schwache und ermutigen ihre Anhänger teils ganz offen zu gewalttätigen Übergriffen gegen jene.

In solchen Zeiten ist es umso wichtiger, dass wir – die Straßenmagazine – uns vor die Ausgegrenzten, Beschimpften und Angegriffenen stellen, dass wir uns unsere eigene Humanität bewahren und mit gutem Beispiel vorangehen.

In einer harten Welt sein weiches Herz zu zeigen ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Mut. Das Team der Zeitschrift der Straße wird auch 2017 wieder mutig sein!

 

Text: Michael Vogel

FROHE FESTTAGE UND EIN GUTES NEUES JAHR

In den turbulenten letzten Wochen haben wir uns Mühe gegeben, das Wesentliche nicht aus dem Blick zu verlieren: Weihnachten, Fest der Liebe und Mitmenschlichkeit. Im Mittelpunkt standen auch dieses Jahr wieder unsere rund 80 Verkäuferinnen und Verkäufer, die bei niedrigen Temperaturen und oft widrigen Bedingungen viele Stunden draußen stehen, um die Zeitschrift der Straße anzubieten.

Aus den Händen unseres fürsorglichen Vertriebsteams erhielten sie schon am 21. Dezember ihre Weihnachtsgeschenke: warme Mützen, Schals und Handschuhe, Süßigkeiten und – bei vielen am wichtigsten – Tabak.

Das Geld für die Weihnachtsgeschenke hatten wir in den Wochen zuvor von großzügigen Spenderinnen und Spendern erhalten (Spenden können wir übrigens auch weiterhin gut gebrauchen; hier geht’s zum Spendenformular).

Die Weihnachtsgeschenke wurden von unserem studentischen Marketing-Team der Hochschule Bremerhaven in einer konzertierten Aktion beschafft und verpackt. Als Treibstoff dienten dem Team beträchtliche Mengen Weihnachtsgebäck und Tee.

Schon am 5. Dezember fand die gemeinsame Weihnachtsfeier  von Redaktion, Vertrieb, Marketing und Leitungsteam statt.

Wenn Sie beim Betrachten der Fotos Lust bekommen haben, selber bei der Zeitschrift der Straße mitzuwirken, gehen Sie ins neue Jahr mit dem Vorsatz, uns gleich Anfang Januar zu kontaktieren. Wir freuen uns auf Ihre Anfrage.

SCHNELLE SPENDE = DOPPELTE SPENDE

Am Montag, den 19. Dezember, ab 10 Uhr morgens können Sie der Zeitschrift der Straße und ihren Straßenverkäufern mit Ihrer Spende doppelt so viel helfen!

Denn die Spendenplattform Betterplace.org, über die wir alle Online-Spenden abwickeln, verdoppelt Ihre Spende!

Das tut Betterplace.org allerdings nicht unbegrenzt. Alle Einzelspenden (bis zu 200 Euro), die über Betterplace.org für die Zeitschrift der Straße oder eines der ca. 50 weiteren teilnehmenden Projekte eingehen, werden solange verdoppelt, bis eine Gesamtsumme von 10.000 Euro erreicht ist. Deshalb ist die Aktion ein Spendensprint: nur die schnellsten Spenden werden verdoppelt.

Möchten Sie uns mit Ihrer Spende doppelt helfen? Dann spenden Sie am 19. Dezember gleich um 10 Uhr morgens. Nutzen Sie dafür bitte unsere Projektseite bei Betterplace.org, damit Ihre Spende auch wirklich am Spendensprint teilnimmt:

http://zeitschriftderstrasse.betterplace.org/

Übrigens können Sie auf der Projektseite auswählen, welchem Zweck Ihre Spende dienen soll. Dort berichten wir auch nach dem Ende des Spendensprints vom Ergebnis des Tages.

Bitte erzählen Sie anderen von der Aktion und teilen Sie diesen Aufruf in den sozialen Netzwerken, damit wir in der Weihnachtszeit vor allem für unsere Winterhilfe ausreichend Geld zur Verfügung haben. Sehr herzlichen Dank!

Nachtrag zum Spendensprint: am heutigen 19. Dezember erhielten wir 420 Euro an Spenden, die Betterplace auf 840 Euro verdoppelt hat. Allen Beteiligten ganz herzlichen Dank! Gute Sache.

Text und Bild: Michael Vogel

WEIHNACHTSGRUSS DES BUNDESPRÄSIDENTEN

Jeder, der ein Straßenmagazin kauft, plädiert damit „für ein solidarisches Zusammenleben in unserem Land“, sagt Bundespräsident Joachim Gauck.

In seinem traditionellen Weihnachts-Grußwort richtet sich der Bundespräsident an die Leser:innen von Straßenmagazinen in ganz Deutschland. Wir veröffentlichen das Grußwort hier online, statt es in unserem Dezemberheft abzudrucken.

Liebe Leser:innen,

ich freue mich, dass Sie einen Blick in diese Zeitung werfen. Ich freue mich, weil es ein Blick ist, der manches wahrnimmt, was in der Hektik unseres Alltags oft keine Beachtung findet.

Sie haben den Menschen gesehen, der Ihnen diese Zeitung angeboten hat. Sie haben sich entschieden, sie zu kaufen und sie zu lesen. Über diese Aufmerksamkeit freue nicht nur ich mich, sondern die Vielen, die sich für Straßenzeitungen in Deutschland engagieren. Ihr Interesse ist eines, das mehr bezeugt als Mitleid und das mehr bedeutet, als eine Spende.

Straßenzeitungen erzählen Geschichten, die das Leben schreibt, auch solche von menschlicher Not, von Armut und Obdachlosigkeit, von Verzweiflung und Hilfebedürftigkeit – aber eben in der Regel nicht von Ausweglosigkeit. Denn die Redakteure und Sozialarbeiter, die ehrenamtlich Engagierten und nicht zuletzt die Verkäufer, die am Entstehen und am Erfolg dieser Zeitungen mitwirken, gestalten diese Geschichte selbst aktiv mit. Ihnen gilt mein besonderer Dank.

Diese Menschen zeigen uns, wie Hilfe zur Selbsthilfe funktioniert und wie wir alle daran mitwirken können. Sie weiten unseren Blick und lenken ihn auf diejenigen, die unsere Unterstützung, unsere Solidarität brauchen: auf Menschen, die eine Lebenskrise aus der Bahn geworfen hat oder andere, die ihre Heimat verlassen mussten, weil Not oder Krieg sie vertrieben hat. Und schließlich erinnern uns die Geschichten dieser Menschen daran, wie schmal der Grat zwischen Wohlstand und Armut sein kann.

Der Winter ist eine harte, kalte Zeit für Menschen, die mitten unter uns ohne eine feste Unterkunft leben. Vielen Trägervereinen von Straßenzeitungen sind Nachtasyle als Anlaufstellen für Obdachlose angeschlossen, die diese Not ein wenig lindern. Mit dem Kauf dieser Zeitung unterstützen Sie auch diese Einrichtungen. Er ist quasi ein Plädoyer für ein solidarisches Zusammenleben in unserem Land.

Ich danke allen, die zu einem solchen beitragen, und wünsche Ihnen ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen friedlichen Jahresausklang.

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Foto: Bundespräsidialamt

NEU: STADTPLAN ALLER ZDS-AUSGABEN

Seit Anfang Dezember bietet diese Website einen besonderen Service zur Orientierung in Bremen und in unserem Archiv:

einen digitalen, interaktiven Stadtplan,

auf dem alle Orte markiert sind, zu denen seit Anfang 2011 eine Ausgabe der Zeitschrift der Straße erschienen ist. Über die Markierungen können die jeweiligen Ausgaben direkt auf den Bildschirm geholt werden – sofern sie auf der Straße ausverkauft sind. Ansonsten wird zum Editorial und Inhaltsverzeichnis verlinkt.

Möglich wird dieser Service durch das redaktionelle Konzept der Zeitschrift der Straße: jede Ausgabe widmet sich monothematisch einer Straße oder einem Ort in der Hansestadt. Mit diesem Ansatz ist das Bremer Straßenmagazin weltweit einzigartig.

Das digiale Kartenmaterial stellt das nichtkommerzielle Projekt OpenStreetMap (OSM) kostenlos zur Verfügung. An der Erstellung der Kartendaten haben bereits mehr als 2,5 Millionen Freiwillige mitgewirkt. Auch in Bremen gibt es eine OSM User Group. In Ausgabe #33 FALKENSTRASSE und online haben wir über sie berichtet.

Im nächsten Entwicklungsschritt werden wir einen digitalen sozialen Stadtplan für Bremen erstellen, auf dem unterschiedliche Hilfsangebote ebenso abgebildet sein werden wie Möglichkeiten, sich freiwillig sozial zu engagieren. Die Recherche der Hilfsangebote läuft bereits.

Text, Abbildung und Kartenprojekt:
Michael Vogel

#44 BÜRGERWEIDE

EDITORIAL: DIE BILANZ EINES JAHRES

In dieser Ausgabe ist nichts so, wie Sie es erwarten! Jedenfalls sieht sie nicht so aus, wie Sie das von uns gewohnt sind. Denn wir haben die Zeitschrift der Straße aus der Hand gegeben – und Nikolai Wolff und Kay Michalak von der Bremer Fotoetage das komplette Heft gestalten lassen. Das ganze Jahr lang waren die beiden Bremer Fotografen immer wieder auf der Bürgerweide unterwegs – und präsentieren uns nun das Ergebnis ihrer Feldstudie. Man sieht, dass die beiden an der hiesigen Hochschule für Künste studiert haben – und früher mal Fotoredakteure der Bremer „tageszeitung“ waren.

Für die zweite Foto-Ausgabe der Zeitschrift der Straße haben die beiden sich gleich zu Beginn des Jahres die Nacht auf dem letzten Sechs-Tage-Rennen um die Ohren geschlagen, später waren sie bei den Skatern vor dem Schlachthof und auf Messen, auf der Osterwiese und natürlich, gerade eben erst, auf dem Freimarkt (sogar im Bayernzelt). Und immer wieder faszinierte sie die Architektur der einst gerade deswegen angefeindeten Stadthalle. Aus alldem wurden, nein: diesmal eben keine einzelnen Geschichten, sondern eine Gesamtkomposition, die für sich spricht – und deshalb ausnahmsweise fast ohne Text auskommt.

Viel Vergnügen beim Gucken wünschen Jan Zier, Philipp Jarke
und das ganze Team der Zeitschrift der Straße

 

Aus dem Inhalt:

06    ZAHLEN UND FAKTEN

07    RÜCKSCHAU

08    BILDSTRECKE

Die Bürgerweide im Jahr 2016

28    DAS LÄSST UNS NICHT KALT (online lesen)

Helfen Sie unseren Straßenverkäufer:innen über den Winter!

29    MITARBEIERINNEN DES MONATS

Das neue Marketing-Team der Zeitschrift der Straße

 

Hintergrundfoto: Benny B. Photography/flickr.com